• Putin hat nicht nur mit den Säbeln gerasselt, sondern seine Drohungen wahrgemacht: In der Nacht zu Donnerstag hat er die Ukraine überfallen.
  • Im Westen zeigten sich viele angesichts der Brutalität und Entschlossenheit des Kreml-Chefs überrascht.
  • Wenige Tage zuvor hatte sich Putin noch gesprächsbereit gegeben, die EU wollte ihn mit Diplomatie zum Einlenken bewegen. Wie konnte es zu einer derartigen Fehleinschätzung kommen? Experten geben teils überraschende Antworten.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. der zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Mehr News zum Krieg in der Ukraine

Es war kein bloßes Säbelrasseln – Putin hat seine Drohungen wahrgemacht. Seit dem frühen Donnerstagmorgen (24.2.2022) meldeten die ukrainischen Behörden Angriffe auf ihr Land von allen Seiten. Inzwischen sind die ersten russischen Einheiten bis nach Kiew vorgedrungen, strategisch wichtige Ziele im gesamten Land wurden bereits eingenommen.

Mehr News zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier

Der Westen konnte die Eskalation im Russland-Ukraine-Konflikt nicht verhindern. Mindestens in seiner Entschlossenheit und Brutalität hat er den Kreml-Chef unterschätzt. Kurz vor seiner militärischen Invasion hatte Putin in einer Fernsehansprache angekündigt, die Ukraine zu "demilitarisieren" und "entnazifizieren". Die diplomatischen Gespräche mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) waren da erst wenige Tage alt.

Fehleinschätzung offensichtlich

Für den Westen wird nun eine grundlegende Neubewertung der sicherheitspolitischen Lage und dem Verhältnis zu Russland geboten sein. Aber schon vorher stellt sich die Frage: Wie konnte es im Vorfeld überhaupt zu einer derartigen Fehleinschätzung der Lage kommen? Schließlich zeigten sich selbst Nato-Offiziere von Putins Vorgehen überrascht. Auch in der Ukraine selbst hatten viele Menschen bis zuletzt nicht an Angriffe außerhalb der umkämpften Donbass-Region geglaubt.

Timm Beichelt ist Experte für Europapolitik. Er sagt: "Ein wichtiger Grund für die Fehleinschätzungen hinsichtlich des russischen Vorgehens liegt darin, dass Russland eine Reihe internationaler Verträge unterzeichnet hat, die das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine explizit anerkennen".

Lesen Sie auch: Alle aktuellen Informationen rund um Russlands Krieg gegen die Ukraine in unserem Live-Blog

Nicht mit Vertragsbruch gerechnet

Viele hätten nicht damit gerechnet, dass Russland als Staat, der ein wichtiges Mitglied der Vereinten Nationen sei, diese internationalen Verträge breche. "Außerdem hat man offensichtlich den Stellenwert überschätzt, den Putin der internationalen Diplomatie beimisst", ergänzt Beichelt.

Nun ist klar: Die Gesprächsbereitschaft, die Putin in Spitzentreffen mit Macron und Scholz signalisierte, war nur vorgetäuscht. Politikwissenschaftler Volker Weichsel möchte dennoch nicht von einer "Fehleinschätzung" sprechen. "Die Analysen, die vorlagen, haben die Radikalisierung des Regimes über die vergangenen 20 Jahre stets begleitet", betont er. Die Entwicklung sei gesehen worden, aber man habe ihr hilflos gegenübergestanden.

Radikalisierung war nicht absehbar

"Die Radikalisierung des Regimes hat sich zum Schluss so beschleunigt, wie es auch in Russland kaum jemand zu denken gewagt hat. Die ganze Welt ist schockiert", erinnert er. Das entscheidende Problem liege darin, dass die bekannten Erkenntnisse nicht zu den nötigen Schlüssen geführt hätten.

"Die jetzt beschlossenen Sanktionen hinken immer noch der Zeit und den Ereignissen hinterher", betont Weichsel. Kritik an früheren Fehleinschätzungen seien heute fehl am Platz. Es gehe jetzt darum, nun wirklich entschlossen zu handeln. "Das ist leider nicht erkennbar. Die Beschlüsse der EU reichen bei weitem nicht aus und die Bundesregierung trägt dafür wesentliche Verantwortung", meint der Experte.

Lesen Sie auch: 54 Prozent der Deutschen wären bereit, Folgen von Sanktionen gegen Russland zu tragen

Angriff zu verhindern war kaum möglich

Der gesamte Ansatz der deutschen, europäischen und amerikanischen Politik in den letzten Jahren sei es gewesen, Russland einzubinden. "Obwohl man sah, dass das Regime in Moskau immer radikaler wurde, sah man keinen Weg, als zu versuchen, es doch noch auf irgendeine Weise zu mäßigen", analysiert er.

Um den Angriff zu verhindern, hätte man eine massive militärische Aufrüstung beschließen und eine ganz andere Politik machen müssen, meint Weichsel: "Die Energiepolitik der EU hätte seit 20 Jahren anders ausgerichtet sein müssen, die Handelspartnerschaften mit Russland wären alle falsch gewesen", sagt er. So vorzugehen sei aber in der damaligen Zeit für niemanden vorstellbar gewesen.

