Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Wissen, über was politisch diskutiert wird. Heute: die Corona-Zahlen, der Fall Tönnies, die momentane Lage der FDP, die Ausschreitungen in Stuttgart, Lufthansa und der Dax-Absturz von Wirecard.

Guten Morgen, liebe Leserinnen, liebe Leser,
das Coronavirus hat medizinische, ökonomische und zunehmend auch politische Folgen. Denn US-Präsident Donald Trump und seine deutschen Anhänger versuchen, die Lockdown-Maßnahmen in Gänze als Fehler zu diskreditieren. Das neue Narrativ erzählt die Geschichte eines Irrtums.
Trump sagte in der Nacht zu Sonntag bei einer Kundgebung im US-Bundesstaat Oklahoma, der ersten Kundgebung dieser Art seit Ausbruch der Corona-Krise:
Doch die Volatilität des Infektionsgeschehens zeigt, dass die Pandemie keineswegs als beendet gelten darf. Nach dem Corona-Ausbruch beim ostwestfälischen Fleischverarbeiter Tönnies ist die Zahl der Infizierten auf 1.331 gestiegen. In den vier Krankenhäusern im Landkreis Gütersloh werden derzeit 21 COVID-19-Patienten stationär behandelt. Davon liegen sechs Personen auf der Intensivstation, zwei von ihnen müssen beatmet werden.
► Da auch an zwei anderen Hotspots verstärkt Neuinfektionen aufgetreten sind, schnellt der 4-Tage-R-Faktor nach oben und steht jetzt dem Robert-Koch-Institut zufolge bei 2,88. 100 Infizierte stecken damit 288 neue Personen an. Wie in einem Schneeballsystem steigen die Fallzahlen bei solch einem Exponentialwachstum rasant.
►Die Meldekette von den örtlichen Ärzten über die Gesundheitsämter bis zur schnellen Eingreiftruppe des Robert-Koch-Instituts hat im Fall Tönnies schon mal nicht funktioniert. Nahezu 14 Tage brauchten die Gesundheitsämter in NRW, um die Eingreiftruppe aus Berlin anzufordern, die deshalb erst am Wochenende eintraf.
► Bis heute ist unklar, ob die schlechten Arbeitsbedingungen oder die katastrophalen Wohnverhältnisse, womöglich aber auch die niedrigen Temperaturen in der Fleischverarbeitung für den schnellen Ausbruch verantwortlich sind. Auch die Frage, ob das Virus aus NRW stammt oder durch osteuropäische Gastarbeiter eingeschleppt wurde, ist bei der richtigen Strategie zur Gefahrenabwehr nicht uninteressant.
Da die Fallzahlen in Deutschland insgesamt auf niedrigem Niveau liegen, muss ein erhöhter R-Faktor noch kein Drama bedeuten. Aber er besitzt das Potenzial für eine spätere Dramatisierung.
Dass Deutschland eine zweite Welle bevorsteht, ist nicht ausgemacht. Aber eben auch nicht ausgeschlossen. Heute Vormittag wird Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit seinen Beratern, darunter der Präsident des Robert-Koch-Instituts, diskutieren, was zu tun ist.
Fest steht: Die für Spahn wichtigsten Mitspieler in den kommenden Wochen und Monaten sind nicht Armin Laschet, Markus Söder oder die Ministerpräsidenten der SPD, sondern die Bürger. Solange kein Impfstoff existiert, ist die effektivste Waffe gegen das Virus eine präzise, schnelle und glaubwürdige Kommunikation.
Der Fall Tönnies dürfte auch Folgen für NRW-Ministerpräsident Armin Laschet haben – einen der Anwärter auf den CDU-Parteivorsitz. Laschet hat sich im Zuge der Corona-Pandemie demonstrativ von der vorsichtigen, lockerungsskeptischen Kanzlerin abgesetzt. Sein Name ist mit den ersten Schritten hin zu einer Post-Corona-Normalität verbunden.
Anfang April setzte der Aachener einen Expertenrat ein, mit zwölf namhaften Wissenschaftlern und einer Pilotstudie für den Kreis Heinsberg. In einem 15-seitigen Papier unter dem Namen "Weg in eine verantwortungsvolle Normalität" skizzierte das Gremium Möglichkeiten, wie Restaurantbesuche, Unterricht und Einkäufe wieder stattfinden könnten. Laschet ließ der Analyse Taten folgen.
