Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Heute: Nebenwirkungen eines Lockdowns sind für Millionen Menschen lebensbedrohlich, Überbrückungshilfen erreichen nicht die eigentliche Zielgruppe. Außerdem: Elon Musk plant einen Besuch in Deutschland.
Guten Morgen, liebe Leserinnen und liebe Leser,
viele leben nach dem Motto: Was interessiert mich die Meinung der anderen; ich hab ja meine eigene.
Wer Wahrheit hingegen nicht als einen statischen Zustand begreift, sondern als eine Suchbewegung, wird den Blick ins Ausland zu schätzen wissen. Heute äußern sich zwei prominente Stimmen der internationalen Wirtschaftswelt zu den großen Themen, die auch unser Land umtreiben.
Erstens: Vorsicht Rettungspolitik!
Die "Financial Times" in Gestalt ihres ökonomischen Analysten Wolfgang Münchau knöpft sich die deutsche Rettungspolitik von Kanzlerin Merkel, Finanzminister Scholz und Wirtschaftsminister Altmaier vor. Bisher habe man durch die Bereitstellung von Liquidität für den Unternehmenssektor alles richtig gemacht. Aber:
Das Urteil des renommierten Kollegen fällt hart aus:
Zweitens: Corona-Politik verschärft Hungersnöte
Der amerikanische Wirtschaftsdienst Bloomberg will uns die Furcht vor weiteren Corona-Infektionen nicht ausreden, aber er rät uns dringend, die aus der Furcht resultierende Corona-Politik zu relativieren. Denn die Nebenwirkungen eines Lockdowns, der noch immer wichtige Branchen wie den Unterhaltungssektor, die Reiseveranstalter und die Flugindustrie gefangen hält, seien für Millionen Menschen lebensbedrohlich:
Fazit: Es ist an der Zeit, die Verengung der Debatte auf die medizinischen Folgen von Covid-19 zu beenden. Die sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen der Pandemiebekämpfung sind gravierend. Gebraucht wird ein kühler politischer Kopf und nicht die zittrige Hand am Panikknopf.
Überbrückungshilfen erreichen nicht die eigentlich Zielgruppe
Groß, größer, Scholz:
Mit diesen Worten verkündete Finanzminister Olaf Scholz im Juni den Beschluss der Regierung, den kleinen und mittleren Unternehmen zu helfen und ein Programm mit Überbrückungshilfen für sie aufzulegen. Doch der Wumms erreichte lediglich die mediale Schlagzeilenindustrie, nicht aber die eigentliche Zielgruppe.
Eine Kleine Anfrage der Grünen hat nun ergeben, dass von den geplanten 24,6 Milliarden Euro bislang lediglich ein Prozent an notleidende Firmen ausgezahlt wurde. Initiatorin der Anfrage war die Bundestagsabgeordnete Claudia Müller. Sie ist 39 Jahre alt, stammt aus Mecklenburg-Vorpommern und war freiberufliche Reiseleiterin.
Aus den Gesprächen mit vielen Selbstständigen hat sie erfahren, dass die Mittel nicht im gewünschten Maß fließen und insbesondere Soloselbstständige immer mehr leiden. Den Grund dafür sieht sie in der Beschaffenheit des Programms: Der Staat erstattet bei diesem Konjunkturprogramm lediglich die Kosten.
Diese fallen bei Firmen mit vielen Beschäftigten an, nicht aber bei Soloselbstständigen. Bei ihnen fallen vor allem die Lebenshaltungskosten an, die das Programm nicht bezahlt. Dafür, sagt der Staat, gebe es schließlich Hartz IV. Im Morning Briefing Podcast sagt die Mittelstandsexpertin:
Auch die Ungewissheit plagt viele Selbstständige:
Über die geringe Summe der bisher ausgezahlten Mittel sagt sie:
Abschließend kommt sie zu einem vernichtenden Urteil:
Fazit: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Die Regierung muss nachbessern.
Untersuchungsausschuss wird immer wahrscheinlicher
Nach dem ersten Tag der zweiten Sondersitzung des Finanzausschusses, der sich mit dem insolventen Wirecard-Konzern beschäftigt, wird ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss immer wahrscheinlicher. FDP und Linke plädieren dafür, nur die Grünen zieren sich noch und wollen sich auch nach der gestrigen 10,5-stündigen Sitzung nicht festlegen.
