Wissenschaftler und EU-Praktiker schlagen einen neuen Weg im Digitalrecht vor. Er enthält konstruktive Vorschläge.

Meine Meinung
Dieser Meinungsbeitrag stellt die Sicht von Kai Zenner und Rolf Schwartmann dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Europa in der digitalen Zeitenwende

Europa steht am Rand einer digitalen Zeitenwende. In einem mit über 30 namhaften Autoren veröffentlichten Positionspapier "Der Europäische Weg – eine Blaupause zur Sicherung unserer digitalen Zukunft" mahnen wir daher eindringlich: Die EU droht, technologisch abgehängt zu werden. So sind wir heute in vielen Bereichen längst nicht mehr der renommierte Innovationstreiber aus alten Tagen, sondern ein abgehängter Konsument: bei Chips, bei Cloud-Infrastrukturen, bei Künstlicher Intelligenz.

Die EU hat sich in eine "Digitale Kolonie" verwandelt, das heißt sie ist wirtschaftlich verwundbar und geopolitisch erpressbar. Dies muss sich ändern. Und es kann sich ändern – wenn jetzt entschlossen gehandelt wird. Die neue Bundesregierung steht hier ganz besonders in der Pflicht, nicht für Deutschland, sondern auch in Europa initiativ zu werden.

Über die Autoren des Brandbriefs: Kai Zenner

  • Kai Zenner ist Büroleiter und Berater für Digitalpolitik des Europaabgeordneten Axel Voss (Europäische Volkspartei) im Europäischen Parlament. Außerdem ist er Fellow of Practice an der Technischen Universität München (TUM), Mitglied des OECD.AI Network of Experts und Mitglied der AI Governance Alliance beim Weltwirtschaftsforum.
  • Alle geäußerten Ansichten sind persönlicher Natur und stellen weder die Position des Europäischen Parlaments noch der EVP-Fraktion dar.
  • Prof. Dr. Rolf Schwartmann ist Leiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht an der TH Köln und Vorsitzender der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit e.V.
  • Die Autoren sind Mitherausgeber der Zeitschrift für Europäisches Daten- und Informationsrecht (EuDIR) und des Buches Schwartmann/Keber/Zenner, KI-VO, 2. Aufl. 2024.

Unterschiedliche Maßstäbe bei einheitlichem Recht

Europas Digitalpolitik hat eine entscheidende Schwäche: Sie lautet inkohärente politische Führung. Statt entschlossener Gesamtstrategien prägen heute Flickwerk und ein Zuviel an rechtlichen Vorschriften ohne klaren Kompass den digitalen Binnenmarkt der EU. Angesichts der geopolitischen Lage reicht es aber nicht mehr aus, das digitale Europa nur durch immer neue Gesetze zu rahmen – es braucht eine große, gemeinsame Digitalvision, die sich über alle politischen Aktivitäten, über alle Ebenen der sogenannten "Technologie-Stack" und über alle EU-Mitgliedsstaaten hinweg erstreckt.

"Europäischer Weg" für eine einheitliche Digitalpolitik

Der 'Europäische Weg' ist diese Vision. Er ist mehr als ein Sammelbegriff für europäische Digitalpolitik – er ist eine wertebasierte Antwort auf die geopolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart. Er verbindet die effektive Verteidigung unserer rechtlichen Werte und demokratischen Grundsätze, strategische Resilienz, Interoperabilität, Nachhaltigkeit, Vertrauen in digitale Produkte und Dienstleistungen sowie die Vielfalt unserer dezentralisierten digitalen Ökonomie.

Doch diese Leitprinzipien dürfen nicht isoliert nebeneinanderstehen. Sie müssen als Leitplanken dienen, die alle Ebenen der Digitalisierung durchdringen: die physischen Infrastrukturen, die Software- und Plattformebene, die digitalen Dienstleistungen und schließlich das gesellschaftliche Zusammenleben. Nur wenn die EU einen solch holistischen Ansatz wählt, kann es seine technologische Souveränität zurückgewinnen.