Nun könnte ausgerechnet Nordrhein-Westfalen das erste Bundesland sein, das die vorsichtigen Lockerungen rückabwickeln muss. Einen regionalen Lockdown schloss Laschet am Freitag nicht mehr aus. Noch könne das Infektionsgeschehen lokalisiert werden, aber:
Die FDP verliert in der Corona-Krise weiter an Rückhalt. Bei einer Neuwahl des Bundestages müssten die Liberalen dem vom Meinungsforschungsinstitut Forsa erhobenen RTL/ntv-Trendbarometer zufolge mit derzeit nur fünf Prozent der Stimmen um den Einzug ins Parlament bangen; andere Umfragen sehen die Liberalen gar bei 4,5 Prozent. Der Forsa-Umfrage zufolge würde die Partei damit nicht nur hinter CDU/CSU, SPD und Grünen, sondern auch hinter AfD und Linken rangieren. Institutsgründer- und Chef Manfred Güllner:
Der ehemalige Bundestagsfraktionschef und FDP-Vize Rainer Brüderle springt dem in Bedrängnis geraten Parteivorsitzenden Christian Lindner bei. Im Interview mit ThePioneer sagt Brüderle:
Allerdings führen die schwachen Umfrageergebnisse nicht überall in der Partei zu derartigen Solidarisierungseffekten. Die Erfahrung lehrt, dass jedes Umfragetief die Aufmüpfigen der unteren Parteigliederungen mutig werden lässt. Warum soll es Christian Lindner besser gehen als seinerzeit Gerhard Schröder oder zwischenzeitlich Angela Merkel:
► Nach dem Beschluss der FDP-Bundestagsfraktion gegen eine Erhöhung der Rundfunkgebühren, die Geldeinsammelaktion zu Gunsten von ARD und ZDF stößt auf Unmut bei der FDP-Klientel, stimmten die FDP-mitregierten Länder Schleswig-Holstein, NRW und Rheinland-Pfalz bei der Ministerpräsidentenkonferenz trotzdem zu. Man will es sich mit den örtlichen Sendeanstalten nicht verderben.
► Nun droht ein weiterer Alleingang der Länder bei der befristeten Absenkung der Mehrwertsteuer. Lindner hatte diese zu Recht als Geldverschwendung kritisiert. Doch etliche von der FDP mitregierte Länder wollen offenbar zustimmen. Die Liberalen vor Ort scheuen den Konflikt und lassen die Bundestagsfraktion damit allein.
Fazit: In der CDU-Parteizentrale betrachtet man die Erosionsprozesse bei den Liberalen mit Sorge. Zumindest als Korrektiv hätte man die FDP bei der sich abzeichnenden schwarz-grünen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl gern dabei. Christian Lindner soll die Grünen disziplinieren; so hat die CDU die FDP am liebsten: klein, aber gemein.
In der Nacht auf Sonntag kam es in Stuttgart zu schweren Ausschreitungen. Nach einer Polizeikontrolle zogen bis zu 500 Personen durch die Stadt, zerstörten Schaufenster und plünderten neun Läden. Die Lage geriet streckenweise außer Kontrolle, berichtete die Polizei. Thomas Berger, Polizeivizepräsident in Stuttgart, war in der Nacht selbst vor Ort. Am Tag danach habe ich mit ihm über eine Situation gesprochen, die der Beamte, der 1978 in den Polizeidienst trat, so noch nicht erlebt hat. Im Morning Briefing Podcast sagt er:
Der Schaden in der Innenstadt muss erst beziffert werden, Berger schätzt ihn auf einen sechs- bis siebenstelligen Betrag. Auch die Polizei ist stark betroffen – nicht nur ihr Material. 19 Polizisten wurden bei den Ausschreitungen verletzt, einer sogar schwer. Er hat sich das Handgelenk gebrochen.
Fazit: Mit zwei Tagen Abstand ist das Unverständnis über die Ereignisse nicht verschwunden, sondern gewachsen. Die auf Videos zu hörenden Allahu Akbar-Rufe klingen nicht mehr so harmlos wie die Beschreibung von der "Party- und Eventszene". Das Gebot der Stunde heißt Aufklärung.
Kann sich die Lufthansa mit den Milliarden von Staatshilfen aus der Corona-Krise befreien? Oder muss das schon beschlossene Rettungspaket erneut verhandelt werden? Für die Airline und Konzernchef Carsten Spohr geht es diese Woche um alles. Dem Rettungspaket müssen die Aktionäre auf einer außerordentlichen Hauptversammlung am Donnerstag zustimmen.
Aber der Großaktionär Heinz Hermann Thiele, der aufgrund der üblicherweise geringen Präsenz auf einer Hauptversammlung dort womöglich das Sagen hat, könnte sich querstellen. In einem Brief von Spohr an die Mitarbeiter heißt es:
Die Frist zur Registrierung ist abgelaufen.
Clever vom Lufthansa-Vorstand: Um die Belegschaft keinem Risiko auszusetzen, überweist man die Gehälter schon am heutigen Montag, also noch rechtzeitig vor der vermutlich turbulenten Versammlung. Gleichzeitig will man mit dem Investor Thiele und dem Finanzminister nach Auswegen aus der Krise suchen.
In der Geschichte des Dax ist der Absturz des Zahlungsdienstleisters Wirecard beispiellos. Seit Jahren steht der einstige Börsenliebling im Verdacht, seine Bilanzen zu frisieren, Deals zu schönen und Geschäftspartner zu täuschen. Nun spricht einiges dafür, dass die Vorwürfe, die zuerst die "Financial Times" auf den Tisch gebracht hatte und dafür von Wirecard verklagt worden war, zutreffen.
► Am Donnerstag war eine lang erwartete Bilanzvorstellung von Wirecard abermals verschoben worden, weil der Bilanzprüfer EY den Nachweis über angebliche Bankguthaben von 1,9 Milliarden Euro vermisste und den Geschäftsbericht daher nicht testieren konnte. Die Wirecard-Aktie rauschte in die Tiefe, rund drei Viertel des Börsenwertes wurden vernichtet.
► Der Wirecard-Vorstand teilte nun mit, dass "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" die Bankguthaben nicht bestehen. Wirecard nahm die vorläufige Einschätzung des Geschäftsjahres 2019 zurück und strich die Gewinnprognose für das Jahr 2020.
► Der Bilanzskandal hat einen von Deutschlands umtriebigsten Tech-Köpfen aus dem Amt gehoben. Vorstandschef Markus Braun, der den einstigen Porno-Bezahldienst an die Weltspitze geführt und stark auf sich zentralisiert hatte, musste gehen.
► Aufgrund der ausstehenden Vorjahresbilanz haben 16 Banken nun das Recht, Kreditlinien über 1,85 Milliarden Euro fällig zu stellen. Wirecard geriete in diesem Fall in schwere Liquiditätsnot. Der neue Interimschef James Freis muss daher mit den Gläubigerbanken über neue Konditionen verhandeln.
Die Verhandlungsposition schwächt nun zusätzlich, dass die Ratingagentur Moody’s Wirecards Bonitätsnote gleich um sechs Stufen auf "Baa3" und damit auf nicht mehr investitionswürdiges Niveau ("Ramsch") gesenkt hat. Die einstige Erfolgsgeschichte endet für Anleger, Mitarbeiter und die Börsenaufsicht als Albtraum.
Manche Politiker reden erst so richtig Klartext, wenn sie keine politischen Ämter mehr besitzen. Zum Beispiel Herbert Schmalstieg, der für die SPD 34 Jahre lang in Hannover das Amt des Oberbürgermeisters bekleidet hat.
Anlässlich seines 77. Geburtstages bekam der alte Partei-Haudegen ein Gratulationsschreiben von seinen Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zugeschickt. Schmalstieg bedankte sich artig, wurde dann aber im Antwortschreiben schnell deutlich:
Autsch!
Ilana Lewitan ist Künstlerin, Münchnerin und Jüdin. Seit wenigen Tagen wird ihre Installation "Adam, wo bist Du?" im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in der Landeshauptstadt ausgestellt. Im Zentrum der über 400 Quadratmeter Ausstellungsfläche findet sich ein überdimensionales Kreuz. An der Stelle von Jesus hängt dort der gestreifte Haftanzug eines KZ-Insassen. Die Künstlerin bietet im Morning Briefing Podcast Interpretationshilfe:
Ich wünsche der Künstlerin das Publikumsinteresse, das sie verdient. Uns allen wünsche ich trotz der Zumutungen aus Vergangenheit und Gegenwart einen zuversichtlichen Start in diese neue Woche. Es grüßt Sie herzlichst Ihr
Gabor Steingart