Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Heute: Sucht sich die Bevölkerung mit Markus Söder womöglich selbst ihren Kanzlerkandidaten? Außerdem: Einnahmelücken werden mit neuen Schulden gefüllt und die Tesla-Aktie erlebt den höchsten Tagesverlust in ihrer Geschichte.

Guten Morgen, liebe Leserinnen und liebe Leser,
die Deutschen sind derzeit fasziniert davon, dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder bei der Arbeit zuzuschauen. Sie sehen in ihm einen, der in der Pandemie Führungsstärke zeigt, der in ökologischen Fragen Lernfähigkeit bewiesen hat und der mit Fehlern wie den schlampigen Coronatests für Reiserückkehrer umzugehen versteht. Kein anderer politischer Akteur darf derzeit mit so viel wärmender Nachsicht rechnen.
In einer Welt der Hyper-Komplexität, die künftig ohne Angela Merkel an der Spitze auskommen muss, ist Söder zur Projektionsfläche geworden - auch innerhalb der Union.
Sucht sich die Bevölkerung selbst ihren Kanzlerkandidaten aus?
Die Kernfrage der nächsten Monate lautet: Wo endet die Persönlichkeit und wo beginnt das Phänomen? Wie viel Söder steckt in Söder?
Oder anders gefragt: Sucht sich hier womöglich die Bevölkerung selbst ihren Kanzlerkandidaten aus, billigend und vielleicht sogar genießend, dass sie die Ränkespiele der offiziellen CDU-Bewerber damit empfindlich stört.
Im heutigen Morning Briefing Podcast begibt sich "Welt"-Chefredakteurin Dagmar Rosenfeld auf eine Spurensuche - und zwar im Gespräch mit dem Protagonisten. Wir erleben einen Politiker, der von Stolz bis Ernst sein Repertoire beherrscht und auch die schwierige Charakterrolle des Demütigen.
Über den Kampf gegen das Virus sagt Söder:
Markus Söder nimmt nicht am Rennen teil
Sein wichtigstes Ziel aktuell:
Über Staatshilfen in der Krise sagt Söder:
Über seine aktuelle Popularität in den Umfragen, vor allem in der Kanzlerfrage, sagt er:
Sein Kommentar zu seiner Favoritenrolle:
Fazit: Vorsicht ist die Mutter der politischen Porzellankiste. Söder dominiert das Unionsrennen womöglich auch deshalb, weil er am Rennen gar nicht teilnimmt.
Einnahmelücken mit neuen Schulden füllen
Das Virus reißt ein tiefes Loch in die Staatskasse: Bund, Länder und Kommunen müssen 2021 wohl noch einmal mit 19,6 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen auskommen, als im Mai erwartet.
Die Steuerschätzer rechnen damit, dass erst 2022 das Vorkrisenniveau wieder erreicht ist. Finanzminister Olaf Scholz will die Einnahmelücke mit neuen Schulden füllen. Schulterzuckend erklärt er dazu:
Leitzins im Euroraum bleibt auf Rekordtief
Die Europäische Zentralbank steckt im Rahmen ihres Notkaufprogramms unverändert 1,35 Billionen Euro in Staats- und Unternehmensanleihen bis mindestens Ende Juni 2021.
Den Leitzins im Euroraum belässt der EZB-Rat auf dem Rekordtief von null Prozent. Die aktuelle Euro-Stärke betrachtet die Notenbank mit Sorge. EZB-Präsidentin Christine Lagarde sagte:
Die weitere Konjunkturentwicklung im Euroraum beurteilt die Notenbank weiterhin als kritisch. Lagarde sagt:
"Es handelt sich um eine Krise wie nie zuvor."
Donald Trump hat Coronavirus heruntergespielt
Die durch das Coronavirus ausgelöste Wirtschaftskrise trifft die USA mit voller Wucht: Im Februar waren in den Vereinigten Staaten 5,79 Millionen Menschen arbeitslos, im April stieg diese Zahl auf 23,08 Millionen. Im August waren noch immer 13,55 Millionen US-Amerikaner ohne Job.
Mit nun veröffentlichten Aussagen von Präsident Donald Trump ist der Fokus im Wahlkampf wieder auf die Pandemie verlagert worden. In einem Gespräch mit dem Journalisten Bob Woodward - wir sprachen an dieser Stelle gestern bereits darüber - sagte Trump im März zur Gefahr des Virus:
Diese Aussage führt dazu, dass im Wahlkampf nun erneut die Todeszahlen ausgeleuchtet, verglichen und neu interpretiert werden.
Der Columbia-Universität zufolge hätte der Präsident durch eine schnellere Durchsetzung von Hygiene- und Abstandsregeln über 58.000 Corona-Todesfälle verhindern können:
Fazit: Würden in Deutschland amerikanische Verhältnisse herrschen, müsste die hiesige Statistik nicht 9.412, sondern 48.942 Todesfälle ausweisen.
Das Comeback-Kid der deutschen Industrie
Werner Baumann ist das Comeback-Kid der deutschen Industrie: Der Aufsichtsrat der Bayer AG hat den zur Hauptversammlung 2021 auslaufenden Vertrag mit dem 57-jährigen Vorstandschef einstimmig bis zum 30. April 2024 verlängert.
Baumann hat die größte Firmenübernahme der deutschen Wirtschaftsgeschichte zu verantworten, die dem Konzern zunächst einen schweren Reputationsschaden und dann Milliarden Schadensersatzforderungen bescherte.
Mittlerweile hat sich nicht der Sachverhalt, wohl aber die Beleuchtung auf denselben verändert: Die Übernahme von Monsanto gilt als strategisch richtig, auch wenn sich durch die mittlerweile erfolgte Schadensregulierung für die Glyphosat-Opfer der Kaufpreis deutlich erhöht hat.
