Menschen, die in einer Beziehung sind, verbringen gerne Zeit miteinander und schmieden gemeinsame Pläne. Laut Paartherapeutin Micaela Peter ist das auch wichtig. Schließlich ist das Wir-Gefühl in einer Partnerschaft wichtig. Allerdings könnte das in einzelnen Fällen auch nach hinten losgehen. Worauf Paare achten sollten, erklärt die Diplompsychologin im Interview mit unserer Redaktion.

Ein Interview

Frau Peter, wenn zwei Menschen zusammenfinden und ein Paar werden, entsteht schnell ein Wir-Gefühl. Das ist erst einmal etwas Positives, oder?

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Micaela Peter: Ja, selbstverständlich. Das ist auch ein notwendiges Gefühl, so eine Verbundenheit zu spüren. Wir sind ein Paar, wir fühlen uns zueinander zugehörig, wir wollen gemeinsam Pläne schmieden und das Leben gestalten. Ein Wir-Gefühl ist ein meist tiefes Bedürfnis, das fast jeder in einer Partnerschaft sucht.

Kann dieses Wir-Gefühl auch umschlagen? Gibt es ein toxisches, ungesundes Wir-Gefühl?

In meiner Arbeit erlebe ich das Wir-Gefühl selten als toxisch. Ich erlebe oft, dass Paare so sehr in dem Wir aufgehen, dass es kein Ich und Du mehr gibt. Gar nicht in toxischer Weise, sondern eher in einer symbiotischen Art und Weise. Die Wahrnehmung für die eigene Autonomie und den eigenen abgegrenzten Bereich verschwindet: für eigene Hobbys, eigene Freunde, eigene Interessen. Die Konturen und Kanten der eigenen Persönlichkeit drohen zu verwässern, wenn man zu sehr in diesem Wir-Gefühl verschmilzt. Es kann passieren, dass die Anpassungen von beiden so stark darauf abzielen, Harmonie erzeugen zu wollen, dass irgendwann etwas von dem Eigenen verloren geht.

Wirkt sich das negativ auf die Beziehung aus?

Nicht unbedingt. Ein starkes Wir-Gefühl muss noch lange nicht heißen, dass einer der beiden darunter leidet. Es gibt viele Paare, die in ihrer Partnerschaft sehr symbiotisch sind. Sie wollen das so, sie wollen sich über die Partnerschaft identifizieren. Das sind diejenigen, die sagen "Wir mögen keine Kartoffelsuppe". Meistens ist es das Umfeld, das die Beziehung als ungesund sieht, während die beiden sich durchaus geborgen und sicher fühlen. Das Bedürfnis nach Autonomie, Individualität, Identität und Unabhängigkeit ist sehr individuell und nicht allgemeingültig. Wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, bei denen die Sehnsucht nach diesem Wir-Gefühl groß ist, gibt das den Partnern ein Gefühl von emotionaler Zugehörigkeit, Sicherheit und Verbundenheit. Wenn beide sich geliebt und geborgen fühlen, kann daran nichts verkehrt sein.

Ungleiche Beziehungsvorstellungen können schmerzhaft sein

Kann zu viel Nähe und gemeinsame Zeit der Beziehung auch schaden?

Es kommt immer darauf an, wie das Paar diese Nähe erlebt. Eine Voraussetzung ist, dass beide dasselbe Nähe- und Distanzbedürfnis haben. Wenn beide ein großes Nähebedürfnis haben, ist das Bedürfnis stark erfüllt. Wenn beide ein starkes Autonomiebedürfnis haben, ist es für beide in Ordnung, dass man sich ein- oder zweimal in der Woche trifft und ansonsten geht jeder seinen Interessen nach. Es wird dann zum Problem, wenn einer ein starkes Nähebedürfnis hat und der andere ein starkes Autonomiebedürfnis. Wenn die Bedürfnisse nicht zusammenpassen, kann es toxisch, problematisch oder krisenhaft werden. Während ein Partner sich nach mehr Wir sehnt, ist der andere dabei, sich seinen Autonomiebereich zu erkämpfen oder diesen zu verteidigen und fühlt sich bedrängt.

