In Deutschland macht sich bei vielen Menschen immer mehr das Gefühl breit, dass ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt sei. Bei "Markus Lanz" lieferte sich Ex-Grünen-Politiker Boris Palmer ein hitziges Wortgefecht mit Neurowissenschaftlerin Maren Urner, die bei der Debatte von einem Ablenkungsmanöver sprach. Auch Journalist Ulf Poschardt legte sich deshalb verbal mit der Expertin an.

Eine TV-Nachlese
Diese TV-Nachlese gibt die persönliche Sicht von Natascha Wittmann auf die Debatte und den Auftritt der Gäste wieder. Sie basiert auf eigenen Eindrücken und ordnet das Geschehen journalistisch ein. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Das Thema der Runde

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"Wo sind die Grenzen von Meinungsfreiheit?", wollte Markus Lanz in seiner Sendung am Mittwochabend wissen. Dabei offenbarte der ZDF-Moderator, dass FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann in nur anderthalb Jahren knapp 2.000 Strafanzeigen wegen Beleidigungen gestellt habe. "Habeck 800, Baerbock 500", so Lanz. Diese Zahlen nahm er zum Anlass, um über den Zustand der deutschen Demokratie und das Gefühl vieler Menschen zu debattieren, dass man nicht mehr frei seine Meinung äußern könne, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Markus Lanz, Renate Künast, Boris Palmer, Maren Urner, Ulf Poschardt.
Es diskutierten bei "Markus Lanz": Renate Künast, Boris Palmer, Maren Urner und Ulf Poschardt. © ZDF/Markus Hertrich

Die Gäste

  • Ex-Grünen-Politiker Boris Palmer äußert sich zur Debatte um eine Verengung des Meinungskorridors: "Wir haben in den Augen der Leute ein Repressionsklima gegenüber abweichenden Meinungen geschaffen."
  • Grünen-Politikerin Renate Künast warnt vor dem Einfluss sozialer Medien im Bereich der Meinungsfreiheit: "Viel Hass und Aggression und böses Gerede führt dazu, dass es mehr Klicks gibt."
  • "Welt"-Herausgeber Ulf Poschardt sieht Anzeigen-Welle von Politikerin kritisch: "Wenn das mit der Meinungsfreiheit irgendwann nicht mehr funktioniert, dann rüttelt das wirklich an den Grundfesten unserer Gesellschaft und Demokratie."
  • Neurowissenschaftlerin Maren Urner warnt vor Fake News in den sozialen Medien: "Jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten."

Das Wortgefecht

In seiner Sendung bezog sich Markus Lanz unter anderem auf eine bereits 2023 veröffentlichte Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Medienforschungsinstituts Media Tenor, wonach knapp 60 Prozent der Menschen in Deutschland das Gefühl haben, nicht mehr frei ihre Meinung äußern zu können. "Sind wir dünnhäutiger geworden?", wollte der ZDF-Moderator wissen. Neurowissenschaftlerin Maren Urner schüttelte entschieden mit dem Kopf und behauptete, dass das Gefühl eines verengten Meinungskorridors nur deshalb entstanden sei, da ständig über das Thema in der Öffentlichkeit diskutiert werde. "Das ist eine Ablenkungsstrategie", so Urner.

Lanz stutzte: "Sie halten das alles für Ablenkung?" Urner nickte und warnte vor einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Gerade deshalb sei es "absolut zentral", zu erkennen, "dass dieses Gefühl in der Bevölkerung herrscht". Ein Argument, das nicht nur "Welt"-Herausgeber Ulf Poschardt, sondern auch Ex-Grünen-Politiker Boris Palmer sichtlich irritierte. "Ich bin nicht mehr bei meiner Partei wegen dieser Sprach-Jakobiner", so Palmer.

Maren Urner, Boris Palmer
In der Debatte mit Neurowissenschaftlerin Maren Urner stellt Boris Palmer klar: "Ihre These ist absurd!" © ZDF / Markus Hertrich

Als Urner konterte, dass dies lediglich ein persönliches Erlebnis, jedoch kein empirischer Beleg sei, ergänzte der Politiker energisch: "Bei Ihnen war gar nichts empirisch! Der Beleg für diese These, dass es eine Weltverschwörung gibt, die ablenken will, (...) das ist doch absurd. Ihre These ist absurd!"

Als die Neurowissenschaftlerin dagegen hielt, wetterte Palmer weiter: "Wer soll denn diese Ablenkung organisieren? Diese Meinungsfreiheits-Problematik existiert auf der Straße in Deutschland. Ich habe sie erlebt, Ulf Poschardt hat sie erlebt. Ich lasse mir doch jetzt nicht einreden, dass ich hier irgendwie eine Marionette bin!" Maren Urner versuchte daraufhin, erneut ihren Standpunkt zu erklären und sagte: "Die Idee, dass Menschen ein Gefühl bekommen, liegt meistens daran, dass sie einer bestimmten Umgebung ausgesetzt sind."

Maren Urner, Ulf Poschardt
Neurowissenschaftlerin Maren Urner und "Welt"-Herausgeber Ulf Poschardt geraten in der Sendung aneinander, als es um die Behauptung geht, die Meinungsfreiheits-Debatte sei nur eine Ablenkung. © ZDF / Markus Hertrich

Journalist Ulf Poschardt stichelte daraufhin gegen die Neurowissenschaftlerin und sagte: "Ich habe Sie immer noch nicht so richtig verstanden - ist vielleicht auch gar nicht so wichtig." Ein Satz, der Urner übel aufzustoßen schien: "Kommt darauf an, was Ihr Ziel ist: Ob wir uns unterhalten wollen, oder ob Sie mit Begriffen (...) Menschen auf Ihre Art und Weise beeinflussen möchten? (...) Möchten Sie einen Diskurs?" Poschardt antwortete nüchtern: "Ich würde gerne ausreden, damit fängt nämlich Diskurs an!"

Der ehemalige Chefredakteur und aktuelle Herausgeber der "Welt" verglich Urners Argumentation mit "halbschlauen Ableitungen". Zeitgleich kritisierte er die "Anzeige-Kultur" in Deutschland und warnte: "Wenn wir das Thema nicht ernst nehmen, dann fliegt uns eine Gesellschaft um die Ohren!"

Die Offenbarung des Abends

Grünen-Politikerin Renate Künast sah die Behauptung, man dürfe nicht mehr alles sagen, durchaus kritisch. Sie merkte an: "Mein Eindruck ist, dass das eigentlich bewusst eingesetzt wird, um politisch bestimmte Meinungen unmöglich zu machen." Besonders seit dem Aufstieg sozialer Medien sei dies für Menschen wie Elon Musk und Mark Zuckerberg "ein Geschäftsmodell" geworden. "Wir wissen ja, dass viel Hass und Aggression und böses Gerede dazu führt, dass es mehr Klicks gibt, dass mehr Werbung geschaltet wird", so Künast.

Renate Künast
Grünen-Politikerin Renate Künast sieht die sozialen Medien als einen der Haupttreiber für den generellen Anstieg von Hetze und Hass. © ZDF / Markus Hertrich

Grund genug für Markus Lanz, nochmals nachzuhaken, ob es in Wahrheit also "gar keine Meinungsfreiheit" gebe. Immerhin hätten nur noch 40 Prozent der Deutschen das Gefühl, alles frei äußern zu können. Eine Zahl, die Ulf Poschardt als "ein Desaster" bezeichnete. "Wir haben ein Problem mit Meinungsfreiheit in Europa", stellte der Journalist klar.

Mit Blick auf Renate Künast ergänzte Poschardt, dass der Begriff "links-grün-versifft" zur Meinungsfreiheit gehöre: "Das müssen Sie schon aushalten!" Poschardt wetterte weiter: "Dass die Politiker so dünnhäutig geworden sind, finde ich problematisch. Und wir müssen uns überlegen, wenn wir diese Zahlen sehen, ob wir so weitermachen." Laut des libertären "Welt"-Herausgebers müsse man "den Rahmen für Freiheit denkbar weit ziehen".

Lanz stimmte in gewissen Teilen zu und erinnerte daran, dass Angela Merkel in 16 Jahren Amtszeit "nicht ein einziges Mal irgendwann mal jemanden angezeigt" habe. Ein Argument, das Künast nicht überzeugen konnte, denn: "Wer weiß, was sie heute tun würde. Die Zeiten haben sich geändert." Poschardt schüttelte entschieden mit dem Kopf: "Nein, ich glaube, Angela Merkel hatte ein gutes Verständnis. (...) Wenn man die mächtigste Frau im Lande ist, muss man robust sein."

Renate Künast warnte dennoch davor, dass es "in rechtsextremen Kreisen (...) systematisch eingesetzt" werde, "Menschen - auch gezielt Einzelne - immer wieder zu beleidigen". Ulf Poschardt ergänzte: "Bei Linksradikalen übrigens ganz genau so, kann ich aus eigener Erfahrung sagen." Boris Palmer nickte zustimmend: "Es kommt darauf an, dass die simple Benutzung eines Wortes bereits ausreichen kann, um politisch komplett ins Abseits gestellt zu werden."

Er halte die Umfrage zur Meinungsfreiheit in Deutschland daher "für zutreffend", da sie "meiner eigenen Lebenswahrnehmung der letzten 15 Jahre" entspreche. Palmer fügte gleichzeitig mit sorgenvollem Blick hinzu: "Es gibt wirklich eine Aggressivität auch gegenüber ehrenamtlichen Kommunalpolitikern, die unerträglich ist. Und das muss einmal hier auch gesagt sein. Da geht Meinungsfreiheit entschieden zu weit!"

Der Erkenntnisgewinn

Während der hitzigen Debatte fiel es den Gästen bei "Markus Lanz" schwer, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Neurowissenschaftlerin Maren Urner mahnte dabei mehrmals: "Jeder Mensch hat ein Recht auf eine eigene Meinung, aber eben nicht ein Recht auf eigene Fakten." Ein Argument, dem Ulf Poschardt nicht viel abgewinnen konnte: "Diese Art von Dünnhäutigkeit, wie wir sie im Augenblick haben, halte ich für ein großes Problem."

Auch Boris Palmer sah das aktuelle Klima in der Gesellschaft kritisch, denn: "Die Rechtsextremen profitieren davon, wenn wir in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr miteinander sprechen können." Gerade deshalb erinnerte der Ex-Grünen-Politiker daran: "Es gibt keinen Staat, der hier die Meinungsfreiheit einschränkt - zum Glück." Und auch Lanz stellte nach der Sendung schmunzelnd fest: "Wir haben immer noch eine sehr lebendige Demokratie."  © 1&1 Mail & Media/teleschau

Teaserbild: © ZDF / Markus Hertrich