Zu Gast in Lemberg: Eine Delegation der Stadt Frankfurt besucht die neue ukrainische Partnerstadt Lemberg. Der Lebenswille der Menschen dort ist ungebrochen.

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In einem Stadtteil von Lemberg liegt ein Ort der Schmerzen. Mykola Tjutjunyk, ein kräftiger Mann mit Vollbart, sitzt in seinem Krankenzimmer auf dem Bett. Ihm fehlt vom Oberschenkel abwärts das linke Bein. Vor acht Wochen ist er mit seiner Einheit in Marjinka unter schweren Beschuss geraten.

Tjutjunyk wurde verwundet. Die Kameraden haben ihn fortgeschafft, im ersten Krankenhaus vor der Front wurde sein Bein abgetrennt. Jetzt liegt er im Reha-Zentrum Unbroken in Lemberg und lernt wieder laufen.

Seine Prothese lehnt neben dem Bett. Tjutjunyk ist vierzig Jahre alt. Vor dem Krieg war er Bauarbeiter. Was tut einer wie er, wenn er das Krankenhaus wieder verlassen kann? "Ich will zurück zur Armee", sagt er. "Sie werden eine Position für mich finden. Es gibt genug zu tun, nicht nur am Gewehr."

Im Reha-Zentrum Unbroken in Lemberg werden verwundete Soldaten und zivile Opfer des Krieges versorgt, mit dem Russland die Ukraine vor zweieinhalb Jahren überzogen hat. Rund 20.000 Soldaten wurden bisher behandelt. "Wir geben ihnen die besten Prothesen in der Welt, um sie zu retten", sagt Olek Samchuk, der Unbroken leitet. Für ihn und seine Mitarbeiter ist das Reha-Zentrum, das schon wieder erweitert werden muss, nicht nur ein Ort des Leids, sondern auch der Hoffnung. Wie der Name schon sagt: verletzt, verwundet, verstümmelt – aber ungebrochen.

Kein Ort für schwache Nerven

Es ist kein Ort für schwache Nerven. In einem Zimmer liegt ein junger Mann und starrt aus dem Fenster. Er hält einen großen Teddybären im Arm. Ein Stockwerk tiefer sitzt ein Soldat auf dem Bett, dem beide Beine unter dem Rumpf fehlen. "Ich bin auf eine Landmine getreten", sagt er. Ein Mann wird im Rollstuhl geschoben. Er trägt einen grünen Kapuzenpulli, von seinem Gesicht ist nicht mehr viel übrig.

Die Etagen des Reha-Zentrums sind nach den Partnerstädten benannt, die Lemberg bisher schon unterstützen. Vilnius, Warschau, Freiburg. Auch Würzburg hat schon moderne Ausrüstung angeschafft. An den Geräten lernen die Soldaten wieder laufen, denken, sprechen.

Auch Frankfurt will sich jetzt engagieren, denn die Mainmetropole ist mit der Stadt ganz im Westen der Ukraine ebenfalls eine Partnerschaft eingegangen. Oberbürgermeister Mike Josef (SPD), die Dezernentin für internationale Angelegenheiten Eileen O’Sullivan (Volt) und 24 Begleiter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft sind zum Antrittsbesuch nach Lemberg gereist.

Unbroken ist ihre erste Station an diesem Tag. Der junge Klinikdirektor Samchuk und seine Mitarbeiter führen die Frankfurter Delegation über die Flure des Krankenhauses. Olek Beresjuk leitet die psychiatrische Abteilung und zeigt Bilder, die in der Kunsttherapie entstanden sind. Er erzählt von einem Soldaten, der in russische Gefangenschaft geraten war und gefoltert wurde. Der Soldat nahm einen roten Stift und hackte damit wie von Sinnen auf das Papier ein.

Städtepartnerschaft als Beistand

Beresjuk, ein sanfter Mann mit dunkler Brille, nennt das den "unaussprechlichen Terror der Folter". Durch eine möglichst frühzeitige Therapie wollen er und seine Kollegen traumatische Erlebnisse bewältigen und möglichen Folgen wie Suizid oder Drogensucht vorbeugen. Für den Besuch aus Frankfurt ist er dankbar. "Es ist wichtig, dass jemand zu uns kommt. Denn das Trauma isoliert."

Auf dem Weg zur nächsten Station sitzt Josef nachdenklich im Reisebus. "Wenn man so etwas sieht, relativiert das unsere Probleme in Deutschland", sagt der Oberbürgermeister und wiederholt die Worte des Arztes. "Das Schlimmste ist die Isolation."

Mit der Städtepartnerschaft will Frankfurt das Gegenteil beweisen und zeigen, dass Lemberg eben gerade nicht allein ist. "Andere Städte haben uns vorgemacht, wie man ganz konkret helfen kann", sagt Josef. Er überlegt nun, wie Frankfurt den geplanten Bau eines Operationszentrums unterstützen und Medizintechnik liefern kann.

Auf zum nächsten Stopp. Auch das Zentrum für Orthopädietechnik, das ebenfalls zum riesigen Unbroken-Komplex gehört, ist mit deutscher Hilfe entstanden. Die Bundesregierung hat die Werkstatt, in der Prothesen angefertigt werden, finanziert und ausgestattet. Vom Ausmessen der Gliedmaßen über die Fertigung der Prothesen bis zum Anpassen befindet sich die gesamte Produktionskette in einem Gebäude.

30.000 Lemberger kämpfen an der Front

Es geht zurück in die Innenstadt. In einer Kirche findet die Trauerfeier für zwei Soldaten statt, die an der Front gefallen sind. Einer von ihnen, ein Konditor aus Lemberg, war erst 26 Jahre alt. Beide hinterlassen Frauen und Kinder. Ihre Särge werden aus der Kirche getragen, Soldaten spielen dazu einen Trauermarsch. Andrij Sadowyj, der Bürgermeister von Lemberg, Josef, O’Sullivan und die Frankfurter Stadtverordneten, die mitgereist sind, schließen sich mit Blumen dem Trauerzug an.

30.000 Lemberger kämpfen heute an der Front, 1000 ließen schon ihr Leben. Als die Leichenwagen am Rathaus vorbeirollen, sinken viele Passanten auf die Knie. In diesem Moment bricht auch Roksolana Rakhletska in Tränen aus. Sie gehört zur Delegation und leitet mit ihrem Ukrainischen Verein die Samstagschule in Frankfurt, in der ukrainische Kinder ihre Herkunftssprache pflegen können. 420 Kinder besuchen inzwischen die Klingerschule im Nordend, vor dem Krieg waren es nur 100.

Rakhletska ist vor knapp 25 Jahren aus Lemberg nach Frankfurt gezogen, aber ihre Mutter und ihre Schwester leben noch dort. Einen Bruder hat sie im Krieg verloren. Die Hoffnung, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, hat sie weiterhin. "Wir kämpfen bis zum letzten Mann", sagt sie. Es gehe nicht nur um das Land, sondern auch um die Menschen in den besetzten Gebieten. "Aber wir brauchen starke Unterstützung, nicht nur tröpfchenweise."

"Wir sind eine normale Stadt"

Diese stolze Haltung ist auch den beiden anderen mitreisenden Ukrainerinnen anzumerken, die ihrer Heimat von Frankfurt aus helfen. Viktoriia von Rosen unterstützt im Ukrainian Coordination Center Landsleute, die in Frankfurt ankommen und Hilfe brauchen. "Frankfurt und Lemberg passen gut zueinander", sagt sie.

Beide Städte seien sehr international geprägt. Oksana Pavliuk stammt aus Kiew und organisiert mit ihrem Verein Perspektive Ukraine Hilfstransporte in ihr Heimatland. Sie hofft, dass durch die Partnerschaft der Kreis von Menschen wächst, die zu Hause von Lemberg erzählen können, denn die Spendenbereitschaft sinkt. "Wir wollen, dass man in Frankfurt immer wieder über die Ukraine spricht", sagt sie.

In anderen Momenten merkt man es Lemberg kaum an, dass die Ukraine im Krieg ist und sich gegen Russlands Angriffe verteidigen muss. An manchen Kirchen sind die Fenster vernagelt. Vor dem Rathaus sind Denkmäler verhüllt. Aber abgesehen davon herrscht eine erstaunliche Normalität.

Die Altstadt ist so pittoresk wie eh und je, nur etwas weniger quirlig, denn die Touristen fehlen. Dennoch meint Sadowyj, dass Austauschprojekte schon jetzt beginnen sollten. "Wir sind eine normale Stadt. Lassen Sie uns jetzt Brücken bauen", sagt er.

Ruhe finden vor dem Luftalarm

Erste Ideen gibt es schon. Der ehemalige Fußballnationalspieler Andrij Rusol, inzwischen Manager des Erstligisten Karpaty Lwiw, kann sich einen Austausch mit Frankfurter Fußballklubs vorstellen, vielleicht mit Jugendmannschaften der Eintracht. Rusol ist in Lemberg eine Berühmtheit. Auch Studenten und Wissenschaftler können voneinander lernen. Neidisch blickt Frankfurt auf den Vorsprung der Ukraine in der Digitalisierung. Die Ukrainer können die meisten Dinge des täglichen Lebens bequem per App erledigen.

Ohnehin muss man bei der Städtepartnerschaft nicht von null anfangen. Der Verein Frankfurt for Ukraine hat schon 130 Lastwagen mit Hilfsgütern in die Ukraine geschickt. Und die Zoologische Gesellschaft Frankfurt kümmert sich um Naturschutz in den Karpaten, wo es Wölfe, Bären und Luchse gibt. Sie hat in Lemberg sogar ein eigenes Büro. Michael Brombacher leitet es. Er fährt seit Jahren regelmäßig nach Lemberg und berichtet, wie sich der Fokus seiner Arbeit durch den Krieg verschoben hat.

Viele Ukrainer haben in den Karpaten Schutz vor dem Krieg gesucht. Die Zoologische Gesellschaft half, sie unterzubringen und zu versorgen. Inzwischen hat sich die Lage entspannt, der Naturschutz steht wieder im Vordergrund. Brombacher schwärmt, wie wild und schön die Urwälder dort sind. "Manchmal braucht man die Ruhe der Karpaten, um vor dem Luftalarm zu fliehen."

Der Bund einer Städtefreundschaft

Lemberg ist durch den Krieg zu einer wichtigen Durchgangsstation für Flüchtlinge geworden. Schon fünf Millionen Ukrainer sind auf ihrer Flucht vor dem russischen Aggressor durch die Stadt gekommen. Viele von ihnen, die im Osten ihre Heimat verloren haben oder denen es dort zu gefährlich wurde, sind geblieben. Die Stadt, die vor dem Krieg nur 730.000 Einwohner zählte, ist in den vergangenen zwei Jahren um rund 150.000 Menschen gewachsen. Eine Mammutaufgabe für die Stadtverwaltung.

Der Bürgermeister Sadowyj ist ein rhetorisch gewandter Mann, der andere für sich einnehmen kann. Er hat ein junges Team um sich geschart, seine engsten Mitarbeiter sind kaum vierzig Jahre alt. Als sich Josef ins Goldene Buch der Stadt einträgt ("Möge der Bund unserer Freundschaft lang und fest bleiben") und bekennt, dass ihn der Besuch nachhaltig prägen werde, wird auch Sadowyj persönlich: "In Kriegszeiten lernt man, wer ein echter Freund ist. Denn er hat keine Angst, uns zu besuchen."

Er schenkt Josef eine Stimmgabel. Das Frankfurter Gastgeschenk, ein Modell der Paulskirche, stellt Sadowyj auf seinen Schreibtisch. Die Rathauskatze Lewczyk (kleiner Löwe), die 23.000 Follower bei Instagram hat, schaut zu.

189 vom Krieg zerstörte Gebäude

Und doch wird der Krieg immer wieder greifbar. Heute springt der Luftalarm zwar nicht an. Aber das Heulen der Sirenen und der Warnton der App gehören zum Alltag der Menschen in Lemberg. Viele sind den ständigen Angstzustand schon so leid, dass sie nicht mehr im Keller Schutz suchen. Denn meistens ist ihre Stadt nicht das Ziel der Raketen.

Doch 189 Gebäude in Lemberg sind im Krieg schon zerstört oder beschädigt worden. An der Yewgena-Konowaltsja-Straße räumt ein Bagger Schutt weg. Mitten in einem Wohnviertel sind am Morgen des 4. September um Viertel vor sechs mehrere Geschosse eingeschlagen.

Vor einer Gedenktafel erinnert eine stehen gebliebene Uhr an den genauen Zeitpunkt. Daneben Stofftiere, Konfekt und Kerzen. Die Tafel zeigt die Gesichter der sieben Opfer, unter ihnen eine Mutter und ihre drei Töchter. Die Wohnung in der Hausnummer 44, in der die Familie gewohnt hat, gibt es nicht mehr. Nur der Vater hat überlebt. Sadowyj hat ihn getroffen: "Ich habe die Hölle in seinen Augen gesehen."

Ein Meer aus Fahnen, Kerzen, Blumen und Fotos

Die ganze Monstrosität des Krieges wird auf dem Marsfeld deutlich, auf dem die gefallenen Soldaten aus Lemberg bestattet sind. Es sind wohl 1000 Gräber. Ein Meer aus blau-gelben Fahnen, Kerzen, Blumen, Fotos von Soldaten. Auf einem Grab, in einer durchsichtigen Plastikhülle, ein eingeschweißtes Schokocroissant, wohl die Leibspeise eines Gefallenen. Im Regen steht eine Frau an einem der Gräber, vielleicht die Mutter des Soldaten, der dort bestattet wurde. Sie wischt den Rahmen seines Fotos trocken. Dann setzt sie ihre Schirmmütze ab, beugt sich runter und küsst sein Foto.

"Sollen diese Opfer vergebens sein?", fragt Olena Duch. Die Deutschlehrerin ist nach einem Jahr in Freiburg mit ihren Kindern nach Lemberg zurückgekommen. Die Liste der Menschen an der Front, für die sie und ihre Freunde beten, wird immer länger. Dass die Ukraine ihr Territorium an Russland abtritt, ist für sie unvorstellbar. "Russland wird nie aufhören", sagt sie. Deshalb müsse man weiterkämpfen, bis zum Sieg.

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Am Ende einer kurzen Nacht und eines langen Tages, nach 22 Stunden in Lemberg, besteigt die Delegation nachdenklich wieder ihren Reisebus. "Es ist etwas anderes, darüber zu lesen oder es zu erleben. Wir müssen dieses Land aktiv unterstützen", sagt Stadträtin O'Sullivan. Auf dem Weg zur Grenze rauscht ein Konvoi vorbei. Auf der Ladefläche schweres militärisches Gerät. Noch ein Checkpoint. Dann wieder in Polen, in Sicherheit.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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