- 25.000 Euro und viel Ehre: Der Deutsche Buchpreis 2022 geht in die Schweiz.
- Gewonnen hat Kim de l'Horizon mit dem Roman "Blutbuch".
- Die Erzählfigur steht zwischen den Geschlechtern.
Kim de l'Horizon erhält den Deutschen Buchpreis 2022 für den Roman "Blutbuch". Das gab die Jury am Montagabend beim Festakt in Frankfurt bekannt. Der Deutsche Buchpreis zeichnet den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Die Ehrung ist mit 25.000 Euro dotiert. Kim de l'Horizon wurde in der Schweiz geboren und sieht sich weder eindeutig als Mann noch als Frau. Dieses Thema prägt auch den Roman, der bei DuMont erschienen ist.
"Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l'Horizons Roman "Blutbuch" nach einer eigenen Sprache", urteilte die Buchpreis-Jury. "Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht?" Die Romanform sei in steter Bewegung: "Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ."
Debütroman von Kim de l'Horizon
Kim de l'Horizon selbst lässt die eigene Biografie bewusst im Vagen: Im Klappentext heißt es: "geboren 2666". Laut Börsenverein wurde Kim de l'Horizon 1992 bei Bern geboren, studierte Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften in Zürich sowie Literarisches Schreiben in Biel. Dem Roman-Debüt, das zuvor bereits mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet wurde, gingen zehn Jahre Schreibarbeit voraus.
Sechs Finalisten hatten zuletzt auf der sogenannten Shortlist gestanden. Neben Kim de l'Horizon waren das Fatma Aydemir ("Dschinns"), Kristine Bilkau ("Nebenan"), Daniela Dröscher ("Lügen über meine Mutter"), Jan Faktor ("Trottel") und Eckhart Nickel ("Spitzweg"). Die fünf Nominierten der Shortlist erhalten jeweils 2.500 Euro. Die Jury hatte insgesamt 233 Titel gesichtet.
Der Deutsche Buchpreis möchte die Aufmerksamkeit "auf die Vielschichtigkeit der deutschsprachigen Literatur lenken", sagte Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, bei der Preisverleihung: "eine Einladung, die Grenzen der eigenen Wahrnehmung zu erweitern. Bestenfalls holen wir uns damit gegenseitig aus unseren Filterblasen heraus, bewegen uns und andere zum Nach-, Um- und Weiterdenken."
Überraschender Sieg für "Blutbuch"
Es ist ein überraschender Sieg: ein Buch, an dem nichts Mainstream ist. Das 300 Seiten starke Werk ist ein wilder Ritt durch Themen und Stile. Gedanklicher Ausgangspunkt ist eine Blutbuche. Sie steht im Garten der Großmutter, die im Laufe der Erzählung dement wird. Ein Teil des Buches besteht aus akribisch recherchiertem Material über diesen Baum, ein anderer Teil aus erfundenen Biografien aller weiblichen Vorfahren der Großmutter bis zurück ins Mittelalter.
Der Roman ist aber auch ein sensibel beobachtetes Familiendrama: die Schweizer "Großmeer" ist ein ewig monologisierender Drachen. Die unglückliche Mutter verwandelt sich in Belastungsphasen in eine "Eishexe", die das Kind mit ihrer Kälte zu Tode ängstigt. Der Vater spielt keine Rolle - oder maximal als abschreckendes Beispiel, ein Mann, der "Hmrgrmpf" sagt, nur eben "nicht mit Buchstaben gesagt. Sondern mit Gliedmaßen."
Darin verwoben ist die Geschichte der Identitätsfindung der Erzählfigur. Aus dem "flüssigen" Kind wird zuerst ein schwuler Jugendlicher und dann eine Person, die so wenig definiert ist, dass die Sprache dafür erst erfunden werden muss: "Dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, (...) die genau das Gegenteil von einander seien, das erzähle ich nicht weiter."
Kim de l'Horizon schreibt "jemensch" und "niemensch" statt jemand und niemand, "mensch" statt man, aber den Lesefluss stört das erstaunlich wenig. Eine einheitliche Gestalt hat der Roman ohnehin nicht: mal zart, mal derb, mal theoriebeladen, mal psychologisch, mal popliterarisch. Um es mit Kim de l'Horizons eigenen Worten zu sagen: ein "naugty text, der einfach nicht staight sein will", der sich "wegdreht, wegquengelt, wegqueert".
Deutliches Statement bei der Dankesrede
Bei der Dankesrede für den Deutschen Buchpreis rasierte sich Kim de l'Horizon aus Solidarität mit den Frauen im Iran den Kopf: "Dieser Preis ist nicht nur für mich." Nach der Bekanntgabe am Montagabend im Frankfurter Römer war Kim de l'Horizon zuerst ins Publikum gestürmt, um Wegbegleiterinnen zu umarmen. Danach dankte Kim de l'Horizon unter Tränen der eigenen Mutter und sang danach spontan und ohne Begleitung ein Lied. Der Preis sei auch "ein Zeichen gegen den Hass und für die Liebe". (ng/dpa)

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