Eine aktuelle Befragung hat erschreckende Zahlen geliefert: In Deutschland hat etwa jeder achte Mensch mindestens einmal im Kindes- und Jugendalter sexualisierte Gewalt erfahren. Kerstin Claus ist die Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesregierung. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie man Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch schützen kann und welche Rolle die Eltern dabei spielen.

Ein Interview

In Deutschland hat laut einer aktuellen Umfrage etwa jeder achte Mensch mindestens einmal im Kindes- und Jugendalter sexualisierte Gewalt erfahren. Es handelt sich dabei um die erste bundesweite repräsentative Studie, die nicht nur die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht, sondern auch die Kontexte der Taten und deren Folgen beleuchtet.

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Der Koordinator der Studie, Harald Dreßing, der durch die Erforschung sexuellen Missbrauchs in der katholischen und evangelischen Kirche bekannt wurde, sagte: "Wenn ein Kind Opfer sexualisierter Gewalt wird, dann ist das ein schweres Trauma. Es kann ein Leben zerstören."

Aber wie können Eltern ihre Kinder vor Übergriffen schützen? Kerstin Claus, die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), erklärt im Interview, dass die Grundlage dafür schon im jungen Alter gelegt wird.

Jedes Kind kann Opfer von sexueller Gewalt werden. Es gibt aber Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen. Ein Risikofaktor ist, wenn Kinder zu wenig aufgeklärt sind. Ab welchem Alter sollte man Kinder aufklären?

Kerstin Claus
Kerstin Claus ist Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesregierung. © picture alliance/SZ Photo/Jürgen Heinrich

Kerstin Claus: So wie Kinder lernen, was eine Blume und was ein Auto ist, sollten sie auch ganz selbstverständlich lernen, Körperteile zu benennen. Dazu gehört auch das korrekte Benennen von Sexualorganen. Das ist ein Teil von Aufklärung, weil wir Kinder nur verstehen, wenn sie befähigt sind, die richtigen Worte zu benutzen. Erwachsene sollten da eine falsche Scheu ablegen, also nicht verniedlichen oder Dinge aussparen. Dabei geht es nicht darum, eine Unterrichtsstunde über sexuelle Bildung abzuhalten, sondern das Wissen selbstverständlich in den Alltag zu integrieren. Dazu gehört beispielsweise auch das Wissen, dass sich auch zwei Männer oder zwei Frauen lieben können.

Ab wann sollte man Kinder darüber aufklären, dass es sexuellen Missbrauch gibt?

Aufklärung im Sinne einer Gewaltprävention muss immer altersangemessen sein und setzt Kommunikations- und Sprachfähigkeit bei einem Kind voraus. Spätestens so ab Ende Kita, Beginn Schule macht es total Sinn, auch über Risiken bezogen auf sexuelle Gewalt zu sprechen.

Wie macht man das als Eltern feinfühlig?

Wichtig ist, zu vermitteln, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. Geheimnisse haben Platz bei Menschen, die mir eher näher sind und nicht mit Fremden. Ein gutes Geheimnis wäre etwa: "Ich verrate nicht, was ich dir zum Geburtstag schenke." Das gute Geheimnis ist auch, was Kindern mehr Freiraum verschafft. Schlechte Geheimnisse verbieten dem Kind oft, etwas zu sagen. So ein Sprechverbot kann sich auch auf Dinge beziehen, die gar nichts mit Sexualität zu tun haben. "Sag der Mama nicht, dass ich deinem Bruder Geld gegeben habe", beispielsweise. Gerade wenn es um präventive Erziehung geht, ist es wichtig, dass in einer Familie solch eine Geheimniskultur vermieden wird. Das erhöht die Chance, dass Kinder schlechte Geheimnisse ansprechen. Kinder sollten also lernen, Geheimnisse zu bewerten und zu sortieren. Damit sie lernen, manche Geheimnisse als Geheimnisse zu akzeptieren und andere nicht.

Wie kann ich mit Kindern konkret über Gefährdung sprechen?

