Medikamentenabhängigkeit: Benzodiazepine sind Medikamente, die schnell abhängig machen. Hat ein Frankfurter Apotheker eine Süchtige damit jahrelang versorgt, ohne jemals ein Rezept von ihr zu verlangen?
Im Eiltempo liest die Staatsanwältin aus der Anklage, 31 Taten werden aufgezählt. Mit 50 Tabletten Lorazepam, 2,5 Milligramm Wirkstoff pro Tablette, verkauft am 1. April 2017 um 9.29 Uhr, fängt die Liste an. Später kamen noch Bromazanil, Diazepam, Tramadolor, Zolpidem und das Opioid Tilidin dazu. Medikamente für Menschen in einer psychischen Notlage. Medikamente, die beruhigen und Schmerzen bekämpfen sollen. Aber auch: Medikamente, die schnell abhängig machen.
Ein Apotheker soll diese Arzneimittel über viele Jahre an eine Kundin verkauft haben, ohne jemals ein Rezept dafür verlangt zu haben. Obwohl er ganz genau wusste, wie gefährlich die Mittel sind, soll er die Sucht der Frau, ihren Medikamentenmissbrauch gefördert haben. So lautet der Vorwurf, der vor dem Frankfurter Amtsgericht verhandelt wird.
Ein ungeheuerlicher Verdacht
Dokumentiert sind die Verkäufe im Kassensystem der Apotheke und durch die Kreditkartenabrechnungen der Kundin. Bei einer Durchsuchung wurde das Buchhaltungssystem gespiegelt. Die letzte Tat ist auf den 5. Juni 2019 datiert. Zweimal 50 Tabletten Lorazepam, zweimal 20 Tabletten Zolpidem und 100 Milliliter wurden an dem Tag verkauft. Ein Apotheker als Dealer: Das ist ein ungeheuerlicher Verdacht.
Iris S. ist die Kundin, die sagt, dass sie von dem Frankfurter Apotheker über viele Jahre hinweg mit den süchtig machenden Mitteln versorgt wurde. Ihre Medikamentenabhängigkeit ist alles andere als ein Einzelfall. Wohl 1,6 Millionen Deutsche, wird geschätzt, sind von Benzodiazepinen, umgangssprachlich Benzos genannt, abhängig.
Ärzte verschreiben Benzodiazepine wie Lorazepam oder Bromazanil gegen Angstattacken, gegen Schlaflosigkeit oder wenn Patienten in eine Lebenskrise geraten sind. Eigentlich sollen die Patienten die Medikamente nur kurze Zeit einnehmen – wegen des hohen Suchtpotentials. Doch bei vielen wird der Griff zur Tablette zur Gewohnheit. Meist kommt es zu einer sogenannten Niedrigdosisabhängigkeit, die in der Regel kaum auffällt. Bei Iris S. war es anders, ihr Konsum geriet außer Kontrolle. "Ich wurde zum Junkie", sagt sie.
Viereinhalb Jahre bis zum Prozess
S. spricht sehr offen über ihre Sucht, ihren Absturz, ihren Entzug – um über die Gefahren von Medikamentenabhängigkeit aufzuklären, sagt sie. Vor eineinhalb Jahren hat sie sich bei der F.A.Z. gemeldet. Sie war frustriert, dass sich das Verfahren gegen den Apotheker so lange hinzog. Sie konnte nicht begreifen, dass der Mann, der ihre Abhängigkeit aus ihrer Sicht so massiv gefördert hatte, weiter seinen Geschäften nachgehen konnte, als wäre nichts geschehen. Über den damals zuständigen Staatsanwalt sagte sie, dass er das Verfahren verschleppe. Viereinhalb Jahre wird es am Ende dauern, bis der Strafprozess gegen den Apotheker beginnt.
Auch als Zeugin vor dem Frankfurter Amtsgericht spricht S. sehr offen über ihre Sucht: Begonnen hat alles mit einem Migräneleiden. Ihr Hausarzt hat ihr dagegen das Opiat Tilidin verschrieben. Das Medikament hilft der Bankangestellten, dass sie trotz der Migräne zur Arbeit gehen kann, es gibt ihr aber auch "ein gutes Gefühl, einen Kick". Wenn sie Tilidin einnimmt, dann spürt sie "eine Welle der Euphorie".
Als ihr Hausarzt ihr das Medikament nicht mehr verschreiben will, geht sie zu einer anderen Ärztin. Als auch diese Ärztin sie auf ihren hohen Konsum anspricht, probiert S., das Medikament auch ohne Rezept zu bekommen.
"Benzos" ohne Rezept? Kein Problem
Sie fragt in ihrer Apotheke, ob man nicht eine Ausnahme machen und ihr eine Packung Tilidin ohne Rezept verkaufen könne. Sie habe vergessen, zu ihrer Ärztin zu gehen, das Rezept will sie nachliefern. Der Apotheker willigt zu ihrer Überraschung ohne Nachfrage ein. Und auch im Nachhinein will er von S. kein Rezept sehen. Wieder fragt sie ihn nach Tilidin, wieder sagt er: kein Problem. Und als sie ihn später um Benzodiazepine wie Lorazepam oder Bromazanil bittet, bekommt sie auch diese Medikamente ohne Rezepte ausgehändigt.
