Durch die geplante EU-Asylreform erwarten Migrationsforscher eine Verschärfung der Flüchtlingskrise in Europa. Besser keine Reform als diese, sagt der Migrationsrat daher am Mittwoch in Berlin. Er fordert einen Stopp der Asylreform.

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Am Donnerstag beraten die EU-Innenminister in Luxemburg über die seit Jahren strittige Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Es geht unter anderem um die Frage, ob es Vorprüfungen von Asylanträgen schon an den EU-Außengrenzen geben soll.

Besser keine Reform als diese, sagt der Migrationsrat dazu und fordert einen Stopp. Der Entwurf der EU-Kommission sei nicht geeignet, "um die Krise der Migrationspolitik zu beenden", so der Rat für Migration am Mittwoch in Berlin. Das hätten auch Forschungen zu bereits in Pilotprojekten umgesetzten Maßnahmen des Reformpakets gezeigt.

Auch die Forderungen der an den EU-Außengrenzen gelegenen Mitgliedstaaten nach tatsächlicher europäischer Solidarität würden nicht erfüllt. "Die Krise des europäischen Asylsystems wird sich somit verschärfen und Europa weiter spalten", sagte der Vorsitzende des Gremiums, Vassilis Tsianos. Vielmehr würden die neuen Vorschläge die Forderungen rechtspopulistischer und extremer Parteien und Regierungen nach einer "faktischen Abschaffung des Flüchtlingsschutzes" weiter befeuern.

Bevor die EU-Innenminister am Donnerstag über die GEAS-Reform beraten, hatte sich die Bundesregierung dafür offen gezeigt, will aber durchsetzen, dass Minderjährige unter 18 und Familien mit Kindern diese Verfahren nicht durchlaufen müssen. Entsprechend hatten sich auch Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne) geäußert. Baerbock sagte, Grenzverfahren seien hochproblematisch - der EU-Kommissionsvorschlag sei aber die einzige Chance, auf absehbare Zeit zu einem "geordneten und humanen Verteilungsverfahren" zu kommen.

Migrationsforscher fürchten Anreize für illegale Zurückweisungen

Doch gerade diesen Vorschlag sehen Migrationsforschende kritisch: Er biete Anreize für die Staaten an den Außengrenzen, noch stärker illegale Zurückweisungen vorzunehmen und Schutzsuchende an den Grenzen zu inhaftieren. Auch bleibe das Grundproblem des Dublin-Systems bestehen, da hauptsächlich die Erstaufnahmestaaten für Aufnahme und weiteren Aufenthalt der Geflüchteten verantwortlich seien. Damit gebe es für Staaten wie Griechenland, Italien oder Spanien de facto keinen Anreiz, ein inhaltliches Asylverfahren vorzunehmen.

Der Rat für Migration forderte ebenso wie weitere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Bundesregierung dazu auf, gegen die aktuellen EU-Pläne zu stimmen: "Ohne eine Zustimmung Deutschlands dürfte die Reform im Rat keine Mehrheit finden", heißt es in einer Pressemitteilung des Rats.

Grenzverfahren seien keine Asylverfahren, sondern nur eine "Vorprüfung anhand grober Kriterien". Fluchtgründe und Schutzbedürftigkeit würden nicht gründlich erfasst. Das führe zu Inhaftierung und grenznahen Gefängnissen, meinte Bernd Kasparek vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung: "Innenministerin Faeser täte gut daran, morgen in Brüssel die Reform zu stoppen – und damit den Weg für ein gerechtes europäisches Asylsystem freizumachen."

Marei Pelzer, Bernd Kasparek und Vassilis Tsianos (v.l.) vom Rat für Migration fordern einen Stopp der europäischen Asylreform. © picture alliance / Geisler-Fotopress/Frederic Kern/Geisler-Fotopress

Marei Pelzer: "Zugang zum Asylrecht soll systematisch unterlaufen werden"

Mit der geplanten EU-Reform solle "der Zugang zum Asylrecht systematisch unterlaufen werden", kritisierte die auf Asyl- und Migrationsrecht spezialisierte Wissenschaftlerin Marei Pelzer. Es gebe an den Grenzen keine anwaltliche Vertretung für Geflüchtete, ein faires Asylverfahren könne somit nicht stattfinden.