Experte: "Komplett neu denken"

Und obwohl dies nicht geschehen ist, behaupte nun Putin genau dies. "In seiner Kriegsrede behauptet er, der Westen hätte seit 30 Jahren kein anderes Ziel verfolgt, als Russland kleinzuhalten, zu erniedrigen, auszubeuten", erinnert Weichsel. Man habe aber das genaue Gegenteil versucht und müsse nun komplett neu denken.

Im Wortlaut hatte Putin gesagt, Russland habe "beharrlich und geduldig versucht" eine "Einigung über die Grundsätze der gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu erzielen". "Als Antwort auf unsere Vorschläge sind wir immer wieder entweder auf zynischen Betrug und Lüge oder auf Druck- und Erpressungsversuche gestoßen, während sich das Nordatlantische Bündnis trotz all unserer Proteste und Bedenken immer weiter ausdehnt", so der russische Präsident.

Warnsignale überhört

Auch Christopher Daase von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung betont: "Die Idee, Russland in die europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden, war nicht von vornherein falsch. Man hat bestimmte Warnsignale aber nicht rechtzeitig wahrgenommen". Das wichtigste sei Putins Rede 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz gewesen.

"Er hat dort sehr gezielt die westliche Sicherheitspolitik kritisiert und klargemacht, dass er persönlich und Russland sich betrogen fühlen", erinnert der Experte. "Spätestens da hätte man aufmerksam werden und wieder stärker auf Russland zugehen müssen", ist er sich sicher. Stattdessen habe man 2008 Georgien und der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft angetragen. "Das war in der Situation genau das Falsche", so Daase.

USA und Europa geschwächt

Dass Putin sich jetzt entschlossen hat, die Ukraine zu überfallen, hat aus Sicht der Experten mehrere Gründe. "Die gesamte geopolitische Lage spielt eine Rolle", meint Daase. Die USA seien geschwächt, der amerikanische Präsident habe innenpolitisch so viel Gegenwind, dass Amerika nicht mehr so agieren können wie vor 20 Jahren.

"Auch in Europa stehen einzelne Staaten vor großen Herausforderungen und Wahlkämpfen", erinnert er. Gleichzeitig habe der Schulterschluss mit China Russland ein Gefühl der Stärke gegeben. Weichsel sieht die Radikalisierung hingegen stärker innenpolitischen Entwicklungen geschuldet. "Die Schwäche des Regimes ist in der letzten Zeit immer offener zutage getreten", analysiert er.

Putins Angst vor Demokratie

Zusätzlich habe der niedrige Ölpreis die Ökonomie geschwächt, der Sicherheitsapparat habe zum Machterhalt zu immer stärkeren Repressionen greifen müssen. "Selbst die Wirtschaftsoligarchen sind immer mehr an den Rand gedrängt worden, sie fügten sich, weil sie profitieren, aber ihr Einfluss ist stark gesunken", sagt Weichsel.

Die Massendemonstrationen 2020 in Belarus gegen die Politik und Präsidentschaft Lukaschenkos haben aus Sicht des Experten eine bedeutende Rolle gespielt. "Das hat noch einmal untermauert, wie wenig Legitimität Diktatoren inzwischen haben und Putins Angst vor Demokratie verstärkt", sagt Weichsel. Putin habe sich zuletzt immer weiter abgekapselt. "In seinem eigenen Elitekreis hat er nur noch Gefolgsleute, die sich nicht gegen ihn wehren können, aber wenig echte Unterstützer", so der Experte.

Rolle der COVID-Pandemie

Aus Sicht der Experten hat auch die Coronakrise ihren Teil zur jetzigen Situation und der Fehleinschätzung beigetragen. Allerdings nicht, weil die Weltgemeinschaft mit etwas anderem beschäftigt war und die Aufmerksamkeit von der russischen Politik abgelenkt hat, sondern: "Die COVID-Pandemie hat die Gesellschaft müde und konflikt-avers gemacht", schätzt Daase.

Lesen Sie auch:

  • Twitter und Facebook reagieren auf Russlands Invasionskrieg gegen Ukraine
  • Historiker: Ukraine-Krieg ist der "gefährlichste Moment seit der Kubakrise"
  • Ökonomen für Abkopplung Russlands von Bankensystem Swift

Beichelt sagt: "Es gibt glaubhafte Medienberichte, dass Wladimir Putin persönlich große Angst vor einer Infektion hat." Deswegen sei der Zugang zu ihm in den letzten Monaten stark eingeschränkt worden. "Vermutlich hat sich deshalb seine Fähigkeit vermindert, sich adäquat über das Geschehen in Russland und in der Welt zu informieren", kommentiert er.

Über die Experten:
Prof. Dr. Timm Beichelt lehrt Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Slawistik in Heidelberg und Paris. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt Demokratie in Osteuropa, Kultur und Politik sowie Rechtsradikalismus in Osteuropa.
Prof. Dr. Christopher Daase ist Leiter der Programmbereiche "Internationale Sicherheit" und Transnationale Politik" bei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Daase studierte Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Politikwissenschaft in Hamburg, Freiburg und Berlin.
Dr. Volker Weichsel ist Redakteur der Zeitschrift Osteuropa, die Politik und Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft im Osten Europas als Teil der globalisierten Welt analysiert.
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikel wurde behauptet, Russland habe die Ukraine bereits am Mittwoch überfallen. Tatsächlich fand der Angriff erst am Donnerstag statt.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.