"Ist das nur eine kurze Lernblockade?"
"Oder hat mein Kind eine Lernschwäche?"
"Mache ich mir voreilig Sorgen?"
"Was kann ich bei einer Lernstörung tun?"
Solche und ähnliche Fragen stellen sich wahrscheinlich viele Eltern, sobald die schulischen Leistungen ihrer Kinder nicht den eigenen oder den schulischen Erwartungen entsprechen. Schwierigkeiten beim Lernen sind bei Kindern oder auch Erwachsenen nichts Ungewöhnliches − und treten je nach Lebens- und Lernumständen immer wieder mal auf. Menschen sind keine Lernroboter und es kann viele Ursachen haben, warum das Lernen schwerfällt. Doch ab wann spricht man nun von einer Lernschwäche bzw. einer Lernstörung? Dieser Artikel soll einen ersten Überblick darüber verschaffen, wo entscheidende Unterschiede sind, und gibt Tipps, wie man im Alltag mit dem Thema Lernschwäche umgehen kann.
Eine Lernschwäche liegt dann vor, wenn die Entwicklung in Bezug auf Lernerfolge spürbar beeinträchtig ist. Lernschwäche ist der eher umgangssprachliche Ausdruck für eine Lernstörung: Das Kind bzw. die betroffene Person hat große Schwierigkeiten beim Lernen, Lernfortschritt und Lernerfolg sind deutlich gestört.
Der Begriff "Lernschwäche" sagt nichts über die Intelligenz eines Menschen aus!
Kinder mit Lernschwäche sind in der Regel genauso intelligent wie Gleichaltrige, sind jedoch tendenziell deutlich schwächer, wenn es um schulische Leistungen geht. Eine Lernstörung liegt dann vor, wenn bei einem Kind langfristige oder schwerwiegende Probleme beim Lesen, Schreiben oder Rechnen feststellbar sind. Hier helfen dann auch keine gut gemeinten Lerntipps aus dem privaten Umfeld mehr. In diesen Fällen sollte gezielte Lernförderung in Betracht gezogen werden, da ansonsten mit Schwierigkeiten bis ins Erwachsenenalter zu rechnen ist.
Menschen mit Lernschwächen müssen nicht zwangsläufig in jedem Bereich und ihr Leben lang beim Lernen Schwierigkeiten haben. Oft sind Lernschwächen auch temporär und nur auf einzelne schulische Bereiche bezogen. Kinder und Jugendliche erbringen in bestimmten Bereichen nicht die Leistung, die Lehrkräfte und Eltern aufgrund Ihrer Intelligenz von ihnen erwarten. Das Missverhältnis zwischen erbrachter und erwarteter Leistung deutet dann ggf. auf eine Lernstörung hin. Daher spricht man bei Lernstörungen auch von Teilleistungsstörungen: Bestimmte Fähigkeiten konnten vom Gehirn nicht entwickelt werden, ohne dass dies Auswirkungen auf die Intelligenz eines Menschen hat. Legasthenie und Dyskalkulie gelten beispielsweise als Teilleistungsschwäche.
Zu den bekanntesten und weit verbreiteten Lernschwächen gehören:
Übrigens: Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat jedes dritte Schulkind in Deutschland deutliche Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen; bei etwa der Hälfte dieser Kinder lässt sich aufgrund anhaltender gravierender Schwierigkeiten von einer Lernstörung sprechen (Stand 2021).
Weitere Lern- bzw. Entwicklungsstörungen:
Grundsätzlich ist es sehr wichtig, Legasthenie, Dyskalkulie oder AD(H)S bereits im Kindesalter – also so früh wie möglich – zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Bleiben Lernstörungen unerkannt, entwickeln sich aus den daraus entstehenden Problemen ggf. auch psychische Störungen. Doch wie können Eltern erste Zeichen deuten und erkennen, ob ihr Kind eventuell eine Lernschwäche hat? Warnsignale sind generell immer, wenn Kinder regelmäßig Bauchweh bekommen, sobald eine Klassenarbeit ansteht, und sie eine Art Schulangst entwickeln. Das Verschweigen von schlechten Noten, anhaltende Probleme bei den Hausaufgaben, Frust und zunehmende Ängstlichkeit sind dann weitere Hinweise, bei denen Eltern genau hinschauen und nachfragen sollten. Zudem gibt es bestimmte Anzeichen, die auf eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Rechenschwäche hinweisen können:
Bitte beachten: Es sollte vorab immer sichergestellt werden, dass Probleme beim Lesen, Schreiben oder Rechnen sowie andere Einschränkungen beim Lernen keine rein körperlichen Ursachen haben. Vielleicht benötigt ein Kind nur eine Brille oder ein Hörgerät, um dem Unterricht folgen zu können.
