Am Sonntag sind 2,4 Millionen Wahlberechtigte in Berlin aufgerufen, sich am Volksentscheid "Berlin 2030 klimaneutral" zu beteiligen. Die Forderung: Berlin soll schon 2030 klimaneutral werden – und nicht erst wie bisher vom Senat angestrebt 2045. Dafür soll das Energiewendegesetz des Landes geändert werden.
Im "Energie- und Klimaschutzprogramm" sind 100 Maßnahmen für die Bereiche Energie, Wirtschaft, Verkehr, Gebäude, Privathaushalte und Klimaanpassung vorgesehen, mit denen Berlin bis 2045 klimaneutral werden soll.
Die Senats-Ziele zur Senkung der CO2-Emissionen wollen die Initiatoren des Volksentscheids in Verpflichtungen umwandeln Der Ausstoß klimaschädlicher Gase soll im Vergleich zum Jahr 1990 um 95 Prozent reduziert werden – und zwar deutlich früher. Bei 95 Prozent weniger Kohlendioxid wäre Klimaneutralität erreicht, weil Bäume, Moore und sonstige Senken einen Teil des Gases direkt in Berlin wieder aufnehmen.
Großes Bündnis von Organisationen trägt Abstimmung
Der Volksentscheid wird von einem großen Bündnis von Organisationen getragen, zu dem beispielsweise der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC), Brot für die Welt oder Ecosia gehören. Gestartet hat ihn die gemeinnützige Initiative Klimaneustart Berlin.
Mehrere Klimaschutz-Initiativen haben den Volksentscheid mit einer erfolgreichen Unterschriftensammlung durchgesetzt. Nun müssen sie 613.000 Ja-Stimmen für ihr Anliegen erhalten, das wären 25 Prozent der Wahlberechtigten. Unsere Redaktion hat den Berliner Volksentscheid von einem Klimaforscher und einem Umweltschutzverband bewerten lassen.
Als "sinnvoll und nötig", aber "nicht realistisch" schätzt Klimaforscher Fritz Reusswig vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) das Vorhaben ein. Der Berliner Senat hat sich mit einem Gutachten darauf eingestellt, bis 2045 klimaneutral zu werden. "Ich halte diese Studie für realistisch, wenngleich immer noch ehrgeizig, wenn man das langsame Reduktionstempo der letzten Jahre betrachtet", sagt Reusswig.
Wo sollen Mengen an Eneuerbaren Energien her?
Er sehe bis 2030 nicht, wo etwa die Mengen an Erneuerbarer Energie für die Fernwärme herkommen sollen: Auch die Sanierung des Gebäudebestandes sei in der "Mieterstadt Berlin" bis dahin nicht sozialverträglich machbar. Der Volksentscheid sieht vor, dass das Land Berlin die Lücke auf dem Weg bis zur "Warmmietenneutralität" füllt.
Warmmietenneutralität bedeutet, dass die Häuser sich selbst mit Energie versorgen und so zu Null-Energie-Häusern werden. Dabei soll die Warmmiete nicht steigen, also die Summe aus Kaltmiete und Energiekosten gleichbleiben. Die Kosten werden nicht durch Mieterhöhungen, sondern durch Energieeinsparung refinanziert. "Angesichts der Berliner Haushaltslage ist das aus meiner Sicht unmöglich", sagt der Klimaforscher.
Trotzdem ist er für "Berlin 2030 klimaneutral", denn bei einem neuen schwarz-roten Senat sehe er die Gefahr, dass sogar das 2045er Ziel verfehlt werden könnte. Deswegen brauche es ein "klares klimapolitisches Zeichen" aus der Gesellschaft.
Zu wenig Umsetzung sinnvoller Klimaschutzmaßnahmen
Die Kernforderung, Berlin bis 2030 klimaneutral zu machen, sieht auch der Natur- und Umweltschutz BUND Berlin kritisch, weil das Datum zu früh sei. "Nichtsdestotrotz unterstützen wir die Forderung nach mehr Ehrgeiz im Klimaschutz", sagt Matthias Krümmel, Fachreferent für Klimaschutzpolitik beim BUND. Es gebe zu wenig Umsetzung sinnvoller Klimaschutzmaßnahmen und zu wenige Sanktionen bei Verstößen.
Bei den Änderungen im Berliner Energiewendegesetz sehen BUND und Klimaforscher noch Verbesserungsbedarf. Der Volksentscheid treffe im Gebäudesektor "einen wunden Punkt", indem er nur Sanierungen erlaubt, wenn Warmmietenneutralität gewährleistet werde, meint Reusswig.
Doch neben Vermietern und Mietern solle als dritte Partei der Staat für mögliche Mehrkosten aufkommen. Bund und Länder müssten diese gemeinsam schultern. "Was die Maßnahmen anbelangt, ist der Volksentscheid relativ offen – man kann auch sagen: vage."
"Nein" sagen Berliner Senat und Wirtschaft
Mit "Nein" zu stimmen empfiehlt der amtierende Berliner Senat, schreibt der RBB – man hält am ursprünglichen "Energie- und Klimaschutzprogramm" fest. Selbst die Grünen hätten lange gezögert, diesen zu unterstützen, obwohl die Abstimmung inhaltlich ins Parteiprofil passe.
Auch die Berliner Wirtschaft stellt sich gegen den Volksentscheid. "Das Ziel 2030 ist weder technisch, politisch noch finanziell erreichbar", sagte der Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB), Christian Amsinck am Dienstag der Berliner Morgenpost. "Wir brauchen für den Klimaschutz realistische Ziele, bei denen Menschen und Wirtschaft auch mitgehen".
Stimmen am Sonntag die Berlinerinnen und Berliner für Klimaneutralität ab 2030, verpufft der Effekt nicht zwischen den anderen, nicht-klimaneutralen Städten? "Der Effekt kann riesengroß sein, denn die Städte sind weltweit die größten Emittenten von Treibhausgasen", ist Krümmel überzeugt.
Viele klimaneutrale Städte erreichen etwas
Immer mehr Menschen lebten in Städten, erklärt er. Sie wohnten mehr oder weniger energieeffizient, konsumierten mehr oder weniger nachhaltig, wirtschafteten mehr oder weniger neutral und klimaschonend. Städte könnten den Verkehr klimafreundlich gestalten. "Sie sind insofern nicht punktuell klimaneutral, sondern eher Hotspots einer globalen gesellschaftlichen Entwicklung."
Das sieht auch Klimaforscher Reusswig so. "In Europa haben bereits 100 Städte ähnlich ehrgeizige Ziele." Das habe einen Effekt. Er verweist allerdings darauf, dass Frankfurt am Main, München oder Dortmund erst bis 2035 klimaneutral werden wollten. "Die nehmen sich etwas mehr Zeit", sagt er mit Blick auf die ehrgeizigen Ziele des Berliner Volksentscheids.
Verwendete Quellen:
- berlin2030.org
- Interview mit Fritz Reusswig
- Interview mit Matthias Krümmel
- radioeins.de: Ja oder Nein? Vor dem Volksentscheid "Berlin 2030 Klimaneutral"
- morgenpost.de: Berliner Wirtschaft gegen Ja beim Klima-Volksentscheid