Wenn ich über sexuelle Gewalt aufkläre, dann ist es wichtig, grundsätzliche Grenzen und Regeln zu formulieren: "Es ist nicht ok, wenn dich jemand nackt fotografieren möchte, danach sollte dich auch keiner fragen. Dich am Po, an der Vulva, am Penis oder an der Brust anzufassen oder dich zu küssen, das ist auch nicht ok. Das sind Dinge, die sind nicht erlaubt, weil dein Körper etwas für dich ist, etwas sehr Privates." Ich bestärke so die Entscheidungshoheit des Kindes und verdeutliche, dass es Dinge gibt, die nicht gehen.

Damit wird dem Kind klar: Hier geht es um eine grundsätzliche Regel, um Grenzen, die nicht die Entscheidung des Kindes sind, sondern für alle gelten. Zur präventiven Erziehung gehört auch, dass Oma, Opa, Tante, Onkel keinen Kuss einfordern dürfen. Ein Kind darf entscheiden, wie viel Nähe es gestatten möchte, übrigens auch den Eltern gegenüber. Nur so verstehen Kinder, dass auch Erwachsene nicht das Recht haben, sich einfach Nähe zu holen. Für Erwachsene gilt: Am besten ist, man fragt immer.

Ab einem gewissen Alter kann man Kinder nicht mehr überallhin begleiten. Wie kann man sie gut wappnen?

Dazu gehören zwei Punkte. Das eine ist, was das Kind als Rüstzeug braucht. Das andere, was ich als Elternteil über sexuelle Gewalt wissen muss, damit ich mein Kind schützen kann. Rüstzeug heißt: Das Kind braucht keine Überbehütung. Es muss darin bestärkt werden, sensibel zu werden für die eigenen Belange und Bedürfnisse. Dafür, dass es diese auch aussprechen darf und dass diese gehört und wahrgenommen werden. Und dass es sich immer Hilfe holen darf, wenn sich jemand darüber hinwegsetzt.

Wie kann man das gut fördern?

Man sollte das Kind ermutigen, es selbst zu sein und seine eigenen Belange wahrzunehmen, solange es dabei nicht die Grenzen anderer überschreitet. Das ist aktiver Teil einer präventiven Erziehung. Klassiker sind zum Beispiel die Fragen, was das Kind essen oder nicht essen soll oder auch das Thema Kleidung: "Es ist zu kalt, du musst wärmer angezogen sein" - das ist ok. Aber wenn das Kind sich kunterbunt anziehen möchte, dann muss man das als Eltern vielleicht auch aushalten. Die Kleidung passt dann vielleicht nicht zusammen, aber das Kind fühlt sich darin wohl. Kinder und Jugendliche brauchen die Alltagserfahrung, dass ihnen bei Problemen zugehört wird und ihre Meinung ernst genommen wird.

"Ich als erwachsener Mensch muss mich damit auseinandersetzen, was sexueller Missbrauch eigentlich ist und welche Strategien Täter und Täterinnen verfolgen."

Kerstin Claus

Was muss ich als Elternteil über sexuelle Gewalt wissen, damit ich mein Kind schützen kann?

Ich als erwachsener Mensch muss mich damit auseinandersetzen, was sexueller Missbrauch eigentlich ist und welche Strategien Täter und Täterinnen verfolgen. Wenn ich mich damit nicht beschäftige, dann kann ich nicht präventiv gegenüber meinem Kind agieren, es nicht gut schützen.

Welche Punkte wären das zum Beispiel?

Ich muss beispielsweise verstehen, wie Täter und manchmal auch Täterinnen eine Sonderstellung gegenüber einem Kind erreichen, dass sie dem Kind einen Auserwähltenstatus geben, zum Beispiel durch besondere Komplimente. Das Kind sei etwas ganz Besonderes, besonders hübsch, besonders schlau, besonders klug, könne besonders gut turnen. Dass sie gleichzeitig vermitteln: Nur mit mir, mit meiner Hilfe wirst Du noch besser oder aber nur ich erkenne, wie besonders Du bist. Das sind klassische Täterstrategien.