Was für die Person, die sich mehr Nähe wünscht, sehr schmerzhaft sein kann…

Ja. Allerdings ist es kein Ausdruck von mehr oder weniger Liebe, wie häufig man mit seinem Partner zusammen ist. Das verwechseln insbesondere Menschen mit einem starken Nähebedürfnis, die dann die Autonomiebedürfnisse des anderen als Distanzierung erleben. Das führt zu starken Irritationen und Verunsicherung.

Wenn ein Paar vieles gemeinsam macht, könnte es da besonders schmerzhaft werden, wenn man nicht mehr zusammen ist?

Wenn beispielsweise einem Partner etwas zustößt, ist es vermutlich schwieriger, das zu verkraften und sich ein neues Leben aufzubauen, wenn man eigene Interessen aufgegeben oder gar nicht entwickelt hat. Dann ist man allein und muss seine Tage füllen, die vorher mit dem Wir gefüllt waren. Das ist umso schwerer, je weniger Individuelles man hat. Insofern kann man sagen: Für die individuelle Stabilität ist es sicher nicht verkehrt, mit eigenen Beinen im Leben zu stehen und seine Interessen und seine Freunde zu haben. Eine gewisse Unabhängigkeit – wirtschaftlich und emotional – ist wichtig, damit das Zusammensein mit jemandem auf freiwilliger Basis erfolgt. Man kann zwar nicht sagen, dass das eine gesünder ist als das andere. Aber man kann sagen, dass Menschen, die ein autonomes, autarkes, unabhängiges Leben führen, oftmals anders im Leben stehen. Für die individuelle Stabilität und die Zufriedenheit ist ein gewisses Maß an Autonomie wichtig.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Als Paartherapeutin sehe ich häufig, dass Paare in eine Krise geraten, sobald sie eine Familie gegründet und die Rollen sich verteilt haben. Oft kümmert sich die Frau um die Kinder und gibt ihre finanzielle Autonomie auf und gerät damit in eine Abhängigkeit. Irgendwann werden die Kinder flügge. Die Frau hat vielleicht zehn oder 15 Jahre lang ihren Job vernachlässigt oder gar aufgegeben. Dann wird spürbar, dass man nicht unabhängig vom Partner ist. Was folgt, sind häufig Minderwertigkeitsgefühle. Gerade wenn die eigene Leistung – nämlich die Kinder zu versorgen – wegfällt. Wichtig ist, dass der Partner diese Arbeit sehr schätzt und anerkennt. Ist dem aber nicht so, kann ein Minderwertigkeitsgefühl entstehen sowie die Frage, was einen ausmacht, welchen Wert man für den anderen hat. Mit dieser mangelnden Wertschätzung haben viele ein ganz großes Problem. Die damalige Bereitschaft, für das Wir und die Familie etwas aufzugeben, fällt einem dann auf die Füße und man ist unzufrieden.

Emotionale Abhängigkeit: Das ist ein Anzeichen

Wie könnte man dem vorbeugen?

Man sollte sich die Frage stellen: Wie kann ich unabhängig bleiben, auch wenn ich Mutter oder Vater bin? Paare können sich Erziehungsaufgaben aufteilen. Es ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich oder notwendig, dass nur die Mutter Elternzeit nimmt oder ihren Job gänzlich aufgibt. Grundsätzlich sollte man vermeiden, in eine schwache oder abhängigere Position zu geraten.

Gibt es Anzeichen dafür, dass man emotional zu abhängig von seinem Partner ist?

