Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Wissen, über was politisch diskutiert wird. Heute: die unterschiedlichen Rollen von USA und Europa in der Weltpolitik.
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
der amerikanische Geostratege Robert Kagan, einst als Neokonservativer im Dienste von Außenminister George P. Shultz gestartet, beriet später den Präsidentschaftskandidaten John McCain, um dann im Wahlkampf Trump vs. Clinton die republikanische Partei schreiend zu verlassen und sich der Realpolitikerin Hillary Clinton anzuschließen. Er ist einer der großen, weil unabhängigen Denker der USA. In seinem Standardwerk "Macht und Ohnmacht" heißt es:
Die Amerikaner stammten vom Mars und die Europäer von der Venus, fasst er seine Analyse zusammen.
An diesem Befund hat sich wenig geändert. Amerika ist nach Trump zu einer regelbasierten, aber gleichwohl militärisch wehrhaften Außenpolitik zurückgekehrt. Europa ist der Zauderer geblieben, der mit den Augen der Liebe auf eine Welt schaut, die sich seinen harmonischen Sehnsüchten nur leider entzieht:
- An der Ostgrenze der Ukraine tobt ein Krieg, der von der russischen Führung gemäß ihrer strategischen Ziele mal herunter – und dann wieder hochgekocht wird. Europa fleht Putin um Frieden an.
- Die Türkei hat den ihr angebotenen Weg nach Europa verlassen und benutzt die Flüchtlinge aus den Elendsgebieten der Welt als Geiseln, um immer neue Zahlungen zu erpressen. Europa verzieht das Gesicht, aber zahlt.
- Putin lässt am 23. August 2019 im Berliner Tiergarten morden und daheim den oppositionellen Alexei Nawalny inhaftieren und drangsalieren. Europa überreicht seine Depeschen.
- Die islamistische Terror-Vereinigung Hamas, die unter anderem von Iran und Saudi-Arabien unterstützt wird, hat eine militärische Offensive gegen Israel gestartet. Deutschland bekommt nicht mal den Antisemitismus auf den eigenen Straßen in den Griff, wo die heimische und die zugewanderte Judenfeindlichkeit einander umarmen.
- Der weißrussische Präsident Lukaschenko scheut sich nicht, ein Flugzeug der Gesellschaft Ryanair von seinen Abfangjägern in Minsk auf den Boden zu zwingen und vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Journalisten und Blogger Roman Protasewitsch zu verhaften. Europa droht, aber womit eigentlich?
So geht das seit Jahrzehnten. Europa ist permanent entsetzt, missbilligt routiniert den Einsatz von Gewalt und versichert den angegriffenen Israelis wie dem inhaftierten weißrussischen Journalisten die spezifisch europäische – das heißt garantiert folgenlose – Solidarität.
Dieses Europa ist der Stadionsprecher, der die Tore der Turnierteilnehmer zählt, ohne selbst das Spielfeld zu betreten. Dieses Europa ist der Friedensengel, der keine Flügel besitzt und daher nicht fliegen kann. Dieses Europa wird in seiner vorsätzlichen Naivität am Ende niemanden beschützen – nicht mal sich selbst. Mars und Venus liegen im Planetensystem 120 Millionen Kilometer und im politischen Orbit Lichtjahre voneinander entfernt. Es wäre lohnend, auch darüber im Wahljahr zu sprechen.
Armin Laschet bisher nicht als Transatlantiker aufgefallen
Als Transatlantiker ist Armin Laschet bisher nicht aufgefallen. Aber die Europapolitik hat in seiner Biografie einen Anker geworfen. Laschet gehörte von 1999 bis 2005 dem Europaparlament an. In seiner Amtszeit als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident legte er einen persönlichen Draht auch zu Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. In dessen Beisein und unter Teilnahme der Kanzlerin wurde am 22. Januar 2019 der Nachfolge-Vertrag des legendären Élysée-Vertrags unterzeichnet. Laschet sagte damals im Deutschlandfunk:
Jetzt, wo er sich anschickt, das Kanzleramt zu erobern, rückt die Europapolitik erneut ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Fragen von womöglich historischer Bedeutung sind aufgeworfen: Wird ein Kanzler Laschet die europäische Lethargie der letzten Merkel-Jahre überwinden können? Beendet er den Zustand des französisch-deutschen Belauerns, wo zuletzt nahezu alle Initiativen des französischen Präsidenten unbeantwortet blieben? Gelingt es, in Brüssel eine Vision zu präsentieren, die faszinierender ist als die Idee eines großen Geldautomaten?
Mein Kollege Michael Bröcker, Chefredakteur unserer neuen, politisch unabhängigen Medienmarke ThePioneer, hat am Pfingstwochenende genau darüber mit Laschet gesprochen.
Armin Laschet verspricht, die Integration der Europäischen Union gerade mit Blick auf eine gemeinsame Außenpolitik voran zu treiben:
Als Bundeskanzler würde er gemeinsam mit Frankreich schnell Reformideen vorlegen:
In der Europa- und Außenpolitik will Laschet wenig Spielraum für eine künftige Außenministerin oder einen künftigen Außenminister lassen. Im Falle eines Wahlsiegs soll die Europapolitik noch stärker im Bundeskanzleramt konzentriert und koordiniert werden.
Außerdem fordert Laschet, den Klimaschutz gemeinsam anzugehen:
Zugleich betont der Aachener Christdemokrat, dass die EU eine "Industrieunion" bleiben müsse und dass das Thema Wettbewerbsfähigkeit dringend auf der Prioritätenliste nach oben rücken sollte.
Das ganze Gespräch mit dem Kanzlerkandidaten der Union hören Sie in einer Sonderausgabe des Podcasts "Hauptstadt – Das Briefing" bei ThePioneer. In diesem Gespräch ist Armin Laschet, der Wahlkämpfer, noch immer kein großer Staatsmann. Aber: Die Konturen eines künftigen Staatsmannes Armin Laschet werden erstmals erkennbar. Prädikat: ehrgeizig.
Bleiben Sie mir gewogen. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr
Gabor Steingart