Eins aber bläut ihr der Apotheker ein: Auf die "speziellen Medikamente" soll sie nur ihn oder einen bestimmten Mitarbeiter ansprechen. Zwischen ihr und dem Apotheker entsteht "eine gute Geschäftsbeziehung".
Ihre Abhängigkeit wird mit der Zeit immer heftiger. Bald gibt es im Leben von Iris S. keinen Tag mehr ohne "Benzos". Die Medikamente sorgen dafür, dass sie ihre Probleme vergisst: das schwierige Verhältnis zur Mutter, die Verliebtheit, die einer ihrer Arbeitskollegen bei der Bank nicht erwidert, die Einsamkeit.
Die Medikamente nimmt S. meist zusammen mit einem Glas Sekt ein, das verstärkt deren Wirkung. Sie fühlt sich dann wie abgefedert, wie in einer Wolke, dämmrig und beschützt. Die Dosis erhöht sie immer weiter. An "Stoff" zu kommen ist für sie schließlich kein Problem: Ihr Dealer ist der Apotheker, der nie ein Rezept sehen will.
Der Apotheker bestreitet die Vorwürfe
S. gibt dem Mann keine Schuld an ihrer Abhängigkeit. Sie sei aus eigenem Antrieb süchtig geworden, sagt sie. Doch ihre Sucht, glaubt sie, wäre anders verlaufen, hätte es die Apotheke, in der sie jederzeit an Nachschub kam, nicht gegeben. Vielleicht hätte sie sich dann früher zu einem Entzug entschlossen. Vielleicht hätte sie ihren Körper dann weniger stark malträtiert. Vielleicht hätte sie früher einen Ausweg finden können.
Der Apotheker sagt vor Gericht, an den Vorwürfen sei nichts dran. Die ganze Sache sei abstrus und unlogisch, da stimme etwas nicht, er werde zu Unrecht verdächtigt. Er behauptet auch, dass S. in seinem Geschäft sehr wohl Rezepte vorgelegt habe. Niederländische Rezepte, vermutlich gefälscht. Und dass nicht er die Kundin bedient habe, sondern meistens sein Mitarbeiter. Außerdem seien die Nutzerdaten für das Kassensystem nicht korrekt gewesen. Auf welchen Namen die Verkäufe gebucht wurden, sage nichts darüber aus, wer tatsächlich an der Kasse stand.
Vernommen wird auch der frühere Mitarbeiter des Apothekers. Auch gegen ihn wurde ermittelt. Dieses Strafverfahren ist jedoch mittlerweile, nach der Zahlung einer Geldauflage, eingestellt. Trotzdem hat der Mann Angst, sich zu äußern. Gleich mehrmals muss die Richterin ihm versichern, dass seine Aussage ihm nicht schaden könne, dass die Vernehmung für ihn ohne Folgen bleiben werde. Erst danach ist er bereit zu sprechen.
"Das geht schon in Ordnung"
Der Apotheker habe ihn angewiesen, die Medikamente auch ohne Rezept zu verkaufen, sagt der Mann. "Der Chef hat zu mir gesagt: Das geht schon in Ordnung." Er habe sich dadurch unter Druck gesetzt gefühlt und Angst davor gehabt, "dass er laut wird, mich anschreit oder mir kündigt". Dass Iris S. damals einen "gefährlichen Cocktail" an Medikamenten zu sich nahm, sei ihm bewusst gewesen. "Das war zu viel, das war Missbrauch, keine Frage."
Einmal habe der Apotheker seinen Mitarbeiter aufgefordert, der Kundin mitzuteilen, dass sie nicht mehr in die Apotheke kommen solle. Ein anderes Mal habe er zu ihm gesagt, dass S. ihre Medikamente nicht mehr mit der Kreditkarte, sondern nur noch mit Bargeld bezahlen soll. "Dann kann man das nicht mehr nachverfolgen, hat der Chef zu mir gesagt."
Iris S. sagt, dass sie am Ende ihrer Sucht kurz vor dem Tod gestanden habe, ihr Leben sei ihr entglitten. In die Bank geht sie irgendwann nur noch sporadisch, morgens kommt sie nicht mehr aus dem Bett. Im Rausch ist sie in ihrer Wohnung gestürzt, die Wunde an der Hand schmerzt. Dann bricht sie auf der Straße zusammen, ihre Beine sacken einfach ab, sie muss operiert werden. Ihr Sohn wird immer skeptischer. Du nimmst doch was, wirft er ihr vor. Im März 2020 entschließt sich S. zum Entzug und weist sich selbst in die Psychiatrie ein.