Besteht der Verdacht, dass ein Kind eine Lernstörung hat, ist es wichtig, zunächst einmal eine Diagnose vom entsprechenden medizinischen Fachpersonal vornehmen zu lassen: Legasthenie oder Dyskalkulie werden durch auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Fachpraxen oder Kliniken festgestellt – auf Basis internationaler statistischer Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation. Die Kosten solcher Diagnosen werden von den Krankenkassen übernommen. Bevor keine seriöse Diagnostik vorliegt, sollten keine voreiligen Schritte unternommen werden.
Legasthenie und Dyskalkulie können viele Ursachen haben – genetische oder neurologische, soziale und/oder emotionale. Wenn ein Elternteil bereits eine Lernschwäche hat, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind auch eine Lernschwäche entwickelt. Neurobiologische Faktoren können Lernschwächen begünstigen bzw. auslösen, wenn beispielweise bestimmte Botenstoffe im Gehirn fehlen oder nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Heilbar im klassischen Sinne sind weder eine Legasthenie noch eine Dyskalkulie und auch ADHS wird als genetisch bedingte Verhaltens- und Entwicklungsstörung betrachtet. Doch manche Lernschwächen können auch ausgelöst werden durch äußere Einflüsse – wie z. B. seelische Belastungen, Überforderung, familiäre Probleme – und sind daher nicht vererbt oder körperlich bedingt.
Nach und nach rutschen solche Kinder und Jugendliche in eine Außenseiterrolle und das Selbstwertgefühl sinkt dramatisch. Dadurch kann auch sog. "kompensatorisches Verhalten" entstehen: Vermeintliche Mängel (in diesem Fall eine Lernschwäche) werden durch (vermeintlich besondere) Leistungen auf anderen Gebieten ausgeglichen. So kann es geschehen, dass sich ein Kind ständig zum Klassenclown macht oder gezielt den Unterricht stört. Es entstehen dauerhafte Konflikte und die ursprüngliche Problematik gerät mehr und mehr in den Hintergrund. Dadurch kann die Lernstörung sozusagen "gedeihen", sie entwickelt und verschlimmert sich immer weiter, die Lerndefizite nehmen zu. Das hat zur Folge, dass Selbstwertgefühl und Lernbereitschaft am Ende ganz schwinden; Hilflosigkeit macht sich breit und jegliche Anstrengung wird als komplett wirkungslos empfunden. Und leider lässt dann häufig auch das Vertrauen von Eltern und anderen (Bezugs)Personen aus dem näheren Umfeld nach. Ein Ausweg aus dieser Situation wird für alle immer schwieriger.
Hierbei werden auch die Grenzen von Nachhilfe deutlich:
Liegt eine ausgeprägte Lernstörung vor und sind die Wissenslücken dadurch sehr groß, kann Nachhilfe (allein) meist nicht mehr abfedern, was versäumt wurde. Wenn Kinder trotz Nachhilfe keine Lernfortschritte machen, ist das ein Signal, dass eine andere Art der Förderung oder andere Maßnahmen notwendig sind.
Fehlende schulische Erfolge aufgrund einer Lernschwäche sind kein Zeichen von mangelnder Intelligenz, sondern haben andere Ursachen. Das sich hartnäckig haltende Vorurteil, dass Menschen mit Lernstörung weniger intelligent seien, ist absoluter Blödsinn! Kinder mit NLS, also einer nonverbalen Lernstörung, sind zum Beispiel oft besonders sprachbegabt und haben ein phänomenales Gedächtnis. Dafür haben Sie jedoch Probleme mit der Koordination und der Grob- und Feinmotorik. Es ist auch keineswegs ungewöhnlich und kommt im Schulalltag häufiger vor als viele denken, dass hochbegabte Kinder und Jugendliche, ernste Lernstörungen entwickeln können, wenn diese Hochbegabung unerkannt bleibt bzw. nicht früh genug gefördert wird.
