Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die dem Schulunterricht dauerhaft fernbleiben, nimmt in Deutschland offenbar zu. Verlässliche Datensätze gibt es kaum, doch der Anstieg von Bußgeldverfahren in mehreren Bundesländern wegen Verstößen gegen die Schulpflicht deutet auf diesen Trend hin. Die Gründe sind vielfältig.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Tim Frische sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Schulschwänzer-Alarm in Deutschland", titelte die "Bild"-Zeitung unlängst und verwies dabei auf die "explodierende" Zahl der Bußgeldverfahren. In mehreren Bundesländern stieg diese innerhalb eines Jahres zum Teil um mehr als 20 Prozent.

Mehr zum Thema Familie

Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der Begriff "Schulschwänzer" oftmals unzutreffend ist. Martin Knollmann, leitender Psychologe in der Abteilung für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des LVR-Klinikums Düsseldorf, differenziert im Gespräch mit unserer Redaktion die verschiedenen Formen des Schulabsentismus – also des allgemeinen Fernbleibens vom Unterricht.

Er unterscheidet folgende Kategorien:

  • Legitimes Fernbleiben: Das Kind fehlt entschuldigt, etwa aufgrund einer Erkrankung.
  • Elterliche Zurückhaltung: Die Eltern entscheiden bewusst, dass das Kind zu Hause bleibt – zum Beispiel, um jüngere Geschwister zu betreuen.
  • Schulausschluss: Die Schule verhängt einen befristeten Ausschluss vom Unterricht – meist als Reaktion auf ein problematisches Verhalten des Kindes.
  • Schulvermeidung: Das Fernbleiben von der Schule geht vom Kind selbst aus.

Das "Schulschwänzen" ist eine spezifische Form der Schulvermeidung. "Oft tritt dieses Verhalten in Verbindung mit Schulunlust und einer allgemeinen Schwierigkeit auf, Regeln zu akzeptieren", erklärt Knollmann.

Emotionale und psychische Ursachen von Schulvermeidung

Davon abzugrenzen ist laut dem Psychologen die emotional bedingte Schulvermeidung. In diesen Fällen möchten Kinder oder Jugendliche zwar zur Schule gehen, empfinden jedoch eine innere Hürde, die sie daran hindert. Dieses Verhalten gehe häufig mit körperlichen Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen einher. Häufig liegen diesen Symptomen soziale Ängste zugrunde. "Das beginnt oft mit Gedanken wie: 'Ich werde aufgerufen und habe mich gar nicht vorbereitet', 'Ich muss ein Referat halten oder mich mündlich beteiligen' oder 'Ich muss in den Pausen mit anderen reden – hoffentlich sage ich nichts Peinliches oder Falsches'", erklärt Knollmann.

Auch Leistungsängste spielen dem Psychologen zufolge bei Schulabsentismus eine wichtige Rolle. Schülerinnen und Schüler glauben, den Anforderungen nicht gerecht zu werden, oder setzen sich selbst unter enormen Erfolgsdruck. Hinzu kämen mitunter agoraphobische Ängste (Angststörung im Zusammenhang mit bestimmten Orten oder Situationen, Anm.d.Red.) – etwa die Sorge, in peinlichen oder belastenden Situationen in der Schule nicht entkommen zu können. Ein weiterer häufiger Hintergrund schulvermeidenden Verhaltens seien depressive Erkrankungen – insbesondere bei Jugendlichen, aber zunehmend auch bei jüngeren Kindern.

In seiner Arbeit sei es entscheidend, genau zu prüfen, welche psychische Störung sowie welche schulischen oder familiären Belastungsfaktoren dem Verhalten zugrunde liegen, betont Knollmann. Denn: "Es gibt nicht die eine Behandlungsform für Schulvermeidung."

Hat Corona die Schuldistanz verstärkt?

Dass die Zahl der Schulverweigerer derzeit zuzunehmen scheint, könnte eine Corona-Spätfolge sein. Schulsozialarbeiterin Nicole Herr nennt im Gespräch mit dem "MDR" die Pandemie als zentralen Auslöser für den Anstieg: "Zeitversetzt machen sich hier die Auswirkungen von sozialen Störungen, Angst-Störungen, Essstörungen, psychischen Belastungen und Motivations-Problemen bemerkbar."