Der Sohn geht zur Polizei
Als sie ihrem Sohn davon erzählt, wie sie über all die Jahre an ihre Medikamente kam, kann er nicht glauben, dass ein Apotheker so gehandelt hat. Er geht zur Polizei, macht eine Aussage. Er ruft aber auch den Apotheker an, rastet aus, bedroht ihn am Telefon.
Dass die Ermittlungen sich so lange hingezogen haben, dass das Verfahren sogar einmal eingestellt werden sollte, wogegen sich S. mithilfe eines Anwalts wehrte, habe sie "fürchterlich wütend" gemacht. Ihr Vertrauen in den Rechtsstaat habe schwer gelitten, sagt sie. Dass noch immer im Raum stehen würde, sie selbst könnte Rezepte gefälscht haben, um an die "Benzos" zu kommen, lasse ihr keine Ruhe.
Iris S. hatte gegen den Apotheker auch eine Zivilklage eingereicht, in der sie Schmerzensgeld von ihm forderte. Den Prozess hat S. gewonnen, der Apotheker wurde zur Zahlung von 10.000 Euro Schadenersatz verurteilt – rechtskräftig ist das Urteil jedoch noch nicht.
Der Fall lässt Iris S. nicht los
Ihre Unruhe kann S. nicht verbergen. Dass der Fall sie nicht loslässt, ist in jedem Gespräch mit ihr zu spüren. Jeder Gerichtstermin, ganz gleich ob im Zivil- oder im Strafverfahren, wühlt sie auf. Es fällt ihr schwer, sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Sie fährt auch nicht in den Urlaub. Sie könne noch nicht abschalten, sagt sie. Was sie beruhigt, ist zu häkeln oder zu stricken.
Der Apotheker macht vor Gericht oft einen fahrigen Eindruck, wirkt hibbelig. Wenn er während des Prozesses sein stummgeschaltetes Smartphone benutzt, wird er von der Richterin ermahnt. Recht häufig stellt er selbst den Zeugen Fragen. Meistens aber hat er gar keine konkrete Frage, sondern beginnt, sich zu rechtfertigen. "Kommen Sie zur Sache", fordert die Richterin ihn dann auf.
Drei Verhandlungstage dauert es bis zum Urteil. Der Sohn von Iris S., der durch seine Aussage bei der Polizei das Verfahren ins Rollen brachte, wird noch einmal befragt. Der Polizist, der damals die Aussage aufnahm, aber längst in einer anderen Dienststelle arbeitet, kann sich an das mehr als vier Jahre zurückliegende Gespräch nicht mehr richtig erinnern. Der Ermittler, der das Kassensystem der Apotheke überprüfte, beschreibt, wie er dabei vorgegangen ist und was er herausgefunden hat.
Geladen wird noch ein weiterer Mitarbeiter der Apotheke, mittlerweile Pensionär. Auch er hat kaum mehr eine Erinnerung an seine Zeit dort, von niederländischen Privatrezepten habe er "nie etwas mitbekommen". Protokolle aus dem Zivilverfahren werden vorgelesen. Und ein Brief des Unternehmens, das das Kassensystem für die Apotheke betreibt.
Verurteilt wird der Apotheker zu einer Freiheitsstrafe: ein Jahr und vier Monate auf Bewährung. Wird das Urteil rechtskräftig, wird er seine Apotheke mit hoher Wahrscheinlichkeit schließen müssen. Die Richterin ist fest davon überzeugt, dass sich der Fall so abgespielt hat wie von Iris S. beschrieben, sie nennt ihre Schilderungen "glaubhaft". Ihre Aussagen und die des Apothekenmitarbeiters deckten sich und seien "detailreich". Nicht glaubhaft, sondern eine Schutzbehauptung sei dagegen, wenn der Apotheker von "gefälschten Rezepten" spreche. Die Richterin wirft ihm eine "Tat-Serie" vor.
Das Motiv bleibt unklar
Unklar bleibe für sie, warum der Apotheker so gehandelt hat, was sein Motiv war. Ging es ihm ums Geld? Dagegen spreche, dass er ein hohes Risiko eingegangen sei für vergleichsweise geringe Summen. Wollte er Macht ausüben, in dem er die Süchtige von seiner Unterstützung abhängig machte? Oder hatte er Mitgefühl mit ihr? Darauf findet die Richterin keine Antwort. "Vielleicht war Ihnen auch einfach völlig egal, was Sie da gemacht haben", sagt sie am Ende des Prozesses.
Ein paar Tage später sagt Iris S., dass ihr das Urteil "keine Erleichterung" bringe. Sie habe gehofft, dass sie sich danach freier fühlen würde, sie habe gedacht, dass sie Genugtuung spüren würde. Stattdessen habe sie nun sogar Mitleid mit dem Apotheker. Und noch immer sei sie wütend, dass es so lange dauerte, bis der Fall verhandelt wurde.
Weitergehen wird die Sache sowieso. Der Apotheker und auch die Staatsanwaltschaft haben Berufung gegen das Urteil eingelegt. Eine zweite Verhandlung, dann vor dem Frankfurter Landgericht, wird nötig. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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