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Gerade weil Teenager bezogen auf ihre eigene Sexualität häufig noch unsicher sind und auch darüber, welche Vorstellungen anderer sie erfüllen sollen oder wollen, sind sie besonders vulnerabel. Meist haben sie auch noch kein klares Raster für Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe. Täterstrategien nutzen solche Unsicherheiten oder auch Überforderungen gezielt aus. Je isolierter junge Menschen sich im Kontext von Sexualität fühlen, zum Beispiel aufgrund einer besonders restriktiven Erziehung oder wegen ihrer sexuellen Orientierung, desto schwerer ist es für sie, solchen Anbahnungsstrategien etwas entgegenzusetzen.

Wie kann ich dem vorbeugen?

Als Elternteil muss ich bereit sein, zu akzeptieren, dass Anderssein ok ist. Und dass ich meinem Kind in seinen Entwicklungsphasen Raum gebe. Sonst entsteht eine Leerstelle, die genutzt werden kann, um Übergriffe und sexuelle Gewalt anzubahnen. Ich muss als Eltern Kinder annehmen, wie sie gerade sind, so wie sie mir begegnen und ihnen das Gefühl geben, dass sie alles ansprechen können, wenn sie das wollen.

Ich muss wissen, dass Täter immer wieder die Gefühle von Kindern und Jugendlichen manipulieren. Das ist wichtig, häufig kommt es sonst zu Schuldzuweisungen. Wenn ich aber verstehe, dass Manipulation, deswegen sprechen wir ja von Missbrauch, ein elementarer Teil von Täterstrategien ist, dann ist auch klar, dass Kinder sowieso nicht schuld sind, nicht schuld sein können, wenn es zu Taten kommt. Das gilt übrigens auch für Jugendliche, gerade weil sie unerfahren und gleichzeitig ja offen für Neues sind. Das macht es für Tatpersonen oft leicht, ihre Gefühle zu manipulieren und Taten anzubahnen. Auch hier ist wichtig zu verstehen, dass auch Jugendliche nicht schuld sind, wenn Vertrauen und Abhängigkeit ausgenutzt werden. Gerade für den digitalen Raum helfen klare Regeln, also mit Kindern und Jugendlichen zu vereinbaren: "Du posierst nicht vor der Kamera, nur weil einer das sagt." Gleichzeitig muss klar sein, dass eine Regelübertretung nicht zur Schuldumkehr führen darf. Schuld bleibt der, der die Aufnahme verlangt.

"Missbrauch fühlen sich oft nicht sofort gewaltvoll an. Deshalb ist es so schwer, sich dagegen abzugrenzen."

Kerstin Claus

Man sieht Menschen ihre Absichten nicht an. Täter und Täterinnen können freundlich und nett sein. Vielleicht kennt man sie sogar schon seit Jahren. Dies altersgerecht zu vermitteln, ist wichtig. Kinder und Jugendliche müssen verstehen, dass Missbrauch meist angebahnt wird und oft eher beiläufig anfängt, sodass man fast unsicher ist, ob da was komisch war oder aber denkt, das war sicher nur ein Versehen oder ein Jux. Sexuelle Gewalt und Missbrauch fühlen sich oft nicht sofort gewaltvoll an. Deshalb ist es so schwer, sich dagegen abzugrenzen. Missbrauch verunsichert, verwirrt, ist schwer einzusortieren. Genau deswegen verdrängen Kinder und Jugendliche solche Vorfälle erst mal und versuchen, sie ganz schnell zu vergessen. Und ehe sie es verstehen, entsteht ein Gewaltsystem. All das sollten wir Erwachsenen wissen, um Risiken besser altersgerecht ansprechen zu können.

Wie kann man ein Kind auffangen, dem eine Form von sexueller Gewalt widerfahren ist?

Wir als Erwachsene sollten versuchen, zusätzlichen Stress und negative Emotionen bestmöglich zu vermeiden. Es ist wichtig, erst mal Ruhe zu bewahren, auch wenn wir selbst innerlich fürchterlich erschrecken oder entsetzt sind. Nur wenn ich ruhig bleibe, kann ich zuhören, wahrnehmen, was der junge Mensch jetzt braucht und einordnen, was heißt das jetzt und was muss ich tun. Reicht im übertragenen Sinne erst mal ein Pflaster oder braucht es doch das Krankenhaus? Und wie gelingt es, das Kind, den Jugendlichen bestmöglich einzubeziehen in die nächsten Schritte.

