Auch im Kriegsgebiet bleibt Schönheit ein Bedürfnis. In Pokrowsk schneiden Friseure weiter Haare, pflegen Nageldesignerinnen noch immer die Nägel von Frauen - trotz ständiger Raketenangriffe. Larisa und Yana erzählen, wie sie Soldaten und Zivilisten ein Stück Normalität schenken.
Schönheit ist Wahrheit, heißt es oft in der Philosophie. Und wie es aussieht, streben wir alle nach ihr. Selbst wenn wir uns um Fragen der eigenen Existenz winden. In der ukrainischen Stadt Pokrowsk etwa, wo täglich Raketen einschlagen, es kaum Strom oder Gas und Wasser gibt, an deren Stadtgrenze Gräueltat um Gräueltat begangen wird - strebt man auch hier nach ihr? Nach Schönheit.
Larisa steht in ihrem Salon in der Innenstadt von Pokrowsk. Fast schon presst sie sich an die Eingangstür, um das wenige Tageslicht nutzen zu können, das durch die Glasscheibe dringt. Ein Foto von ihrem Gesicht oder auch den Nachnamen will die Frau nicht veröffentlicht sehen. Zu groß ist die Angst vor dem Zorn russischer Soldaten - sollten sie denn irgendwann die Stadt einnehmen.
Vor Larisa sitzt ein junger Soldat und lässt sich von der 52-Jährigen die Haare kurz rasieren. "Jeder will schön sein", wird Larisa später sagen. Vor allem die Soldaten nutzen ihren Service, erzählt sie. Die Schere kann sie nur selten nutzen. "Ich kann ja oft nicht sehen, was ich mache", sagt Larisa. Aber der Strom hin und wieder funktioniere, ja - dann könne sie jegliche Art von Frisur schneiden.
Mehr als ein Luxusgut in Pokrowsk
Russische Truppen sind keine zehn Kilometer von der Grenze der Stadt entfernt. Pokrowsk gilt derzeit als Hauptangriffsziel von Putins Armee. Die Geräusche der Kämpfe sind an diesem Tag im November deutlich hörbar. Noch deutlicher als sonst, wie Larisa erzählt. Selbst aus dem Stadtkern schießen ukrainische Truppen Artilleriegeschosse in Richtung Süden. Dorthin, wo die Kämpfe stattfinden. Immer wieder knallt es, vibriert leicht der Boden, zucken die Straßenhunde auf dem Fußgängerweg vor dem Salon zusammen. Manchmal ist gar das Rauschen der Raketen zu hören, die sich gerade ihren Weg zur Front bahnen.
Geboren ist Larisa in der südöstlich gelegenen ukrainischen Stadt Mariupol. "Im Geburtshaus 3", sagt sie. Jenes Krankenhaus, das im Jahr 2022 von Moskaus Soldaten mit Raketen beschossen wurde. Zu wissen, was dort passiert ist - es schmerzt sie. Die Belagerung ihrer Heimatstadt, die vielen zivilen Opfer, die Massengräber, die Zerstörung, die jetzige Besatzung.
"Ich hatte dort viele Verwandte - drei Monate lang hatte ich keinen Kontakt zu ihnen, wusste nicht, ob sie noch leben oder nicht", berichtet sie und neigt ihren Kopf. Die Augen röten sich, werden glasig, feucht. Sie wischt sich zitternd mit den Händen über die Augen. "Einige sind gestorben, andere verschwunden. Ein paar Neffen sind nach Europa ausgewandert." Die Friseurin kam als Kind nach Pokrowsk. Es war immer ihr Traum gewesen, irgendwann nach Mariupol zurückzukehren.