Im Gespräch mit dem Morning Briefing Newsletter-Team sagt die finanzpolitische Sprecherin der Grünen, Lisa Paus:
Über die heute anstehende Entscheidung der Grünen hinsichtlich eines Untersuchungsausschusses signalisiert sie:
Fazit: Der heutige Tag wird für die Karriere des Olaf Scholz womöglich wichtiger als seine Nominierung. Denn ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss dürfte bis in den Bundestagswahlkampf hinein tagen.
Direkt und indirekt würde nach der Verantwortung des Mannes gefragt, der für die Finanzaufsicht in Deutschland die oberste Verantwortung trägt. Die Albtraum-Schlagzeile der SPD sieht wie folgt aus: Fall Wirecard führt zum Fall von Scholz.
Bürgernähe mit Demonstrationen ist "hohes Gut"
Am Montag war Mecklenburg-Vorpommerns Regierungschefin Manuela Schwesig (SPD) zu Gast auf der Pioneer One und sprach mit Vizechefredakteur Gordon Repinski über die Folgen der Corona-Politik auf Wirtschaft und Gesellschaft sowie über die jüngsten Ausschreitungen bei den Demonstrationen in Berlin. Dazu sagte Schwesig:
Bürgernähe mit Demonstrationen auch vor dem Parlament sei "ein hohes Gut" der Demokratie.
Schwesig sagte, sie sei "erschrocken und erschüttert" gewesen über die Eskalation nach Ende der Demonstration.
All jenen, die im Moment die Corona-Politik ablehnen, rät sie dennoch zur Umsicht und verlangt Gesetzestreue:
Neues Modewort: Modern Monetary Theory
Das neue Modewort in der Ökonomenwelt lautet Modern Monetary Theory. Dahinter versteckt sich eine intellektuelle Veredlung der Geldflutungspolitik. Die mit MMT abgekürzte Theorie besagt, dass Staaten mit eigener Währung beherzt auf die Notenpresse zurückgreifen sollen, um die Wünsche der Bürger zu befriedigen.
Sollte es zur Inflation kommen, hätte der Staat jederzeit die Möglichkeit über höhere Steuern die Liquidität fast schon nach Belieben zu verknappen.
Dr. Daniel Stelter, Podcast-Gastgeber sowie ehemaliger Chef und Partner der Boston Consulting Group, lässt in der neuen Ausgabe von "Beyond The Obvious" einen MMT-Befürworter zu Wort kommen. Dr. Dirk Ehnts aus dem Vorstand der Samuel Pufendorf Gesellschaft für politische Ökonomie sagt:
Stelter hält dagegen:
Ich habe auch mit Professor Lars Feld, dem Chef der Wirtschaftsweisen, über diesen Vorstoß der Wirtschaftswissenschaft in bisheriges Tabugebiet gesprochen. Im heutigen Morning Briefing Podcast kommt er ausführlich zu Wort. Nur so viel sei hier verraten: Prof. Feld rät der EZB davon ab, eine zweite Fed zu werden.
Gewinnausschüttungen im Corona-Jahr fallen niedriger aus
Die Durststrecke bei den Dividenden wird für viele Aktionäre europäischer Unternehmen nach Einschätzung der DZ Bank auch in den nächsten Jahren anhalten. Der nun veröffentlichten Analyse "Dividenden im Fokus" zufolge fallen die Gewinnausschüttungen im Corona-Jahr um 25 bis 30 Prozent niedriger aus als vor Jahresfrist.
Im Euro Stoxx 50, der die 50 bedeutendsten Aktiengesellschaften des Euroraums vereint, sind die Dividenden gar auf das Niveau von 2005 gesunken:
15 der 50 Unternehmen im Euro Stoxx 50 haben demnach die Dividende gestrichen oder ausgesetzt, darunter alle Banken.
Das ernüchternde Fazit der DZ Bank lautet:
Elon Musk plant Besuch in Deutschland
Tesla-Chef Elon Musk plant nach eigenen Angaben einen Besuch in Deutschland. Er komme wegen einer Zusammenarbeit mit dem Tübinger Unternehmen Curevac, das an einem Corona-Impfstoff arbeitet, und wegen des Baus der Elektroautofabrik in Grünheide bei Berlin, wie er auf Twitter ankündigte:
Die Begehrlichkeiten, den Pionier der Elektrozeit zu treffen, sind größer als dessen Zeitbudget. Seine dreifache Ambition, den Mars zu erobern, einen COVID-Impfstoff zu entwickeln und das E-Auto durchzusetzen, kann man großartig oder größenwahnsinnig finden. Aber so sehen moderne Helden aus. Nicht weil sie alles schaffen, aber weil sie alles wagen.
Ich wünsche Ihnen einen kraftvollen Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr
Gabor Steingart