Knollmann fordert, dass für zukünftige Krisen Konzepte entwickelt werden, die insbesondere die psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen abfedern. Aus seiner Sicht sollten Schulschließungen sorgfältig abgewogen und vulnerable Gruppen gezielt berücksichtigt werden.

Lesen Sie auch

Vielfältige Gründe für Schulabsentismus

Klaus Seifried, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und ehemaliger Lehrer, beschäftigt sich ebenfalls seit mehreren Jahren intensiv mit dem Thema Schulabsentismus. Auch er nennt im Gespräch mit unserer Redaktion eine Vielzahl von Gründen, warum Schüler den Unterricht meiden: belastende Erfahrungen in der Schule, Überforderung, Mobbing oder Ausgrenzung durch Mitschüler sowie die Verpflichtung, die Familie zu unterstützen. "Und dann gibt es die Jugendlichen, die aus Vermeidungsverhalten heraus die Schule schwänzen: Der Alltag außerhalb der Schule wirkt attraktiver – ausschlafen, sich mit Freunden treffen oder am Computer spielen."

Klaus Seifried
Klaus Seifried, Diplom-Psychologe © Markus Wächter/Waechter

Seifried betont, dass Schulabsentismus sowohl in bildungsfernen als auch in akademisch geprägten Familien auftreten kann. "Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass etwa fünf bis sieben Prozent der Kinder und Jugendlichen schuldistant sind", erklärt der Experte. Die höchste Quote sei im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren zu verzeichnen.

Schulabstinente Menschen laufen vermehrt Gefahr, die Schule ohne Abschluss zu verlassen. Eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag der "Bertelsmann Stiftung" aus dem Jahr 2023 zeigt, dass zwei Jahre zuvor rund 47.500 Schülerinnen und Schüler – das entspricht 6,2 Prozent – die Schule ohne Hauptschulabschluss verließen. "Jeder junge Mensch ohne Schulabschluss ist einer zu viel. Denn das bedeutet deutlich schlechtere Zukunftsaussichten für die Betroffenen", sagt Klemm.

Frühzeitige Förderung und die Rolle von Schule und Eltern

Seifried betont, wie wichtig eine frühzeitige Förderung von Kindern ist, damit schulvermeidendes Verhalten erst gar nicht entsteht. Grundsätzlich sei der Schuleintritt für viele Kinder ein freudiges Ereignis, doch für manche verbinde er sich mit Ängsten. "Zum Beispiel, wenn sie vorher kaum Kontakt zu anderen Kindern hatten, wenn ihnen die Klassensituation fremd und bedrohlich erscheint oder sie nicht verstehen, was der Lehrer von ihnen verlangt – sei es aufgrund sprachlicher Barrieren oder mangelnder Vorbereitung", erklärt der Experte. "Solche Erfahrungen können erste Auslöser für Schuldistanz sein, sogar schon in der ersten oder zweiten Klasse."

Um Schulvermeidung entgegenzuwirken, ist unter anderem eine enge Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern notwendig. "Auch wenn die Eltern aus bildungsfernen Familien stammen, sollten sie verstehen, dass die Schule für das Wohl ihres Kindes von zentraler Bedeutung ist. Die Unterstützung der Eltern ist unerlässlich", betont Seifried.

Darüber hinaus müssen Schulen ein sensibles Umfeld schaffen. "Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter sollten frühzeitig erkennen, wenn ein Kind in Schwierigkeiten steckt, sei es aufgrund von Mobbing, Lernproblemen oder familiären Belastungen. Dann braucht es passende Förderangebote, in denen das Kind Erfolge erzielen kann."