Auf jeden Fall. Ein Anzeichen wäre beispielsweise, wenn der eine Partner ein paar Tage weg ist und man dann in so ein Loch fällt, dass man mit sich selbst nichts anzufangen weiß. Dass man merkt, man braucht den anderen, um seinen Tag zu gestalten oder sich wohlzufühlen oder das Leben als sinnvoll zu empfinden. Manche sind dann auch sehr ängstlich und machen sich Sorgen, dem anderen könnte etwas passieren. Sie fühlen sich völlig allein und einsam.

Freundschaften trotz Beziehung pflegen

Wir hatten auch kurz angerissen, dass manche, sobald sie in Beziehungen sind, sich nicht mehr so regelmäßig wie zuvor mit Freunden und Familie treffen. Haben Sie einen Tipp, wie man das ansprechen kann, wenn es einen stört?

Der Freund, der erlebt, dass jemand in seiner Beziehung so sehr aufgeht, aber die Freundschaft vernachlässigt, sollte das signalisieren. Etwa indem man sagt: "Ich vermisse dich und unsere Freundschaft. Ich habe Verständnis, dass du viel Zeit mit deinem Partner verbringen willst, aber ich möchte anregen, dass du darüber nachdenkst, ob ich dir noch wichtig bin. Denn eine Freundschaft lebt davon, dass man sie pflegt und dass man sich sieht und austauscht." Man kann auch anmerken, dass einem die gemeinsame Zeit fehlt.

Kann es denn auch ein Zeichen für mangelndes Selbstbewusstsein sein, wenn man durch eine Partnerschaft Sicherheit verspürt?

Das kann sein, muss aber nicht der Fall sein. Aber wenn sich einer der Partner in einer Beziehung unsicher oder unwohl fühlt, weil er spürt, er braucht den anderen, um sich vollkommen zu fühlen, würde ich sagen, ist das eindeutig ein Zeichen von mangelnder Autonomie. Zufriedenheit mit sich selbst sollte immer an erster Stelle stehen. Und je stärker die Selbstliebe ausgeprägt ist, desto besser ist man in der Lage, eine gesunde Beziehung zu führen. Und zu Selbstliebe gehört auch Autonomie. Zeiten, die man mit sich allein verbringt und alles stärkt, was dem Ich guttut, sind die beste Basis, sich auf jemanden und dessen Leben einzulassen.

Natürliche Autonomie ist das A und O

Manche Paare haben gemeinsame E-Mail-Adressen oder eine gemeinsame Versicherung. Ist das von Vorteil oder vielleicht auch von Nachteil für eine Beziehung?

Bei der E-Mail-Adresse würde ich spontan sagen: Das kann ein starkes, bewusstes Zeichen nach außen sein. Was beiden gefällt, ist auch okay. Es ist entscheidend, ob es darüber hinaus noch eine eigene E-Mail-Adresse gibt oder nicht. Man kann auch ein gemeinsames Konto für gemeinsame Ausgaben haben und jeder noch ein Konto, mit dem er machen kann, was er will. Wenn diese autonomen Bereiche völlig aufgelöst werden, sodass es hundertprozentige Transparenz gibt, – wer wem schreibt, wer was ausgibt, wofür wer was ausgibt – ist das meiner Erfahrung nach eher ungünstig. Und es ist ein Zeichen dafür, dass sich keine natürliche Autonomie entwickelt hat. Wenn jemand nicht autonom sein kann, ist das ungesund. Wenn jemand kann, aber nicht möchte, muss das nicht ungesund sein.

Wir haben über Paare gesprochen, die ein besonders ausgeprägtes Wir-Gefühl haben. Es gibt auch das andere Extrem…

Da trifft dasselbe Prinzip zu. Wenn es beiden gefällt, sich ein-, zweimal pro Woche zu sehen, ist dagegen gar nichts einzuwenden. Wenig gemeinsame Zeit geht dann nach hinten los, wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, von denen einer ein größeres Nähebedürfnis hat. Da entwickelt sich Leidensdruck, meist bei dem Partner, der das größere Verlangen nach Nähe hat. Ansonsten gilt: Fühlt man sich in seiner Beziehung wohl und hat das Gefühl von Nähe, Wärme und Verbundenheit, ist es egal, wie oft man sich sieht. Es gibt Paare, die sich nur alle zwei Wochen sehen, aber eine hohe Beziehungsqualität haben.