Was wäre in dem Fall das Pflaster und was wäre das Krankenhaus?

Bezogen auf sexuelle Gewalt bedeutet das Pflaster vielleicht: "Das ist nicht ok, wenn du da immer wieder angefasst wirst. Ich muss mit dem Sportverein reden." Und dies auch transparent mit dem Kind zu besprechen. Das sind Dinge, wo ich noch selbst Kompetenzen habe. Da, wo ich alleine nicht mehr kompetent bin, weil potenziell die Grenzüberschreitungen zu groß, zu häufig waren, da muss ich wissen, welche Beratungs- und Hilfestellungsstrukturen es gibt: das Hilfe-Telefon, die Online-Hilfe "Schreib Ollie" oder das Hilfe-Portal auf der UBSKM-Homepage, die wir vom Amt anbieten. Da bekommt man niedrigschwellig und, wenn gewünscht, auch anonym Rat und auch Hinweise zu Hilfestrukturen bei sich vor Ort. Oft ist das die nächste spezialisierte Fachberatungsstelle oder andere fachlich gut aufgestellte Einrichtungen. Wichtig ist, zu verstehen, dass es gerade nicht darum gehen muss, sofort zur Polizei oder zum Jugendamt gehen.

Hilfsangebote

  • Wenn Sie selbst von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" (116 016 oder online), das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" (0800/1239900 oder online), das Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch" (0800/225 5530), in Österreich an die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar, 01/3340 437) und in der Schweiz an die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana, 031/3131 400)
  • Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.
  • Falls Sie bei sich oder anderen pädophile Neigungen festgestellt haben, wenden Sie sich bitte an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
  • Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

Bei sexueller Gewalt und sexueller Belästigung gibt es ja Abstufungen. Was würden Sie einem Teenager-Mädchen raten, das immer wieder auf offener Straße blöde Sprüche hinterhergerufen bekommt, dem nachgelaufen wird?

Nicht alleine zu bleiben. Es sollte sich Verstärkung holen. Also am besten sich begleiten lassen, gerade wenn schon Unsicherheit und Angst da sind. Wenn es sich um eine wiederkehrende Situation mit den gleichen Personen handelt, dann hilft es vermutlich eher, sich eine erwachsene Person an die Seite zu holen. Aber auch hier: das Hilfetelefon oder auch die Online-Hilfe "Schreib Ollie" können erste Optionen liefern, wie gute Strategien aussehen können.

"Für Kinder und Jugendliche ist es aber auch total wichtig, zu verstehen: Auch meine Eltern kennen das, überfordert zu sein."

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Zugleich hilft immer, sich möglichst nicht einschüchtern zu lassen. Helfen kann dabei schon das Wissen, dass der andere Grenzen überschreitet und es nicht an meinem Verhalten liegt, dass die Situation so ist. Die Scham muss die Seite wechseln. Frühzeitige Selbstbehauptungskurse können eine gute Sache sein, damit solche klassischen Dynamiken erst gar nicht entstehen und von vorneherein verstanden wird: Es geht nicht um mich, sondern die andere Person ist das Problem.

Für Kinder und Jugendliche ist es aber auch total wichtig, zu verstehen: Auch meine Eltern kennen das, überfordert zu sein. Auch sie wissen nicht immer, wie sie reagieren sollen. Es hilft, wenn Eltern über eigene Situationen sprechen, mit denen sie nicht gut klarkamen. Das muss auch gar nicht unbedingt sexueller Natur sein. Wenn die Eltern immer alles im Griff haben, dann ist auch die Hürde, offen mit ihnen zu sprechen deutlich niedriger. "Ich fand das immer total ätzend, wenn mir irgendetwas hinterhergerufen wurde, passiert dir das auch?", kann den Kommunikationskanal zwischen Eltern und Kind öffnen. Das und immer wieder zu vermitteln: Egal was passiert, du bist nicht schuld, ich bleibe an deiner Seite und unterstütze dich.

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