Der Aufsichtsrat lobte insbesondere die "robuste operative Performance" von Werner Baumann, was so viel bedeutet wie: Der Mann hat Nerven bewiesen und trotz widriger Schlagzeilen die Umsätze gesteigert und die prognostizierten Gewinne abgeliefert.
Tesla-Aktie: Höchster Tagesverlust in ihrer Geschichte
Für die Tesla-Aktie gab es in den vergangenen Monaten nur eine Richtung: steil bergauf. Mit einem Minus von 21 Prozent auf 330,21 Dollar erreichte sie jetzt den höchsten Tagesverlust in ihrer Geschichte.
Der Börsenwert brach an einem Handelstag um rund 80 Milliarden US-Dollar ein, das ist mehr als die Marktkapitalisierung von Ford und General Motors (GM) zusammen. Die Turbulenzen haben folgende Gründe:
- Erstens. Am vergangenen Freitag gab das Komitee des S&P 500 bekannt, dass der E-Autopionier nicht in den Börsenindex aufgenommen wird.
- Zweitens. Am Dienstag verkündete das Unternehmen von Elon Musk den Vollzug einer Kapitalerhöhung im Volumen von 5 Milliarden US-Dollar (4,25 Milliarden Euro). Das führt dazu, dass der Anteil der Altaktionäre verwässert wird.
- Drittens. Laut dem Finanznachrichtendienst Bloomberg hat der bisher größte Tesla-Aktionär, Baillie Gifford, Papiere abgestoßen.
- Viertens. Auch die Konkurrenz schläft nicht: Am Dienstag wurde eine strategische Partnerschaft des Tesla-Herausforderers Nikola mit dem US-Branchenriesen GM bekannt gegeben. Die Aktien von Nikola schossen am Abend um 40 Prozent nach oben.
Gut so: Der Börsenstar wird einem Realitätscheck unterzogen. Um die hohen Erwartungen zu erfüllen, so ein Analyst, müsste Elon Musk mittlerweile ein Ufo in unserem Vorgarten landen lassen.
Huawei auf schwarze Liste gesetzt
Huawei und viele mit dem Konzern verbundene Unternehmen wurden von der US-Regierung auf eine schwarze Liste gesetzt, um den Zugang der Chinesen zu Technologie aus den USA abzuschneiden.
US-Präsident Donald Trump wirft Huawei Spionage und eine unangemessene Nähe zur Kommunistischen Partei Chinas vor.
Nichtsdestotrotz hat der Technologie-Konzern nun eine Reihe von neuen Produkten angekündigt, die auch Technologie aus den USA enthalten - unter anderem Notebook-Modelle, Smartwatches und Kopfhörer.
- Huawei darf in seinen neuen Geräten nicht mehr das Android-Betriebssystem mit Google-Diensten verwenden. Die Chinesen wichen daraufhin auf die Open-Source-Version von Android aus und stellen inzwischen mit den selbst entwickelten Huawei Mobile Services einen fast vollständigen Ersatz für die Google-Dienste bereit.
- Gleichzeitig kündigte der Konzern in Dongguan eine chinesische App-Allianz an, mit der die Vermarktung von Anwendungen aus China im Ausland jenseits der App-Stores von Apple und Google gefördert werden soll.
- Bei den neuen Notebooks kommt trotz des US-Embargos Technik aus den USA zum Einsatz, zum Beispiel ein Chip von AMD aus Kalifornien und ein Prozessor des US-Chipgiganten Intel.
Fazit: Der amerikanische Präsident ist stark, aber nicht allmächtig. China wird durch seine aggressive Abgrenzungspolitik getroffen, aber nicht geschlagen.
Der große Alarm fällt aus
Die Bundesstadt Bonn scheint ein Biotop für nicht funktionierende Behörden zu sein. Nicht nur die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die in der Wirecard-Affäre so kläglich versagte, hat dort ihren Hauptsitz, auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) unterhält dort seine Zentrale.
Der große Alarm, der die technische Bereitschaft der Bundesrepublik für den nationalen Katastrophenfall simulieren sollte, fiel aus. Der Staat hat sich blamiert. Wenn es einen Oscar für Schlafmützigkeit gäbe, würden sich die BaFin und das BBK ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern.
Die Entscheidung, wer die begehrte Trophäe erhält, fällt im September 2021: Dann ist der nächste nationale Warntag.
"Kunst ist systemrelevant"
Neben Chelsea Spieker, die den Abend moderierte, war auch der Ex-Chefredakteur der "Financial Times Deutschland" und der "Welt am Sonntag" und heutige Geschäftsführer der Firma Hy Christoph Keese auf der PioneerOne zu Gast.
In einer munteren Diskussion schlugen wir gemeinsam mit den Zuschauerinnen und Zuschauern den Bogen von der Pandemie über den Herdentrieb der Journalisten bis zur Digitalisierung. Christoph Keese blickte skeptisch auf das Modernisierungstempo in Deutschland:
Über das Investitionsverhalten der Deutschen urteilt er:
Auch der Zustand der deutschen Wirtschaft in Gänze bereitet ihm Sorgen:
Über den Stand der Digitalisierung bei der Bildung sagt der Experte:
"Es sieht so aus, dass die föderale Verfassung des Bildungssystems die Digitalisierung nicht hinbekommt."
Zu Gast war auch die Künstlerin Mia Florentine Weiss. Sie hat eine viel beachtete Skulptur erschaffen, die mit den Worten "Hate" und "Love" spielt. Stellvertretend für alle Künstlerinnen und Künstler kritisierte sie die Corona-Politik der Regierung und machte deutlich:
Ich wünsche Ihnen einen glücklichen Start in das Wochenende. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr
Gabor Steingart