Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Heute: Olaf Scholz hat keine Lösung für die gewaltige Milliarden-Lücke im Haushalt. Außerdem: Jens Spahn profitiert von der Selbst-Demontage anderer Politiker.

Guten Morgen, liebe Leserinnen und liebe Leser,
Märchenstunde im Kabinett: Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz wird heute im Kreise der Regierungsmitglieder den Bundeshaushalt für 2021 und die Finanzplanung der Jahre bis 2024 erläutern, allerdings ohne eine Lösung für die gewaltige 131-Milliarden-Lücke im Etat zu präsentieren, die Experten ihm vorrechnen. Die Großkoalitionäre sind sich einig: Schulden jetzt, Seriosität später. Bei der Etatplanung steht bereits fest:
- 2021 wird der Bundeshaushalt 96 Milliarden mehr ausgeben als einnehmen. Die Verschuldung der Bundesrepublik steigt auf rund 80 Prozent des Bruttosozialprodukts.
- Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse muss ausgesetzt werden. Nur 10 Milliarden Euro neue Schulden wären im kommenden Jahr möglich gewesen.
- Vor allem die prognostizierten Steuermindereinnahmen machen dem Etat zu schaffen. Bund, Länder und Kommunen werden in diesem Jahr rund 81,6 Milliarden Euro weniger Steuern einnehmen als in 2019. Im kommenden Jahr muss Scholz noch einmal mit 19,6 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen auskommen als ursprünglich erwartet - vorausgesetzt, das Infektionsgeschehen und die Pandemie-Bekämpfung machen den Aufschwung nicht zunichte.
Fazit: Die Schweigsamkeit der Koalitionäre hat Methode. Jeder weiß, dass die Worte Subventionskürzung, Steuererhöhung und Sozialabbau im Wahlkampf leicht entflammbar sind.
Derweil sich Spitzenpolitiker wie Friedrich Merz und Christian Lindner mit öffentlichen Äußerungen selbst beschädigen, schiebt sich Gesundheitsminister Jens Spahn ohne viel Aufhebens auf der Beliebtheitsskala der Deutschen nach vorne. In einer Umfrage über die Zufriedenheit der Deutschen mit der Arbeit von Spitzenpolitikern liegt er mit 60 Prozent auf Rang zwei, hinter Angela Merkel und vor Olaf Scholz.
Auch seine coole Reaktion auf die fragwürdigen Äußerungen von Merz zur Homosexualität brachten ihm Punkte. Das Publikum erlebte keinen erregten Wüterich, sondern einen selbstbeherrschten Mann. Spahn, der seine politische Karriere deutlich rechts der Mitte startete, hat die eigenen Koordinaten verschoben - weniger laut als Markus Söder, aber nicht weniger effektiv. Die Pandemie hat Spahn moderat gemacht.
Dieter Nuhr ist einer der erfolgreichsten Kabarettisten Deutschlands – und einer der umstrittensten. Auf den Bühnen und in seiner eigenen ARD-Sendung "Nuhr im Ersten" teilt er gerne aus. Nichts ist sicher vor seinem Wortwitz: weder Greta Thunberg, noch die AfD oder das Coronavirus. Im Internet muss er in regelmäßigen Abständen sogenannte Shitstorms über sich ergehen lassen, also massive Kritik und persönliche Anfeindungen. Gestern hat er auf der PioneerOne mit unserem Chefredakteur Michael Bröcker über das Leben am öffentlichen Pranger gesprochen. Das Publikum erlebte einen gleichermaßen nachdenklichen wie kämpferischen Kabarettisten:
Der Shitstorm in den sozialen Medien folge seinen eigenen Regeln, so Nuhr:
Auf die Frage, ob es eine "Cancel Culture", also den systematischen Boykott von Personen im Netz gibt, sagt er:
Über die daraus resultierende Erfahrung, die letztendlich in eine Selbstzensur münde, sagt er:
Ein circa zehnminütiges Potpourri des Gesprächs hören Sie im heutigen Morning Briefing Podcast. Die gesamte Unterhaltung können Sie als Pioneer auf unserer Webseite hören. Klicken und genießen Sie einfach hier.
An diesem Mittwoch stellt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Migrationsstrategie für die Europäische Union vor.
Die schlechte Nachricht: Es wird wieder keinen automatischen Verteilmechanismus für Flüchtlinge geben – dafür ist der Widerstand zu groß. Aber: Die Beiseitesteher-Staaten, also vor allem Ungarn, Polen und die Balten, müssen sich mit anderen Dienstleistungen, zum Beispiel der europäischen Grenzsicherung, beteiligen. Die Details des Plans finden Sie im Hauptstadt-Newsletter.
Wie die neuen Schulden wieder abgebaut werden sollen und wie ein Sparpaket aussehen könnte, darüber haben meine Kollegen mit dem Top-Beamten im Finanzministerium, Werner Gatzer, gesprochen. Er ist seit 15 Jahren für den Haushalt zuständig.