Aktion statt Reaktion für technologische Souveränität

Was bedeutet das konkret? Die EU darf sich nicht länger mit reaktiver Politik zufriedengeben. In den letzten Jahren hat sich Europa global zwar mit einer Vielzahl an neuen Digitalgesetzen profiliert – vom Datenschutz über die Plattformregulierung bis hin zu KI-Vorschriften. Doch Regulierung allein bringt keine technologische Führungsrolle. Sie ist notwendig, um Werte zu sichern, reicht aber nicht aus, um Innovationen zu treiben.

Der viel zitierte "Brüssel-Effekt", wonach die Welt europäische Standards übernimmt, hat seine Grenzen. Ohne eigene digitale Schwergewichte, ohne eigene technologische Ökosysteme, ohne eigene industrielle Basis läuft die EU Gefahr, zum Regulierer ohne Einfluss zu werden. Genau hier setzt der 'Europäische Weg' an: Er will nicht nur Regeln schaffen, sondern echte strategische Handlungsfähigkeit herstellen.

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Industrie und Digitalpolitik

Dazu gehört zunächst eine mutige Digitalindustriepolitik. Jahrzehntelang hat die EU zu wenig in eigene digitale Infrastrukturen investiert. Das rächt sich jetzt, wo fast die gesamte Basis digitaler Wertschöpfung von außereuropäischen Anbietern kontrolliert wird. Eine europäische digitale Industriepolitik muss hier ansetzen, indem sie gezielt strategische Schlüsselbereiche stärkt: Quantencomputing, Künstliche Intelligenz, resiliente Datenplattformen und digitale Verteidigungssysteme.

Das Ziel darf nicht sein, überall autark zu werden – wohl aber, in entscheidenden Bereichen eigenständige Alternativen aufzubauen, die Europa wieder handlungsfähig machen. Nur so kann verhindert werden, dass Europa bei jedem geopolitischen Konflikt, bei jeder Marktverschiebung in eine Schockstarre verfällt.

Digitaler Binnenmarkt

Zudem braucht es eine Vollendung des digitalen Binnenmarkts. Nationale Barrieren, fragmentierte Märkte und fehlende Kapitalströme bremsen europäische Unternehmen noch immer massiv aus. Deutschland muss sich dafür einsetzen, die Kapitalmarktunion voranzubringen, regulatorische Hürden abzubauen und die strategische Nutzung öffentlicher Beschaffung auszubauen. Ohne diese Schritte wird Europa weiter hinter den USA und China zurückbleiben.

Gerade Start-ups und mittelständische Unternehmen, die das Rückgrat der europäischen Wirtschaft bilden, brauchen Wachstumschancen und Skalierungsmöglichkeiten. Es ist bezeichnend, dass viele europäische Tech-Talente und Gründer abwandern, weil sie in anderen Regionen bessere Bedingungen vorfinden. Wenn Europa hier nicht gegensteuert, verliert es nicht nur wirtschaftliche Schlagkraft, sondern auch das Vertrauen der nächsten Generation.

Außenpolitik und Digitalisierung

Auch außenpolitisch muss Europa strategischer denken. Die geopolitische Lage zwingt die EU, in der internationalen Digitalpolitik eine aktivere Rolle zu spielen. Handelsabkommen brauchen digitale Kapitel, internationale Standardisierungsgremien müssen wieder stärker in den Fokus rücken und strategische Allianzen mit Demokratien wie Japan, Kanada oder Australien müssen gezielt gefördert und ausgebaut werden.

Der 'Europäische Weg' bedeutet, selbstbewusst mitzugestalten, anstatt bloß zu reagieren. Damit dies gelingt, muss die EU jedoch ihre internen Blockaden lösen. Das Papier schlägt dafür einen "Sovereignty Compact" vor, der es einer qualifizierten Mehrheit erlaubt, bei Schlüsselthemen voranzugehen, auch wenn nicht alle Mitgliedsstaaten mitziehen.

Strukturen bei der Gesetzgebung

Ein zentrales Element des Positionspapiers ist daher auch die Reform der legislativen Strukturen in Brüssel. Europa braucht eine institutionelle Erneuerung, die auf kohärente, prinzipienbasierte und effiziente Gesetzgebung setzt. Bessere Regulierung bedeutet nicht mehr Regulierung, sondern klügere Regulierung.

