Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Heute: Der Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Nawalny setzt das Projekt Nord Stream 2 unter Druck, Martin Schulz soll Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung werden und Boris Johnsons Regierung macht zwei Kampfansagen in Richtung EU.

Guten Morgen, liebe Leserinnen und liebe Leser,
dem russischen Regimekritiker Alexej Nawalny geht es besser:
Er reagiere auf Ansprache, teilte die Charité jetzt mit.
Vor allem der letzte Satz elektrisiert das politische Berlin. Womöglich wird der Regimekritiker bald schon Zeugnis ablegen wider seine Peiniger. Das wiederum dürfte die Debatte um den richtigen Umgang mit Kremlchef Wladimir Putin erneut befeuern.
Der Wind in Berlin hat sich gedreht. Selbst Angela Merkel schließt Sanktionen gegen Russland nicht mehr aus, auch solche, die die geplante Ostseepipeline Nord Stream 2 betreffen könnten. Bislang hatte sie sich dagegen verwehrt, den Giftanschlag auf Nawalny mit der Energieversorgung Deutschlands in Verbindung zu bringen.
Ihre Kehrtwende, die zumindest eine rhetorische ist, hängt weniger mit Putin als mit der eigenen Partei zusammen. Die nämlich ist unruhig geworden. Die Noch-CDU-Chefin und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich von dem Projekt öffentlich entliebt:
Friedrich Merz plädiert für einen zweijährigen Baustopp, Norbert Röttgen fordert das sofortige Ende des Pipeline-Projektes:
Einzig NRW-Ministerpräsident Armin Laschet sprach sich gegen eine vorschnelle Entscheidung aus:
Er weiß, was Merkel auch weiß: Ein politisch verfügter Abbruch des Projekts würde schwere Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens wecken, denn immerhin liegt ein Planfeststellungsbeschluss vor. Sollten Gerichte den Firmen, die bereits in den Bau von Nord Stream 2 investiert haben, Schadensersatzansprüche zugestehen, könnte der Staat sich Milliardenforderungen gegenübersehen.
Fazit: Merkel und Laschet wollen auf den womöglich letzten Metern der Ära Trump keine Gastgeschenke in Washington hinterlegen, zumal dieser heute Nacht erneut danach verlangt hatte. Die Kanzlerin, die auf wirtschaftliche Verlässlichkeit in den Außenwirtschaftsbeziehungen großen Wert legt, würde bei einem Aus für Nord Stream 2 mehr als nur ein Röhrensystem verlieren, zum Beispiel ihr Gesicht. Trump weiß, was er an ihr hat: Eine Widerstandskämpferin ist sie nicht, ein Sturkopf schon.
Martin Schulz soll Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung werden
Die SPD hat ihren früheren Vorsitzenden Martin Schulz nach historischer Wahlniederlage zwar auf die hintere Bank im Parlament abgeschoben. Aber vergessen hat sie ihn nicht. Er soll nun Chef der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung werden. Das bestätigten mehrere Quellen aus Regierung und Partei der Medienmarke "ThePioneer.de".
