Wieso brechen gerade zu Weihnachten alte Familienkonflikte wieder auf? Und gibt es Strategien, mit denen man sich vor Konflikten oder übergriffigen Fragen an der Festtafel schützen kann? Psychologin und Autorin Stefanie Stahl gibt Tipps, wie am Fest der Liebe Auseinandersetzungen im Familienkreis vermieden werden können.

Ein Interview

Frau Stahl, was sind die typischen Gründe für Streit in der Familie an Weihnachten?

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Stefanie Stahl: Die Weihnachtszeit ist emotional sehr aufgeladen. Alle kommen zusammen und somit spielen hohe Erwartungen eine große Rolle. Die gemeinsame Zeit soll harmonisch verlaufen und eben diese Erwartungen können viel Raum für Enttäuschungen schaffen und Konflikte begünstigen – vor allem dann, wenn man um des lieben Friedens Willen über die eigenen Grenzen hinausgeht. Denn nicht immer hat man Lust auf Weihnachten mit der Familie oder Schwiegerfamilie. Insofern reichen häufig schon kleine Impulse aus, um sich getriggert zu fühlen.

"Kommen dann noch ein paar Gläser Wein hinzu, ist eine Streitsituation nahezu vorprogrammiert."

Stefanie Stahl

Hinzu kommt, dass viele Menschen gegen Jahresende aus beruflichen Gründen sehr gestresst sind, was dazu führt, dass die Nerven ohnehin schon blank liegen. Dann wäre da noch der emotionale Rucksack, den viele mit sich tragen und der alte Prägungen und Dynamiken zum Vorschein bringt. In der Folge fühlen sich die Menschen schnell von typischen Verhaltensweisen vereinzelter Familienmitglieder getriggert. Kommen dann noch ein paar Gläser Wein hinzu, ist eine Streitsituation nahezu programmiert.

Welche Rolle spielt Alkohol bei einer ohnehin schon angespannten Situation am Tisch?

Alkohol hat viele Wirkungen. Er kann stimmungsaufhellend sein und zu einer lockeren Stimmung beitragen. Bei durchaus positiven Effekten, die er also bewirken kann, senkt Alkohol aber auch Hemmungen und kann manche Emotionen verstärken. Außerdem können unterdrückte Gefühle wie Trauer oder Wut durch Alkohol leichter hochkommen. Gibt es dann im Familienkreis Spannungen oder Streitereien, ist durch den Alkohol die Vernunft viel stärker blockiert, sodass man sich ungebremster verhält. Darüber hinaus neigen wir dazu, uns durch Alkohol deutlich mehr in Dinge hineinzusteigern, die nüchtern betrachtet als längst nicht so dramatisch empfunden werden.

Viele Menschen verbinden Familienfeste wie Weihnachten mit übergriffigen Fragen und Bewertungen von anderen Familienmitgliedern. Gibt es Strategien, sich vor solchen Situationen zu schützen?

Stefanie Stahl zu Gast beim NDR
Stefanie Stahl ist Psychotherapeutin und Bestellerautorin. (Archivbild) © Hein Hartmann/Geisler-Fotopress

Natürlich kann man mit den entsprechenden Personen im Vorfeld das Gespräch suchen und sie bitten, Themen, die zu einer Disharmonie führen könnten, nicht anzusprechen. Außerdem kann man sich innerlich und argumentativ auf das Familientreffen vorbereiten. Hier geht es darum, für sich vorab festzuhalten, von welchen Verhaltensweisen man sich auf die sprichwörtliche Palme gebracht oder verletzt fühlt, um sich im Anschluss Antwortstrategien zurechtzulegen. Diese sollten deeskalierend und möglichst humorvoll sein, um einer möglichen Konfliktsituation entgegenzuwirken. Mental gut vorbereitet zu sein, bringt also ungeheuer viel. Denn viele Konflikte entstehen, weil sie scheinbar aus dem Nichts kommen.

Sie sprachen eingangs von alten Prägungen und Dynamiken. Was steckt dahinter, dass Erwachsene beim Besuch bei den Eltern häufig in die Kind- oder Teenagerrolle rutschen?