Auch ist die Annahme, Kinder ohne Förderbedarf würden schlechter lernen, wenn Kinder dabei sind, die Schwierigkeiten beim Lernen haben, nicht korrekt. Unterschiedliche Voraussetzungen in einer Schulklasse oder an der Universität sind für die Leistungen innerhalb einer Klasse nicht entscheidend. Menschen mit Lernschwächen profitieren von einer offenen Umgebung mit "Normallernenden" und lernen dadurch oft deutlich besser. Tatsächlich lernen gerade auch Kinder und Jugendliche sehr gut miteinander – und voneinander. Die individuelle Lernfähigkeit hängt zudem auch von vielen unterschiedlichen Faktoren ab, u. a. der eigenen Motivation, welchem der bekannten Lerntypen das Kind ggf. zugeordnet wird, ob möglicherweise Lernblockaden vorliegen oder wie stark das Selbstvertrauen durch das Umfeld gestärkt. Egal, ob jemand eine Lernschwäche hat oder nicht: Berührungsängste, Selbstzweifel oder Vorurteile werden nur abgebaut, wenn sich Eltern, Lehrkräfte und Betroffene austauschen, vorurteilsfrei bleiben und sich gegenseitig unterstützen.
Eine Lernschwäche ist absolut kein Hinderungsgrund, ein erfolgreiches und erfülltes Leben zu führen – und das zu machen, was man möchte. Drehbücher lesen? Na klar! Es gibt viele berühmte Schauspielerinnen und Schauspieler, die eine Lese-/Rechtschreibschwäche haben, wie zum Beispiel Whoopi Goldberg, Keira Knightley, Orlando Bloom und Tom Cruise. Auch Albert Einstein, Walt Disney und Benjamin Franklin, die Autoren Ernest Hemingway und Hans Christian Andersen sowie der Apple-Mitgründer Steve Jobs waren offenbar Legastheniker. Der deutsche Politiker und Thüringens erster linker Ministerpräsident Bodo Ramelow überraschte 2019 in einer Talksendung mit dem Bekenntnis, eine ausgeprägte Rechtschreibschwäche zu haben – und erntete dafür viel Lob: Eine Lernschwäche zu offenbaren, empfinden viele Menschen leider immer noch als ein Wagnis.
Auch der Arzt und TV-Moderator Eckart von Hirschhausen berichtet im Jahr 2023, wie weit und mühevoll der Weg bis zur Diagnose für ADHS-Betroffene sein kann – und erfährt während der Reportage zum Thema, dass er selbst ebenfalls ADHS hat. Unzählige einflussreiche Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik hatten oder haben AD(H)S – so wie Bill Gates, Channing Tatum, Emma Watson und Justin Bieber, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Kreatives Denken, ungewöhnliche Herangehensweisen und große Produktivität: Menschen mit Lernschwächen können ihre außergewöhnlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten auch nutzen, um Gedanken fließen und Neues entstehen zu lassen und außerhalb der Konventionen zu denken. Bücher schreiben, Weltkonzerne steuern, Stilrichtungen prägen, Staaten lenken, … – alles ist möglich!
Eine (unentdeckte) Lernschwäche verursacht zunächst einmal Unsicherheit, Frust und auch Kummer – bei allen Beteiligten. Eltern, aber auch Lehrerinnen und Lehrer haben das sicherlich schon oft von verzweifelten Kindern gehört: "Ich kann das nicht!" oder "Ich kapier das nicht, ich bin einfach zu blöd dafür!" oder "Egal, was ich tue, ich lerne das nie!"