Der bisherige Stiftungschef Kurt Beck hat demnach den früheren Kanzlerkandidaten in einem Brief an die Vorstandsmitglieder der Stiftung als seinen Nachfolger vorgeschlagen und darauf hingewiesen, dass dies auch mit der Parteiführung abgesprochen sei. Recht hat er: Eine kleine Runde hochrangiger Sozialdemokraten gab in einer internen Sitzung am vergangenen Freitag in Berlin grünes Licht für die Personalie. Alle Hintergründe auf thepioneer.de/hauptstadt
"Der freie Austausch von Informationen und Ideen wird von Tag zu Tag mehr eingeschränkt"
Jetzt hat auch Jens Spahn die Verengung der Denkräume am eigenen Leib erfahren: Am Rande eines Wahlkampftermins in Bergisch Gladbach wurde der Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Woche von Demonstranten beschimpft und bespuckt. Den Vorschlag, gemeinsam über die Corona-Politik der Regierung zu diskutieren, schlugen die Kritiker aus. Ein genervter Minister am Sonntagabend im "Bild"-Talk:
Die Verengung der Denkräume findet auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums statt. Einer, der das immer wieder zu spüren bekommt, ist der Kabarettist Dieter Nuhr. Er sagt:
Der Chef des Axel-Springer-Verlags, Mathias Döpfner, beobachtet die Verengung dessen, was gesagt wird und angeblich nicht mehr gesagt werden darf, seit Längerem mit Sorge. Im "Spiegel" forderte er mehr Zivilcourage von Publizisten, Wirtschaftsführern und Politikern:
"NZZ"-Chefredakteur Eric Gujer teilt diese Beobachtung. Jüngst sagte er im Morning Briefing Podcast:
Im Juli veröffentlichte das Magazin "Harper's" einen offenen Brief "Über Gerechtigkeit und offene Debatte". Darunter fanden sich die Unterschriften von 150 Intellektuellen. Unter anderem beteiligten sich Noam Chomsky, Salman Rushdie und der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann. In dem Brief hieß es:
Fakt ist: Auf der rechten wie auf der linken Seite des Meinungsspektrums ist eine Generation von Verbalradikalen entstanden, die wie marodierende Banden durch die sozialen Medien ziehen, um jeden zusammenzuschreiben, dessen Weltbild ihnen nicht passt. Wer differenziert, macht sich verdächtig.
Man will gar nicht widersprechen, man will demütigen.
Man möchte den Andersdenkenden nicht verstehen, sondern vernichten.
Es geht nicht um Aufklärung, sondern um Ausgrenzung. Der Brutalismus hat das Architekturmuseum verlassen, um sich nunmehr der Debattenkultur zu unterwerfen.
Bei der Lektüre von Robert Seethalers neuestem Werk "Der letzte Satz" beschleicht einen zuweilen das Gefühl, einer der Poltergeister aus den Filterblasen des Netzes werde hier in ironischer Absicht beschrieben:
Mit diesen und ähnlichen Fragen befasst sich der Autor und Publizist Christoph Giesa in seinem neuen Buch "Echte Helden, falsche Helden". Über seine Thesen sprechen wir im heutigen Morning Briefing Podcast.
Er fordert neue demokratische Helden und eine Abkehr von dem Glauben der Nachkriegszeit, der gute Demokrat verehre keine Menschen, nur Institutionen. Giesa beruft sich auf Jaques Delors, der einst gesagt hatte:
Brexit: Johnsons Regierung macht zwei Kampfansagen
Wer geglaubt hatte, das Thema Brexit sei erledigt, hat sich getäuscht. Die Zeichen stehen schon wieder auf Sturm. Knapp vier Monate vor dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt schwinden die Chancen auf den anvisierten Handelspakt. Pünktlich vor der nächsten Verhandlungsrunde am heutigen Dienstag platzierte die britische Regierung zwei Kampfansagen, die die EU-Seite in Brüssel in helle Aufregung versetzen.
- So setzte Premierminister Boris Johnson am gestrigen Montag ein Ultimatum: Entweder man einige sich bis zum 15. Oktober oder beide Seiten sollten ihrer Wege gehen, erklärte der Regierungsche
- Zum zweiten ließ die Regierung über die "Financial Times" Pläne für ein Binnenmarktgesetz in die Öffentlichkeit durchsickern, die das bereits besiegelte Austrittsabkommen beider Seiten zum Teil aushebeln würden. Dabei geht es um die heikelsten Passagen des Abkommens: die Vermeidung einer harten Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Staat Irland.
Provozierend für die EU ist Johnsons scheinbare Gleichmut gegenüber einem Scheitern. Das Fazit der Brüsseler Kommission: Die Briten spinnen nicht, aber sie nerven.
Ich wünsche Ihnen einen selbstbewussten Start in den Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr
Gabor Steingart