Politische Verantwortung und notwendige Maßnahmen

Von der Politik fordert der Experte deutlich mehr Aufmerksamkeit für das Thema. "Der erste Schritt ist, dass die Kultusministerkonferenz das Thema überhaupt als bildungspolitisch relevantes Problem anerkennt", sagt Seifried. Ein großes Problem sei, dass nur wenige Bundesländer verlässliche Fehlzeitenstatistiken führen, sodass es oft an belastbaren Daten fehle. "Wir brauchen einen klaren Überblick: Wo treten besonders viele Fehlzeiten auf? Welche Schulen sind betroffen? Wo befinden sich die sozialen Brennpunkte?"

Als Positivbeispiel nennt Seifried Berlin, wo nach dem fünften unentschuldigten Fehltag eine Schulversäumnisanzeige vorgeschrieben ist. Diese dürfe jedoch nicht als Druckmittel verstanden werden, betont er. "Gerade bei Familien, die Bürgergeld beziehen, verpuffen finanzielle Sanktionen. Man kann kein Geld einziehen, das nicht da ist. Viel wichtiger ist, dass diese Anzeige ein Startsignal für weitergehende Maßnahmen wird: zum Beispiel ein Hausbesuch durch den Schulsozialarbeiter oder ein Gespräch mit der Familie, um zu verstehen, was eigentlich los ist – und wie dem Kind geholfen werden kann."

Zudem sollten entschuldigte und unentschuldigte Fehlzeiten nicht mehr getrennt betrachtet werden. Denn viele Kinder würden ihre Angst vor der Schule oder schulvermeidendes Verhalten hinter medizinischen Attesten verbergen. "Eine Krankschreibung folgt auf die nächste – oft mit Unterstützung der Eltern, die das Verhalten unbewusst oder bewusst decken", erklärt Seifried. Auch wiederholte entschuldigte Fehlzeiten könnten ein Hinweis auf Schuldistanz oder psychische Belastungen sein, betont der Diplom-Psychologe.

Unterstützung statt Sanktionen: Wege aus der Schulvermeidung

Und wie bringt man ein schulabgewandtes Kind zurück in den Unterricht? Bußgelder, die je nach Bundesland bis zu 2.500 Euro betragen können, lösen das Kernproblem nicht. Für Knollmann ist die Kooperation mit den Schulen mitentscheidend. "Es braucht Überzeugungsarbeit, wenn vorgeschlagen wird, dass ein Jugendlicher zunächst nur zwei Stunden täglich zur Schule kommt – ohne Leistungsdruck, ohne Noten oder Prüfungen", sagt er und befürwortet eine solche stufenweise Wiedereingliederung. "Das Ziel ist zunächst, überhaupt wieder einen Fuß in die Schule zu setzen – und damit auch einen Fuß zurück ins Leben. Denn Schule ist in unserer Gesellschaft ein zentraler Ort der Teilhabe und Entwicklung."

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Seifried: "In extremen Fällen, wenn Kinder über längere Zeit nicht zur Schule gehen, kann es sinnvoll sein, alternative Bildungsangebote wie Schulersatzprojekte zu schaffen. Hier könnten Kinder in kleinen Gruppen schrittweise wieder an den Lernstoff herangeführt werden."

Für den Experten ist es im Kampf gegen Schulvermeidung entscheidend, dass sich ein Kind in der Schule wohl und sicher fühlt und positive Beziehungen zu Mitschülerinnen und Mitschülern sowie Lehrkräften aufbaut. Zudem brauche es Erfolgserlebnisse, die motivieren, regelmäßig am Unterricht teilzunehmen. "Sicherheit, positive Beziehungen und Erfolge – das sind die Grundlagen, auf denen ein Kind Vertrauen in die Schule aufbauen kann."

Über die Gesprächspartner

  • Dr. phil. Martin Knollmann ist leitender Psychologe in der Abteilung für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters des LVR-Klinikums Düsseldorf, Kliniken der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
  • Klaus Seifried ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und ehemaliger Lehrer. Als Experte im Bereich Absentismus hat er sich intensiv mit den Ursachen und Lösungsansätzen von Schulverweigerung und Schuldistanz auseinandergesetzt. Seit 1996 ist er Mitglied im Berufsverband Deutscher Psychologen und engagiert sich als Dozent an verschiedenen Hochschulen sowie in der Weiterbildung von Lehrkräften und Schulleitungen.

Verwendete Quellen