Hier sprechen wir von Prägungen, die vor allem unbewusst zutage kommen. Je bewusster man sich dieser Prägung ist, umso besser kann man sich auf herausfordernde Momente im familiären Kreis vorbereiten. Doch gewisse Verhaltensweisen und unbewusste Dynamiken finden auch auf der Seite der Eltern statt. Es gilt also auf beiden Seiten, gewisse Automatismen zu reflektieren.

Nehmen wir einmal an, die Weihnachtsfeier mit der Familie endet mit Diskussionen und man geht schließlich im Streit auseinander. Wann ist nach einer solch aufgeladenen Situation ein guter Moment für eine Aussprache?

Für solch eine Situation gibt es keine festen Regeln, sondern eher ein Für und Wider. Räumt man die Dinge zeitnah aus dem Weg, verhärtet sich die Konfliktsituation nicht und die Wahrscheinlichkeit der Verdrossenheit schwindet entsprechend. Auf der anderen Seite ist man bei einer zeitnahen Klärung möglicherweise noch sehr emotional. Insofern sollte hier immer individuell abgewogen werden. Eine Klärung macht dann am meisten Sinn, wenn man sich nach einem Streit emotional wieder im Griff hat. Unter starken Emotionen ist eine Klärung immer sehr schwierig.

Wenn es alle Jahre wieder zum Zoff unterm Weihnachtsbaum kommt – wann sollte man sich die ehrliche Frage stellen, Weihnachten möglicherweise nicht mit der Familie zu feiern?

Ist der Ärger vorprogrammiert, ist diese Frage total naheliegend. Dass man über die Weihnachtstage eine Art Auszeit und Zeit für sich braucht, lässt sich durchaus höflich und respektvoll formulieren, ganz ohne eine Vorwurfshaltung. Darüber hinaus können Familientreffen zu einem anderen Zeitpunkt, etwa im neuen Jahr, vorgeschlagen werden. Denn wenn Konflikte vorprogrammiert sind, sollte man sich an dieser Stelle entsprechend abgrenzen, weil gerade mangelnde Abgrenzung ein häufiger Grund für Konflikte ist.

"Häufig übernehmen sich die Menschen auch, ich denke da etwa an die Gastgeber-Perspektive. Alles soll perfekt sein, doch letztlich werden die eigenen Grenzen weit überschritten."

Stefanie Stahl

Denn indem die Menschen sich immer wieder in Situationen begeben, auf die sie eigentlich keine Lust haben, ziehen sie keine Grenze. Häufig übernehmen sich die Menschen auch, ich denke da etwa an die Gastgeber-Perspektive. Alles soll perfekt sein, doch letztlich werden die eigenen Grenzen weit überschritten. Hier kommt der Team-Gedanke ins Spiel, indem beispielsweise das Vorbereiten der Speisen untereinander aufgeteilt wird, um den Druck rauszunehmen.

Weihnachten verbinden die meisten Menschen mit Zusammensein mit der Familie. Dabei kann das Fest auch im Freundeskreis, der sogenannten chosen family, gefeiert werden. Unterliegen wir hier einem gewissen traditionellen Druck, die Feiertage mit der Familie verbringen zu müssen?

Ich würde hier weniger von einem traditionellen, als eher von einem emotionalen Druck sprechen. Weihnachten ist für viele Menschen ein sentimentales Fest, an das häufig viele familiäre Erinnerungen geknüpft sind. Insofern erleben viele Menschen den Druck, etwa die Eltern diese Tage nicht alleine verbringen zu lassen. Erinnerungen an die eigene Kindheit, in der Weihnachten ein schönes Fest war, erhöhen diesen Druck entsprechend. Es ist also vor allem die emotionale Verbundenheit, die besagten Druck verstärkt, weil man seine Eltern oder Verwandten nicht verletzten oder enttäuschen möchte.

Über die Gesprächspartnerin

  • Stefanie Stahl ist Psychologin und Autorin. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit in ihrer Praxis hat sie zahlreiche Ratgeber zur Selbsthilfe veröffentlicht, die allesamt Bestseller im deutschsprachigen Raum sind. Ihr Sachbuch "Das Kind in dir muss Heimat finden" ist seit sieben Jahren "Spiegel"-Jahresbestseller und wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt.