Dass rund 40.000 Teenager und junge Erwachsene – und damit etwa 15 Prozent aller geschätzten Obdachlosen hierzulande – vorübergehend oder dauerhaft auf der Straße leben müssen, in Köln sind es mehr als 3.000 Minderjährige, ist skandalös genug.

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Abgesehen davon, dass der Staat dazu verpflichtet ist, die Grund-, Menschenrechte und die Würde eines jeden hier lebenden Menschen zu schützen – wozu ein Dach über dem Kopf zählt – und die Städte und Gemeinden in der gesetzlich verbrieften Pflicht sind, betroffene Personen unterzubringen, "ist die Straße keine gute Kinderstube. Jeder Tag in Obdachlosigkeit ist ungesund und extrem gefährlich", mahnt Markus Seidel.

Der Gründer der "Off Road Kids"-Stiftung, der einzigen bundesweit tätigen Hilfsaktion für "Straßenkinder" und akut von Obdachlosigkeit bedrohter junger Menschen – mit einem Standort in Köln und an vier weiteren deutschen Großstädten, berichtet von einer weiteren dramatischen Zahl: Fast die Hälfte, nämlich 44 Prozent der jungen Betroffenen zwischen 14 und 27 Jahren sind weiblich. Wobei mit "Betroffenen" konkret Teenager und junge Erwachsene ohne ein "Zuhause" gemeint sind, von denen 50 Prozent irgendwo vorübergehend Unterschlupf finden, 28 Prozent in Notunterkünften unterkommen und 17 Prozent auf der Straße leben.

44 Prozent der jungen Obdachlosen sind weiblich

Den hohen Anteil an Mädchen und jungen Frauen sieht Seidel auch darin begründet, dass die Jugendhilfe hierzulande generell und besonders für Mädchen häufig zu früh beendet würde. "Da sie zeitiger als Jungen in die Pubertät kommen, früher sagen: Ich halte es nicht mehr aus, ich muss da raus, aus dem Elternhaus, der Wohngruppe, dem Heim entsteht beim Jugendamt oder anderen Einrichtungen der Jugendhilfe schnell der Eindruck, Mädchen seien früher in der Lage, ihr Leben selbst zu regeln. Die leeren Kommunalkassen treiben die Verselbstständigung in die eigenen vier Wände zusätzlich voran. In den meisten Fällen scheitert sie brachial, da den jungen Menschen die nötige Unterstützung seitens des Elternhauses oder der Behörden fehlt."

Die leeren Kommunalkassen treiben die Verselbstständigung in die eigenen vier Wände zusätzlich voran. In den meisten Fällen scheitert sie brachial, da den jungen Menschen die nötige Unterstützung seitens des Elternhauses oder der Behörden fehlt

Markus Seidel, Gründer und Sprecher des Stiftungsvorstands der „Off Road Kids“

Ein weiterer Grund sei, dass junge Frauen im Fall einer Trennung eher dazu bereit seien, ihrem Partner die Wohnung zu überlassen. "Wir erleben in unserem Beratungsalltag häufig, dass junge Frauen dann zunächst bei Freunden oder Bekannten unterkommen. Sobald diese Möglichkeiten aber erschöpft sind, suchen sie über Social-Media-Kontakte Unterschlupf", sagt Sven Aulmann, der Leiter des Kölner Off-Road-Kids-Standorts, der seit vergangener Woche im neuen Domizil, einen Steinwurf vom Kölner Hauptbahnhof entfernt, an der Komödienstraße beheimatet ist.

Sexuell ausgebeutet im Gegenzug für einen Unterschlupf

Via Social Media werden so fremde Sofas zur Überlebensstrategie von betroffenen Mädchen und jungen Frauen – die nicht selten mit enormen Risiken verbunden ist. Aulmann: "Wenn sie etwa in ihrer Not in Abhängigkeiten geraten und – auch sexuell – ausgebeutet werden im Gegenzug für eine Unterkunft." Um diese Gefahr und den Absturz auf die Straße zu minimieren, hat "Off Road Kids" vor sechs Jahren das digitale Beratungsangebot "sofahopper.de" ins Leben gerufen. Es zielt darauf ab, junge Menschen, die in verdeckter Wohnungslosigkeit leben, frühestmöglich zu erreichen.

Verdeckte Wohnungslosigkeit nennt man das Phänomen, wenn Menschen zwar keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum, aber immer wieder ein Dach über dem Kopf haben, weil sie vorübergehend bei Freunden, Bekannten, Verwandten oder eben auf fremden Sofas unterkommen. Sie sind nicht sichtbar im Stadtbild – und damit auch für "klassische" Streetworker kaum erreichbar.

Digitale Streetwork bei sofahopper.de

"sofahopper.de" verlagert diese Straßensozialarbeit ins Internet. "Bereits in der Phase verdeckter Obdachlosigkeit, quasi noch auf dem fremden Sofa, bieten unsere speziell ausgebildeten Mitarbeitenden betroffenen jungen Menschen via Text-Chat, Videokonferenz oder Smartphone eine niederschwellige Beratung an. 90 Prozent der Hilferufe gehen inzwischen online ein", sagt Seidel – rund 7.500 waren es allein im vergangenen Jahr.

"Mit dieser früh einsetzenden, professionellen Beratung verhindern wir in vielen Fällen, vor allem aber bei jungen Menschen, die weit entfernt von einem unserer fünf bundesweiten Standorte leben, nachweislich und wirksam, dass sie auf der Straße landen und schaffen gemeinsam mit ihnen reale Chancen auf tragfähige Lebensumstände mit einem sicheren Zuhause und einem Job", sagt Aulmann.

Wir helfen den jungen Menschen zunächst, ihr Umfeld aufzuräumen. Wer beispielsweise Schulden hat, psychische Probleme oder keine Wohnung, wer überfordert ist mit Behördenangelegenheiten, kann sich nicht aufs Lernen konzentrieren

Sven Aulmann, Leiter des „Off Road Kids“-Standorts in Köln

Wie das "remote", also via Internet, funktioniert? Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der "Off Road Kids" analysieren und klären gemeinsam mit den jungen Hilfesuchenden im ersten Schritt deren individuellen Probleme und ihren konkreten Hilfebedarf. Anschließend begleiten sie akute Behördengänge, die Sicherung ihres Wohnraums oder die Wohnungssuche und führen Verhandlungen mit Ämtern, Einrichtungen beziehungsweise Vermietern. "In dieser sogenannten Stabilisierungsphase versuchen wir gemeinsam, individuelle Möglichkeiten einer Ausbildung oder eines Jobs herauszufinden und können, je, nachdem, im Rahmen unseres Prejob-Programms einen Schulabschluss anbieten", sagt Seidel.

Schulabschluss für junge Obdachlose auch in Köln

Prejob ist ein eigens von der Off Road Kids-Stiftung entwickeltes Bildungsprogramm für obdachlose junge Menschen, das ihnen auch in Köln die Möglichkeit bietet, einen Schulabschluss nachzuholen – sehr individuell und mit enger sozialpädagogischer Begleitung. "Wir helfen den jungen Menschen zunächst, ihr Umfeld aufzuräumen. Wer beispielsweise Schulden hat, psychische Probleme oder keine Wohnung, wer überfordert ist mit Behördenangelegenheiten, kann sich nicht aufs Lernen konzentrieren", sagt Aulmann.

Insgesamt hat Off Road Kids seit seiner Gründung im Jahr 1993 11.510 jungen Menschen – davon 2.000 allein in Köln – ein Dach über dem Kopf organisiert, was in Zeiten knappen Wohnraums eine immer größere Herausforderung bedeutet. An seinen fünf Streetwork-Standorten in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Hamburg und Köln – und mit seiner Online-Beratung "sofahopper.de" beriet und betreute das Team von "Off Road Kids" im vergangenen Jahr knapp 7.500 betroffene junge Menschen, in Köln waren es 1.100.

Wir rechnen mit knapp 8.000 zusätzlichen Beratungsanfragen verzweifelter junger obdachloser Menschen, das sind fünfmal so viele Hilfesuchende wie vor Corona

Markus Seidel, Gründer der„ Off Road Kids“-Stiftung

Von den rund fünf Millionen Euro Kosten, die der Verein dafür jährlich aufbringen muss, stammen mit 2,4 Millionen Euro nur etwa die Hälfte aus staatlichen Förderungen, den Rest muss die Stiftung mit Spenden finanzieren – auch von "wir helfen". Und die werden immer nötiger, denn "wir rechnen mit knapp 8.000 zusätzlichen Beratungsanfragen verzweifelter junger Menschen, das sind fünfmal so viele Hilfesuchende wie vor Corona", sagt Seidel – und klärt mit einem weit verbreiteten Vorurteil auf: Dass, wer jung obdachlos würde, drogenabhängig – oder aus anderem Grund selbst Schuld an seiner Lage sei.

Junge Obdachlose: Die Ursache liegt oft im Elternhaus

"Drogen können ein Auslöser sein, meist sind sie aber die Folge der Obdachlosigkeit – ebenso wie Armut. Auch die Schule ist nicht der Treiber für die Flucht auf die Straße: im Gegenteil, oft ist sie der einzige Struktur-gebende Faktor im Leben dieser jungen Menschen. In der Regel liegt die Ursache im Elternhaus begründet, das, egal ob reich, gebildet oder nicht, dem Kind nicht genügend Support geboten hat – oder bieten konnte", sagt Seidel – "Unsere jungen Klienten sind ein 1:1-Abbild unserer Gesellschaft und stammen aus allen Schichten, größtenteils haben sie aber eine erfolglos durchlaufene Jugendhilfe-Karriere hinter sich".

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Es gibt also nicht den einen Lebensweg, der auf die Straße führt. "Mietschulden, Streitereien, Gewalt, andere unerträgliche Zustände im Elternhaus oder im Heim, aber auch unvorhergesehene Lebensereignisse wie Trennung, der Tod eines Angehörigen oder eine Krankheit erhöhen die Risiken: jede und jeder von uns kann auf der Straße landen", erinnert Aulmann.

So können Sie helfen

  • Mit unserer neuen Jahresaktion "wir helfen: dass Kinder wieder mutig in die Zukunft gehen" bitten wir um Spenden für Projekte und Initiativen in Köln und der Region, die benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu einer motivierenden Zukunftsperspektive verhelfen und die Kompetenzen, die sie dafür brauchen, fördern und stärken. Damit jeder junge Mensch eine Chance hat!
  • Die Spendenkonten lauten: wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.
  • Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55
  • Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25
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