Die Krise setzt den Beschäftigten auch auf der Einnahmenseite zu. Die Nominallöhne lagen im zweiten Quartal dieses Jahres 4 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Das hat gestern das Statistische Bundesamt mitgeteilt. Die sozialen Folgen der Pandemie werden damit allmählich greifbar:
- Da gleichzeitig die Verbraucherpreise gestiegen sind, betrug der reale Lohnrückgang 4,7 Prozent. Stärkere Rückgänge hat es seit Beginn der Statistik im Jahr 2007 bisher nicht gegeben.
- Vor allem die unteren Lohngruppen, also da wo ungelernte Arbeitnehmer beheimatet sind, werden derzeit einer Zangenbewegung ausgesetzt. Einerseits gingen die bezahlten Arbeitsstunden in der Jahresfrist um 9,8 Prozent zurück. Gleichzeitig sanken bei den weniger geleisteten Stunden die vom Arbeitgeber bezahlten Löhne um 7,4 Prozent.
- Menschen in leitender Stellung waren besser dran: Hier verringerte sich die Arbeitszeit im Schnitt nur um 3,0 Prozent und die Entgelte sanken nur um durchschnittlich 2,0 Prozent. Damit gehören sie – statistisch betrachtet – zu den Krisengewinnern: Die Arbeitszeit schrumpft schneller als das Gehalt.
Die Corona-Krise beschleunigt das Filialsterben in der Finanzbranche – auch bei der Deutschen Bank. Das Geldinstitut will jede fünfte Filiale hierzulande schließen. Der Dax-Konzern teilte gestern mit:
Deutsche-Bank-Manager Philipp Gossow, Leiter Privatkundengeschäft Deutschland, sagt:
Ende vergangenen Jahres betrieb die Deutsche Bank 511 eigene Filialen, derzeit sind es nach Angaben der Bank etwas mehr als 500. Zusätzlich stehen den Kunden für einfache Bankgeschäfte wie Überweisungen die 800 Filialen der zum Konzern gehörenden Postbank zur Verfügung.
Was neben Kostendisziplin strategisch hinter den Sparbemühungen steckt, hat Finanzvorstand James von Moltke am Dienstag auf einer Analystenkonferenz erläutert:
Von Moltke weiß, was Deutsche Bank-Vorstandschef Christian Sewing und UBS-Verwaltungsratspräsident Axel Weber auch wissen:
Der Druck auf den MDax-Konzern Grenke wächst. Mit einem Sondergutachten will der Leasingkonzern Geldwäsche- und Täuschungsvorwürfe der Investorengruppe Viceroy aus der Welt räumen. Grenke teilte mit:
Hinter den Vorwürfen steckt ein 64-seitiger Bericht der Investorengruppe Viceroy, die vom britischen Spekulanten Fraser Perring angeführt wird. Dieser war einer der ersten Investoren, der sich gegen den inzwischen insolventen Zahlungsdienstleister Wirecard positionierte. Die Grenke-Vorstandsvorsitzende Antje Leminsky wehrte sich gegen einen Vergleich mit Wirecard:
An der Börse helfen diese Beteuerungen nicht viel. Seit dem 15. September hat das Papier über 40 Prozent an Wert verloren:
Und die Zweifel wachsen. So teilte Wolfgang Grenke, Unternehmensgründer und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Konzerns, mit, sein Mandat in dem Kontrollgremium solange ruhen lassen, bis alle Vorwürfe ausgeräumt sind. Und auch die Finanzaufsicht BaFin ist auf den Fall aufmerksam geworden. Exekutivdirektor Raimund Röseler sagte auf dem Internationalen Retail-Bankentag der "Börsen-Zeitung":
Einen Gewinner gibt es jetzt schon: die Investorengruppe Viceroy. Mit Leerverkäufen hat sie auf den Absturz der Aktie gewettet – und Kasse gemacht.
Wird Facebook in Europa bald seine Dienste nicht mehr anbieten? Der US-Konzern hat angedeutet, sich aus dem europäischen Markt zurückzuziehen. Der Grund seien die Datenschutzvorschriften. Yvonne Cunnane, Juristin bei der irischen Tochtergesellschaft von Facebook, sagte in einer eidesstattlichen Versicherung vor Gericht:
Hintergrund: Facebook darf möglicherweise keine Daten seiner europäischen Nutzer mehr in die USA verschieben. Die irische Datenschutzkommission hat Anfang September eine Untersuchung eingeleitet, die im Detail belegen soll, wie Facebook Datenmaterial von der EU in die USA verlagert. Ziel ist es, den Datentransfer in die USA einzustellen.
Fazit: Die Drohung der Facebook-Manager sollte uns Europäer bestärken, nicht schrecken. Auch für die Firma des Mark Zuckerberg gilt: Reisende soll man nicht aufhalten.
Ich wünsche uns allen einen selbstbestimmten Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr
Gabor Steingart