Jetzt ist es auch in ihrer neuen Heimatstadt so weit, dass Menschen fliehen. Dass auch sie dazu aufgefordert wird. Doch Larisa will bleiben. "Ich habe meine Mutter hier begraben", sagt sie. Sie wird Mama nicht zurücklassen, das ist ihr wichtig. Auch ihr Vater wird nicht gehen, allein das, meint sie, zwingt sie zum Bleiben. Er muss ja irgendwann gepflegt werden. Und außerdem gibt es noch Arbeit. Die Soldaten, die Polizisten. Und auch Privatleute kommen regelmäßig, um sich die Haare machen zu lassen - obwohl sie es sich kaum noch leisten könnten.
"Jeder will schön sein - auch hier", sagt Larisa sanft. Es ist diese einfache Erkenntnis. Diese Feststellung, dass inmitten von Zerstörung und Sorge das Bedürfnis nach Schönheit nicht an Bedeutung verliert. Dass dies kein einfaches Luxusgut ist, sondern der Erhalt von Würde. Männer, die töten. Männer, die aber auch leben.
Und es ist nicht nur das äußere Erscheinungsbild, das eine Rolle spielt. "Für die Jungs, die an der Front sind, ist es einfacher mit einem kurzen Haarschnitt. Es ist hygienischer", erklärt Larisa. Denn wenn die Männer tagelang in ihren Positionen feststecken - ohne Wasser, ohne irgendwelche Sanitäranlagen -, könnten sie sich mal schnell mit einem Feuchttuch reinigen.
Nicht jeder Soldat schafft es, sich rechtzeitig die Haare schneiden zu lassen, sagt die Friseurin: "Manchmal kommen sie wie zugewachsene Bären zu mir. Dann dauert es ein bisschen länger." Larisa wirkt belustigt. "Es gibt aber auch solche und solche - Männer mit langen Haaren und Bärten. Mit riesigen Bärten, die man dann zähmen muss." Die Frau mit den langen, dunkelbraunen Haaren lacht laut auf, stützt ihre Wangen auf der Handfläche ab. "Manche Jungs kommen und haben Erdbrocken in den Haaren und Bärten." Sie wirkt fast ein bisschen mütterlich.
Bevor sich die Situation an den Stadtgrenzen so sehr verschlechtert hatte, seien die Soldaten aus ihren Positionen gekommen, um sich bei ihr zu entspannen. Sie hätten sich über mehrere Tage freigenommen, nahmen ein Bad, verbrachten Zeit hier, um herunterzukommen. Heute kommen sie kurzfristig, sagen hin und wieder ab, weil sie doch wieder auf Missionen geschickt werden.
Schönheit ist Alltag
Warum ist Schönheit noch immer von Bedeutung in Pokrowsk? Warum ist das Streben nach einem Friseurbesuch auch im Krieg eine Priorität für die Menschen, die geblieben sind? Und das, obwohl das Geld immer knapper wird? Die Antwort auf diese Fragen liegt nicht in einer romantisierten Vorstellung von Schönheit. Es geht nicht um Eitelkeit oder Ablenkung. Schönheit ist hier ein Stück Alltag. Und Alltag ist den Einwohnerinnen und Einwohnern zufolge eigentlich noch möglich. Schönheit im Kriegsalltag ist auch ein Stück Wahrheit. Selbst wenn man sich diese ein wenig zurechtbiegen muss.
Denn dass alles noch seinen geregelten Lauf nehmen könnte - das ist weit von dem entfernt, was sich tatsächlich in Pokrowsk abspielt. Auch die Soldaten fragten sich, warum sie Pokrowsk überhaupt noch verteidigen müssten - der Fall der Stadt, heißt es zumindest unter Einwohnerinnen und Einwohnern, ist doch eh schon sicher.
Yana kennt diese Gespräche gut, sie führt sie selbst regelmäßig. Die 37-Jährige ist Nageldesignerin, zweifache Mutter und eigentlich ja gar nicht an Politik interessiert. Das sagt sie zumindest. Trotzdem habe sie die Wahlen in den USA gespannt verfolgt - denn der designierte US-Präsident
Ihre zwei Töchter habe sie mit ihrer Mutter rausgeschickt. Yana und ihr Mann bleiben hier. Wegen ihm, wie sie sagt, denn er arbeitet in den Minen. "Das ist einer der wenigen Berufe hier im Land, mit denen man noch wirklich Geld verdienen und seine Familie versorgen kann." Ihm bleibe nur noch ein Jahr bis zu seiner Minenrente. "Deshalb: Solange es noch möglich ist, hier zu leben, bleiben wir. Um eine Zukunft für die Kinder zu schaffen."
Yana nimmt sich genau zehn Minuten Zeit für ein Gespräch. Zwischen zwei Kundinnen, sie hat zu tun. Dass sie einmal Nageldesignerin wird, damit hatte sie nicht gerechnet. Nach der Schule ging die junge Frau in die - heute besetzte - Stadt Donezk. Studierte Physik-Ingenieurwesen. "Aber in unserem Land gibt es in diesem Beruf kaum Arbeitsplätze - also habe ich mich entschieden, ein Dienstleistungsunternehmen zu gründen." Damit komme man in der Ukraine immer über die Runden. Selbst hier.
Viele ihrer ehemaligen Kundinnen haben die Stadt verlassen. Stattdessen seien aber auch viele neue Kundinnen dazugekommen. Sie schiebt sich die Ärmel ein Stück nach oben, ein Tattoo blitzt hervor. Ihre Nägel: rosa, lang und rund gefeilt. "Wenn ich ehrlich bin, habe ich momentan mehr Kundinnen als gewöhnlich."
Offiziell leben in der Stadt noch 11.000 Menschen - das sind zumindest die aktuellen Zahlen der Stadtverwaltung. "Aber in Wirklichkeit sind das viel mehr", sagt Yana. Eine Anfrage unserer Redaktion ließ die Stadtverwaltung von Pokrowsk unbeantwortet. Die Straßen der Stadt sind an diesem Tag hingegen fast leer. Hin und wieder geht ein Fußgänger seines Weges. Von Einschlägen in der Ferne und Abschüssen aus der Nähe fast unberührt.
Und im Hintergrund knallt es
Wenn im Ausland über Pokrowsk und die Front im Südosten berichtet wird, zeichnet sich schnell das Bild eines Endzeitfilms. Zerstörte Häuser und Brücken, Blindgänger und Löcher von Raketeneinschlägen in den Straßen. Kaum mehr freie Fahrt, ein Leben im Keller.
Wie es in anderen ukrainischen Städten und Dörfern tatsächlich der Fall war und ist. Bachmut, Lyssytschansk, Sjewjerodonezk, Siwersk. Für Menschen im Ausland ist auch Pokrowsk eine solche, eine komplett zerstörte Stadt. Auch wenn sie eine der derzeit umkämpftesten Städte dieses Krieges ist: Ganz so tragisch ist es hier noch nicht.
Auf diese Wahrnehmung angesprochen, reagiert Yana ungläubig. Belustigt. Mit aufgerissenen Augen schaut sie um sich herum, zeigt auf die Gebäude in der Straße, die weder zerstört noch beschädigt sind: "Also ich lebe noch ganz normal in meiner Wohnung, hier funktioniert doch noch alles", sagt sie. Und im Hintergrund knallt es.
Die Menschen, sagt sie, leben im Hier und Jetzt. "Sie leben weiterhin ihr ganz normales Leben. Alles hat noch geöffnet. Die Supermärkte, andere Märkte, die Minen - die Zeit ist hier nicht stehen geblieben." Und die Menschen möchten, wenn sie in den Geschäften sind, natürlich auch schöne Nägel haben - so sieht es die 37-Jährige. Und ihr Auftragsbuch gibt ihr offenbar recht.
Larisa und Yana - Frauen, die Schönheit anbieten. Eine Art Widerstand gegen die Welt, die immer weniger nach einem Ort für das Alltägliche aussieht. Schönheit ist in dieser Hinsicht eine kleine Form von Normalität.
Verwendete Quellen
- Recherche vor Ort
- Gespräche Larisa und Yana
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