Misserfolge und schlechte Bewertungen verursachen Druck und Versagensängste. Ein Kind, das solche Sätze sagt, fühlt sich minderwertig und dumm. Das geht nicht nur Kindern so. Hat ein Kind immer weniger Erfolgserlebnisse, beginnen die Schwierigkeiten: Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Schulangst. Und je länger diese Zustände andauern, desto schlimmer wird es. Doch wie geht man im Alltag damit um? Was können Eltern tun, um ein lernschwaches Kind richtig zu unterstützen? Maßnahmen und Verhaltensweisen, die helfen können:
Wenn man eine Lernschwäche bei seinem Kind vermutet oder auch der Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin einen Verdacht äußert, ist es entscheidend, sich gezielt Hilfe zu suchen – und zwar von entsprechenden Anlaufstellen. Erste Ansprechpersonen sind wohl am besten die Lehrkräfte in der Schule. Doch ein Besuch in der Kinderarztpraxis ist ebenfalls sinnvoll: Dort erhält man Kontaktadressen zu Fachärztinnen und Fachärzten, die dazu qualifiziert sind, Lernstörungen zu diagnostizieren. Auch im Internet, z. B. auf den Seiten des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e.V., findet man weiterführende Informationen und Hilfe bei der Suche nach qualifiziertem Personal. Ist eine Störung diagnostiziert, kann man gezielt durch pädagogische Ansätze unterstützen, wie etwa durch die Förderung von Lese- und Schreibfähigkeiten oder auch durch gezielte Verhaltensinterventionen. Auf Schulebene können und müssen dann Unterstützungs- und Fördermaßnahmen wie z. B. Individualisierung des Unterrichts und Förderpläne in Betracht gezogen werden. Als therapeutische Ansätze können Logopädie und Ergotherapie, Verhaltenstherapie oder auch eine medikamentöse Behandlung in Betracht gezogen werden.
Tipp: Nachteilsausgleich oder Notenschutz prüfen
Im deutschen Sozialrecht gibt es "Hilfen für behinderte Menschen zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen": ein sog. Nachteilsausgleich. Wurde eine Lernschwäche oder eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung beim Sprechen, Hören oder Sehen, bei der körperlichen bzw. motorischen Entwicklung, der emotionalen bzw. sozialen Entwicklung festgestellt oder Autismus diagnostiziert, steht dem Kind ein Nachteilsausgleich zu. Es bleibt dabei den Eltern überlassen, ob sie einen Nachteilsausgleich bzw. Notenschutz oder spezielle Fördermaßnahmen im Schulbetrieb in Anspruch nehmen möchten. Ein Nachteilsausgleich könnte dabei wie folgt gestaltet sein: mehr Zeit bei Klassenarbeiten, mündliche Prüfungen statt schriftliche (z. B. bei Legasthenie), individuelle Anpassungen bei der Aufgabenstellung, zusätzliche technische oder andere Hilfsmittel (z. B. Laptop, Wörterbuch), Berücksichtigung der spezifischen Beeinträchtigung bei der Beurteilung (z. B. liegen motorische Störungen vor; sind Tippfehler eher zu tolerieren), das Kind muss nicht vor der Klasse vorlesen oder ähnliche Maßnahmen.
Unzureichende Aufklärung, fehlende oder gar falsche Diagnosen, Ignoranz und sich hartnäckig haltende Vorurteile rund um das Thema Lernschwäche führen immer wieder zu viel Kummer und unzureichender bis mangelnder Unterstützung von betroffenen Menschen. So fällt zum Beispiel ADHS oft erst dann auf, wenn bei den Betroffenen schwere Depressionen, Essstörungen oder Suchtkrankheiten als Begleiterscheinungen oder Folgeerkrankungen auftreten. Jahrelanges Leid hätte durch rechtzeitige Erkennung und Behandlung häufig erfolgreich vermieden werden können. Unerkannte und unbehandelte Lernstörungen können der Beginn eines langen Leidensweges sein – für die Betroffenen selbst, aber auch für Angehörige und Menschen im nahen Umfeld. Um Lernschwächen vorzubeugen oder ihnen bestmöglich zu begegnen, sind frühkindliche Bildung, gezielte Förderung sowie Sensibilisierung und Aufklärung von ganz entscheidender Bedeutung. Es geht am Ende immer darum, Selbstvertrauen zu stärken, ein positives Selbstbild zu fördern sowie dazu beizutragen, dass Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene mit Lernschwierigkeiten Strategien und Maßnahmen entwickeln können oder vorfinden, die ihnen dabei helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ihre Interessen und Belange zu vertreten und zu gestalten (Empowerment).