Ist es wichtig, über dieses Wir-Gefühl zu sprechen?

Man kann viel Leid abwenden, wenn man zu Beginn der Beziehung grob die Vorstellungen, die man von einer Beziehung hat, anspricht. Da spielt das Nähe-Distanz-Bedürfnis eine große Rolle. Was habe ich für eine Vorstellung von Partnerschaft? Soll jeder primär seinen eigenen Interessen nachgehen und man sieht sich einmal pro Woche? Oder möchte ich schon bald mit meinem Partner zusammenziehen und den Alltag teilen?

Kann sich das im Laufe der Beziehung auch ändern?

Ich habe es schon erlebt, dass sich Paare nach vielen Jahren dazu entschlossen haben, nicht mehr zusammenzuleben. Sie sind irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass sie eine bessere Beziehung hätten, wenn der Alltag mit den kleinen Streitereien zum Beispiel wegen des Haushalts nicht wäre. Und die sagen danach: "Mensch, hätten wir das mal viel früher gemacht!" Gerade in Langzeitbeziehungen wächst nicht selten die Sehnsucht danach, wieder einen eigenen Raum zu haben und sich nicht immer absprechen zu müssen – gerade dann, wenn die Kinder aus dem Haus sind.

Das finde ich überraschend. Persönlich würde ich das wahrscheinlich eher als Rückschritt betrachten…

Ich vermute, das würden die meisten so erleben. Da gehört Offenheit dazu, sich von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen der anderen zu lösen. Aber selbstbewusste Paare schaffen das – und führen danach häufig bessere Beziehungen.

"Sexualität wird von der Regulation von Nähe und Distanz befruchtet"

Inwiefern kann sich durch mehr Distanz eine Beziehung verbessern?

In Langzeitbeziehungen ist es schwer, eine lebendige und regelmäßige Sexualität aufrechtzuerhalten. Sexualität wird von der Regulation von Nähe und Distanz befruchtet. Zu viel Nähe und Symbiose wirkt sich zumeist dahingehend aus, dass die sexuelle Spannung nachlässt. Es kann sein, dass dadurch mehr Harmonie und Nähe entsteht. Aber viele Menschen beklagen, dass sie sich zwar nah und freundschaftlich fühlen, aber die sexuelle Spannung durch zu viel Nähe raus ist. Das ist auch wissenschaftlich erwiesen. Wenn man eine regelmäßige Sexualität möchte, ist man gut darin beraten, für Autonomie zu sorgen, denn dadurch entsteht ein Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz. Wenn ich mit einer Freundin ausgehe, mein Freund mit seinen Freunden, man dann wieder zusammenkommt, ist das Begehren größer als bei Paaren, die sich ständig sehen. Jeder hat etwas Eigenes erlebt, etwas zu berichten. Das ist attraktiv und inspirierend. Diese Bewegung aufeinander zu und voneinander weg – von dieser Spannung profitiert die Sexualität.

Distanz und Autonomie machen also attraktiver?

Durchaus. Man ist attraktiver für den Partner, wenn man eigene Interessen, eigene Freunde, autonome Bereiche hat. Denn in diesem Moment ist man für den Partner wie eine fremde Person. Man ist nicht verfügbar. Es ist nicht transparent, was man macht. Damit bleibt man ein Stück weit spannend, weil man geheimnisvoll ist. Und davon profitiert zumindest die Sexualität.

Zur Person: Micaela Peter ist Diplom-Psychologin, psychologische Psychotherapeutin und Paartherapeutin. Beratungen bietet sie nicht nur in ihrer eigenen Praxis in Hamburg an, sondern auch online via Skype, Facetime oder Zoom.
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