Auch hinsichtlich der Bestrebungen vonseiten der Bundesregierung zeigte sich Pelzer skeptisch, bei den umstrittenen Asylprüfungen Familien mit Kindern auszunehmen. Auf EU-Ebene sehe sie dafür keine große Unterstützung. Die Herausnahme von Familien sei zwar ein sinnvoller Ansatz, reiche aber nicht aus. Beispielsweise seien die geplanten Verfahren an den EU-Außengrenzen auch für Kriegsflüchtlinge schwierig.

Wachsender Unmut über den Asylkurs gibt es auch bei den Grünen. Rund 730 Mitglieder stehen hinter einem Brief an führende Politiker und Politikerinnen der eigenen Partei, berichtete die Deutsche Presse-Agentur (dpa). Darin heißt es: "Auch wenn die Verhandlungssituation in Brüssel sicherlich schwierig ist und wir sicher sind, dass ihr für die Umsetzung des Koalitionsvertrags kämpft, so ist es doch schwer nachvollziehbar, warum die deutsche Verhandlungsposition nicht annähernd den Inhalten des Koalitionsvertrags entspricht."

Innenministerin Faeser unterstützt das Vorhaben von Grenzverfahren

Dagegen unterstrich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) im "Handelsblatt" erneut ihre Unterstützung für das Vorhaben von Grenzverfahren und sagte: "Kinder und andere vulnerable Gruppen wollen wir besonders schützen." Für den Fall, dass es keine EU-Asylreform gebe, prophezeite Faeser ein Ende des kontrollfreien Schengen-Raums. Andernfalls drohe eine Rückkehr der Schlagbäume an vielen europäischen Binnengrenzen – "und die Menschen und die Wirtschaft in der EU wären um Jahrzehnte zurückgeworfen".

Bei der Union stößt das Bemühen der Bundesregierung, die Altersgrenze auf 18 anzuheben, auf Widerstand - aber auch bei der Regierungspartei FDP. Deren Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sprach sich im "Tagesspiegel" für eine menschenwürdige Versorgung aller Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen und ein effizientes Asylverfahren aus: "Wenn diese Regeln gelten, dann braucht es auch keine Debatte zu möglichen Ausnahmen, die eine Einigung in Europa wieder nur gefährden würden."

CDU-Generalsekretär Mario Czaja hat sich hinter die Forderung nach einer überparteilichen Kommission zur Begrenzung der Migration gestellt. Czaja sagte im "Bericht aus Berlin", es sei "im Grunde ein weiterer Hilferuf aus dem Land". Zuvor hatte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) angeregt, dass eine überparteiliche Kommission einen Vorschlag für eine neue Asylpolitik entwickeln solle.

Seit Januar kamen mehr als 50.000 Migrantinnen und Migranten nach Italien

Einen "neuen Politikgestaltungsprozess" nach der Europawahl 2024 in Gang zu setzen, dafür wirbt der Rat der Migration. Bis dahin habe die Bundesregierung "ihre selbst gesetzte Aufgabe aus dem Koalitionsvertrag" zu erfüllen und sich für ein mit dem "EU-Recht konformes EU-Asylsystem einzusetzen". Der erste Schritt sei eine faktengestützte, umfassende Evaluation der aktuellen Situation an den EU-Außengrenzen.

Hintergrund der EU-Beratungen sind die gestiegenen Zahlen an Migrantinnen und Migranten. Seit Monaten versuchen sehr viele Menschen, von Nordafrika über das Mittelmeer Süditalien zu erreichen. Nach Angaben aus Rom kamen seit Januar mehr als 50.000 Menschen auf Booten nach Italien, berichtete die "Tagesschau".

Dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge starben seit Jahresanfang bei Überfahrten mehr als 980 Menschen oder werden seither vermisst. In Deutschland wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres gut 100.000 Erstanträge auf Asyl vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegengenommen, eine Zunahme um rund 78 Prozent.

Verwendete Quellen:

  • Bundespressekonferenz vom 7. Juni
  • Pressemitteilung vom Rat für Migration vom 7. Juni
  • Deutsche Presse-Agentur (dpa)
  • Tagesschau: Ampelparteien uneins über EU-Asylreform
  • Handelsblatt.de: "Faeser drängt auf Einigung bei EU-Asylreform"
  • Tagesspiegel.de: "Berlin will Grenzverfahren nur noch für Erwachsene"
  • Bericht aus Berlin vom 4. Juni
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