Dazu gehören eine stärkere Rolle des 'Ausschuss für Regulierungskontrolle', systematische Gesetzesevaluierungen, eine konsequente Vereinfachung regulatorischer Rahmenbedingungen und eine politische Kultur, die den Mut hat, auch einmal bestehende Regeln infrage zu stellen. Nur wenn Europa regulatorisch beweglicher wird, kann es auf neue technologische Entwicklungen rechtzeitig reagieren.

Energiepolitik und Digitalisierung

Besonders brisant ist das Thema Energie. Digitalisierung verbraucht immense Mengen Strom. Ohne eine nachhaltige, krisenfeste Energiepolitik wird jede Digitalstrategie zur Makulatur. Europa muss daher die Verknüpfung von digitaler Infrastruktur und Energiewende strategisch denken: von der Förderung grüner Rechenzentren bis hin zur Integration digitaler Lösungen in den Energiemarkt selbst. Der gesamte Energiemix muss neu diskutiert werden. Allerdings mit Respekt für nationale Unterschiede. In einem abgestimmten Vorgehen liegen große Chancen für Innovation und Wettbewerb, die es zu nutzen gilt.

Menschen und Digitalisierung

Schließlich stellt sich die Frage nach den Menschen hinter der Technologie. Europa wird den digitalen Umbruch nur schaffen, wenn es gelingt, Talente zu gewinnen, zu fördern und zu halten. Das bedeutet: eine Bildungsoffensive auf europäischer Ebene, erleichterte Fachkräfteeinwanderung, steuerliche Anreize für Innovationsführer und bessere Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln. Der Kampf um kluge Köpfe ist längst global. Wenn Europa nicht nur ausbildet, sondern auch attraktiv für die Besten bleibt, sichert es sich eine nachhaltige Grundlage für technologische Souveränität.

Schlüsselrolle für Deutschland

Deutschland spielt im digitalen Europa eine wichtige Rolle. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung bietet eine solide Basis, doch bloße Absichtserklärungen gepaart mit nationalen Alleingängen werden den internationalen Herausforderungen nicht mehr gerecht. Deutschland muss das Heft des Handelns und zum Motor der europäischen Digitalpolitik werden, indem es sich in Brüssel für die richtigen Prioritäten einsetzt.

Es gilt nun auch in der Außenpolitik, den europäischen Digitalansatz offensiv zu vertreten und als Brückenbauer gegenüber Partnerstaaten auftreten. Es muss Investitionen lenken, Forschung und Entwicklung gezielt unterstützen und die Verwaltung modernisieren, um digitale Vorreiterrolle nicht nur zu predigen, sondern ins Werk zu setzen.

Die digitale Revolution gestalten

Europa steht an einem historischen Scheideweg. Die digitale Revolution ist kein Zukunftsthema mehr – sie ist längst Gegenwart. Die USA und China sind in vielen Feldern weit enteilt. Doch Europa hat die Chance, eine eigene, wertebasierte Antwort zu formulieren.

Der 'Europäische Weg' ist dabei nicht nur ein technisches Projekt, sondern ein Gesellschaftsprojekt. Er bedeutet, Demokratie, Nachhaltigkeit, Menschenrechte und wirtschaftliche Stärke zusammenzudenken und in konkrete Politik zu übersetzen. Es geht darum, dass Europa nicht nur mitläuft, sondern mitgestaltet. Dass es seine Zukunft nicht anderen überlässt, sondern selbst in die Hand nimmt.

Es ist an der Zeit

Die Chance ist da. Aber das Zeitfenster wird sich wieder schließen. Die Frage ist nicht, ob Europa die technologische Wende schaffen kann. Entscheidend ist, dass die deutsche Bundesregierung voranschreitet und den ersten Schritt macht, auch mit Blick für kommende Generationen. Es ist Zeit, zu handeln. Jetzt.

Das vollständige Positionspapier finden Sie unter folgendem Link: