Bundeskanzler Friedrich Merz und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann kritisieren die vermeintlich fehlende Leistungsbereitschaft der Deutschen. Am Sonntagabend diskutierte Caren Miosga deshalb die Frage, ob wir für unseren Wohlstand wirklich mehr arbeiten müssen. Ein Abend voller Polemik und Ausflüchte – aber auch einigen Erkenntnissen.

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Das wichtigste Mittel, um bessere Laune bei den Menschen zu schaffen und gleichzeitig all die Ausgaben zu finanzieren, sei, die Wirtschaft anzukurbeln. Das behauptete Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) vor, in und nach dem Wahlkampf. Am Sonntagabend kam das Thema bei Caren Miosga nun in Form von angeblich fehlender Leistungsbereitschaft auf den Tisch.

Das ist das Thema der Runde

Die deutsche Wirtschaft läuft alles andere als geschmiert, die Bürokratie ist enorm, Experten drängen auf Reformen und jetzt fordern Bundeskanzler Merz und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann mehr Leistungsbereitschaft von den Bürgern. "Müssen wir für unseren Wohlstand mehr arbeiten?", fragte Caren Miosga dementsprechend ihre Gäste am Sonntagabend. Mehr Arbeit also mehr Wohlstand und mehr Wohlstand ein besseres Leben – ist die Rechnung wirklich so einfach?

Das sind die Gäste

  • Carsten Linnemann (CDU): Der Generalsekretär der CDU antwortet auf die Frage, wer denn genau zu wenig arbeite: "Zum Beispiel Rentner in Deutschland. Dafür wollen wir eine Aktiv-Rente schaffen. Wir wollen sie nicht zwingen zu arbeiten, sondern wir wollen sagen: Die Arbeitsstunden insgesamt sind zu wenig in Deutschland und wir wollen die ersten 2.000 Euro im Monat allen Rentnern in Deutschland, möglichst ab dem 1. Januar 2026, steuerfrei stellen."
  • Christiane Benner: Sie ist Erste Vorsitzende der IG Metall. Sie sagt zur angeblich fehlenden Leistungsbreitschaft in Deutschland: "Ich erfahre das wirklich anders und vor allem erfahre ich im Moment eine ganz große Wut bei unseren Beschäftigten und auch bei unseren Mitgliedern. Wir haben im Moment in Deutschland über eine Milliarde Überstunden, die geleistet werden und davon die Hälfte unbezahlt.“ Daher sei es ein Hohn, zu behaupten, die Menschen seien nicht leistungsbereit.
  • Moritz Schularick: Der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft erklärt, im internationalen Vergleich werde in Deutschland tatsächlich weniger gearbeitet. So arbeite man in Polen etwa 30 Prozent mehr, bezogen auf die Pro-Kopf-Arbeitsstunden der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Für Schularick sind vor allem Arbeitsanreize ein Schlüssel: "Wenn wir uns alle überlegen: Arbeite ich jetzt noch eine Stunde oder drei oder fünf mehr – das muss sich lohnen und je mehr sich das lohnt, umso mehr Leute werden das tun."

Der Schlagabtausch des Abends

"Wen meinen Sie, wenn sie das sagen?", fragt Caren Miosga Carsten Linnemann zu dessen Behauptung, es gebe "gar keine Leistungsbereitschaft mehr". Es gebe 46 Millionen Erwerbstätige, die jeden Tag "arbeiten ohne Ende", das Gefühl hätten, es bliebe nichts übrig und gleichzeitig sehen, dass es Zehntausende gebe, "die das Sozialsystem ausnutzen", beginnt Linnemann. Doch was nach einer Antwort klingt, ist nur eine Ablenkung – die Miosga aber durchschaut: "Jetzt reden Sie über Bürgergeldbezieher."

Nun verweist Linnemann auf die Erzählung Merz’, man könne sich die Forderung mancher Gewerkschaft nach einer Viertagewoche nicht leisten. Danach erklärt Linnemann plötzlich, die Leistungsbereitschaft sei da, aber die Abgaben so hoch, dass sich diese Leistung nicht mehr lohne. "Das verstehe ich nicht. Das ist eine Bürgergeld-Diskussion und das andere ist eine Arbeitsmoral-Diskussion", ertappt Miosga Linnemann erneut, der versucht, von seiner Behauptung abzulenken, es gebe keine Leistungsbereitschaft mehr. Erst als Miosga zum dritten Mal nachfragt, wer denn genau zu wenig arbeite, kommt von Linnemann die Antwort: "Zum Beispiel die Rentner."

Trotzdem macht Linnemann wenig später noch einmal dieselbe Diskussion auf, er meine mit der fehlenden Leistungsbereitschaft ja nicht alle, sondern nur diejenigen, die das Bürgergeld ausnutzten. Da wird Miosga ganz klar: "Die Strategie fällt auf: Sie hauen so eine Provokation raus und anschließend sagen Sie: Nein, ich mein ja gar nicht die, die fleißig sind, sondern ich mein die Bürgergeld-Empfänger."

Da rudert Linnemann plötzlich zurück: "Wenn das so ist, haben Sie einen Punkt." Es ist schwer vorstellbar, dass erfahrene Redner wie Merz und Linnemann nicht genau wissen, wie sie das, was sie meinen, auch so formulieren, dass man genau das versteht und nichts anderes.

Das ist die Offenbarung

Moritz Schularick gibt an diesem Abend Linnemanns Behauptung recht, was die blanke Arbeitsstundenanzahl anbelangt und Christiane Benner, was die Gründe, wie hohe Teilzeit durch fehlende Kinderbetreuung, anbelangt. Die Pläne der Koalition einer Aktivrente, einer flexiblen Wochenarbeitszeit und von steuerfreien Überstundenzuschlägen befürwortet Schularick, man solle aber noch die Abschaffung des Ehegattensplittings drauflegen und die Kinderbetreuung verbessern.

Gleichzeitig sagt Schularick aber, selbst wenn man all das gut mache, "werden wir trotzdem nur dann Raum im Haushalt für Entlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finden, wenn wir an das rangehen, über das am liebsten keiner sprechen möchte, nämlich die Rentenreform. Knapp ein Drittel der Steuereinnahmen des Bundes geht in diverse Zuschüsse zur Rentenversicherung. Was muss man noch wissen über die Zukunftsorientierung dieses Landes als diese Statistik?"

Das sind die Erkenntnisse

Müssen wir für unseren Wohlstand mehr arbeiten, wollte Miosga wissen und die Antwort lautet an diesem Abend "Ja, aber". Das "Ja" bezieht sich dabei auf den internationalen Vergleich, bei dem Moritz Schularick eine Unwucht zu Ungunsten Deutschlands attestiert. Das "aber" hingegen ist ein wenig umfassender und es ist Christiane Benner und auch Caren Miosga zu verdanken, dass dieses "aber" nicht untergegangen ist. Denn hinter dem "aber" verbergen sich die wahren Gründe der geringen Pro-Kopf-Arbeitszeit und damit auch die Lösungen.

So arbeiten Menschen zum Bespiel deshalb weniger, weil es zu wenig Betreuungsmöglichkeiten für Kinder gibt oder weil sie wegen zu wenig Pflegekräften ihre Angehörigen selbst pflegen müssen. Oder weil sie wegen zu viel, zu sinnloser oder zu ungesunder Arbeit krankgeschrieben werden. Das sagen auch die drei Frauen, die in einem kurzen Einspieler die Aussagen von Merz und Linnemann mit der Realität bereichern.

Realitätscheck für Merz und Linnemann

So erklärt etwa eine Krankenpflegerin, sie habe derzeit bereits 49 Überstunden angesammelt, eine 40-Stunden-Woche sei für sie rein gesundheitlich keine Option. Sie sagt: "Diese Sprechweise von Herrn Merz löst bei mir wirklich große Wut aus, weil er offensichtlich nicht die Realität von den arbeitenden Menschen widerspiegeln kann." Für eine andere Frau löst das Gerede von längeren Arbeitszeiten Unverständnis aus: "Für mich ist mehr arbeiten nicht gleich effektiver arbeiten. Wenn ich effektiver, effizienter arbeite, dann heißt das für mich: Ich schaffe meine Arbeit vielleicht sogar in weniger Stunden."

Es sind Sätze wie diese, die sehr viel Luft aus den Aussagen und Behauptungen von Friedrich Merz und Carsten Linnemann lassen. Gleichzeitig liefert der Abend auch Erkenntnisse durch Sätze, die nicht gesagt und Fragen, die nicht gestellt wurden. So fragt Miosga Linnemann zwar, wen er den genau mit mangelnder Leistungsbereitschaft meine, aber nicht, wen er nicht meint. Denn Merz und Linnemann meinen damit natürlich nicht sich, ihre Wähler oder ihre Unionskollegen, sondern immer nur die anderen.

Das ist ebenso herablassend wie Verwirrung stiftend und man kann bei so einer Polemik ja auch mal fragen: Wem nutzt es denn wirklich, wenn Arbeiter noch längere Schichten schieben? Wessen Wohlstand wird da erhalten und gefördert, der des Arbeiters oder der des Unternehmers? In ähnlicher Richtung äußerte sich Schularick bei der Frage nach den Anreizen für mehr Arbeit. Dann wird aus der Polemik der "fehlenden Leistungsbreitschaft" nämlich ganz schnell eine fehlende Bereitschaft zu Anreizen – ein himmelweiter Unterschied.

Was ist Wohlstand?

Das Hauptproblem an diesem Abend ist aber, dass der Begriff "Wohlstand" überhaupt nicht definiert wurde. Eine genaue Definition wäre aber dringend nötig, denn vielleicht ist Wohlstand ja genau diese angeblich nicht leistbare Viertagewoche – wenn man sich im Gegenzug dafür keinen SUV in die Einfahrt stellt. Vielleicht ist Wohlstand ja auch, mehr Zeit zu haben, auf sich zu achten oder im Ehrenamt auf andere.

Stattdessen wird Wohlstand in Linnemanns und Merz’ Forderungen immer als materieller Wohlstand definiert. Und ja, bei den Wachstumsraten der vergangenen Jahrzehnte hat man eine Menge materiellen Wohlstand generiert – zumindest für einen Teil der Bevölkerung – aber eben auch erschöpfte Menschen, erschöpfte Ressourcen und einen völlig erschöpften Planeten. Ist das der Wohlstand, nach dem man streben soll?

Gleichzeitig reduziert Linnemann mit seiner Forderung die Einflussfaktoren auf Wohlstand auf Leistungsbereitschaft in Form von aufgewendeter Arbeitszeit. Das ist im besten Fall kurzsichtig, im schlimmsten Fall voller Eigennutz. Blickt man nämlich auf andere Faktoren, die Wohlstand ebenfalls beeinträchtigen, wie zum Beispiel eine zerstörte Umwelt, eine ungerechte Einkommensverteilung, Populismus oder mangelnde Kinderbetreuung, dann leistet plötzlich nicht mehr der vermeintlich faule Bürger zu wenig, sondern untätige und polemische Politik.

Teaserbild: © NDR/Claudius Pflug