Warum essen wir im Westen keine Hunde, dafür aber Schweine, Rinder und Hühner? Diese und weitere Fragen rund ums Thema Veganismus hat uns die Karnismus-Expertin, vegane Tierrechts-Aktivistin, Autorin und Sozialpsychologin Melanie Joy im Interview beantwortet.
Ein durchschnittlicher Deutscher isst laut Albert Schweitzer Stiftung rund 150 Tiere pro Jahr. Warum finden wir das normaler, aber die Vorstellung, einen Hund oder eine Katze zu essen, ekelt uns an? Diese aufwühlende Frage stellt die US-amerikanische Sozialpsychologin und Autorin Melanie Joy ganz bewusst in ihrem Buch "Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Rinder anziehen”. Bereits vor zehn Jahren schrieb sie diesen Bestseller. Er gilt als ein Standardwerk zur Mensch-Tier-Beziehung. Nun ist das Werk zum Jubiläum als komplett überarbeitete und ergänzte Neuauflage im Ventil-Verlag erschienen.
Stell Dir vor, Du sitzt bei Freunden am Esstisch. Die Vorstellung ist vielleicht noch frisch, schließlich liegen Weihnachten und Silvester noch nicht lange hinter uns. Es duftet herrlich, das zarte Geschnetzelte zergeht Dir auf der Zunge und Du fragst die Gastgeberin begeistert nach dem Rezept.
Ihh, doch kein Rindfleisch?!
"Als Erstes nimmst Du fünf Pfund Golden-Retriever Fleisch, gut mariniert, und dann…”, bei ihrer Antwort wird Dir der Bissen vermutlich auf einmal gar nicht mehr schmecken. Du wirst sehr wahrscheinlich eine Mischung aus Ekel, Fassungslosigkeit und Wut spüren. Deine Welt steht Kopf. Wie kann jemand nur so leichtfertig und selbstverständlich einen niedlichen Hund töten und den besten Freund des Menschen dann auch noch zum genussvollen Verspeisen servieren?!
Karnismus – Was ist das überhaupt?
Gute Frage. Aber warum ruft der Verzehr von Rindfleisch nicht dieselbe Reaktion in uns hervor? Alles eine Frage der Wahrnehmung und Konditionierung, sagt Joy im Interview mit DeineTierwelt für unseren Podcast "Tierschutz-Update”. Dahinter steckt ein unsichtbares Glaubenssystem, das sie "Karnismus” nennt. "Wir haben gelernt, Tiere in bestimmte Schubladen zu stecken”, erklärt die Sozialpsychologin. "Karnismus” ist eine Form von "Speziesismus”. Darunter versteht man die moralische Diskriminierung von Lebewesen ausschließlich aufgrund ihrer Artzugehörigkeit. Dem "Karnismus” steht das Wertesystem Veganismus gegenüber.
Durch das In-Schubladen-Stecken entwickeln wir unterschiedliche Vorstellungen und Gefühle gegenüber den Tieren – und behandeln sie entsprechend auf verschiedene Art und Weise. So unterscheiden wir zum Beispiel zwischen sogenannten Nutz- und Haustieren. Die einen sind zum Kuscheln da, während die anderen scheinbar nur einen Zweck haben: von uns gegessen, angezogen und anderweitig (ausge-/)benutzt zu werden.
Ein System der Unterdrückung und Gewalt
"Karnismus” ist tief in unserem Wertesystem und unserer sozialen Struktur verwoben. "Es ist ein unterdrückendes System, das von tiefgreifender Gewalt geprägt ist”, betont die Forscherin. Nur die Opfer blieben für die meisten Menschen unsichtbar. Die Verwandlung vom lebendigen Huhn zur Hähnchenkeule vollzieht sich oft im Verborgenen in Schachthäusern. Die Gewissheit, dass ein toter Körper auf ihren Tellern liegt, ignorieren viele Fleischesser bequemerweise. Aber: 124.000 Tiere werden weltweit im Minutentakt geschlachtet.
"Wenn Tiere zu essen keine Notwendigkeit ist, ist es eine Entscheidung”, sagt Joy und führt fort: "Und Entscheidungen kommen immer von Überzeugungen. Wir realisieren das bloß nicht, dass wir eine Entscheidung treffen, wenn wir Tiere essen.” Das Töten und Konsumieren von Tieren ist in unserer Gesellschaft normalisiert.
Die meisten Leute würden dieses Glaubenssystem niemals willentlich unterstützen, sagt die Sozialpsychologin. Obwohl es eigentlich ihren eigenen moralischen und ethischen Wertvorstellung widerspricht, essen die meisten Leute Tiere und Tierprodukte, ziehen ihre Haut an und benutzen Kosmetik, die an Tieren getestet wird. – Und all das, ohne überhaupt zu realisieren, dass sie damit direkt zu komplett unnötigem und heftigem Tierleid beitragen, sagt Joy.
Warum Veganismus, reicht nicht die vegetarische Lebensweise?
Veganer versuchen, zu so wenig Tierleid wie möglich zu vermeiden. Dazu gehört zum Beispiel, auf Produkte tierischen Ursprungs wie Milch, Eier, Honig, Leder, Daunenkissen – und Jacken, Gelatine, Karmin (roter Farbstoff in Make-Up-Produkten, für den Schildläuse getötet werden).
Aber führt das nicht alles etwas zu weit? Reicht es nicht, einfach kein Fleisch mehr zu essen? Veganer sagen: "Nein!” Denn für die Milchproduktion sterben auch Kühe. Schließlich werden die meisten männlichen Kälber nicht mehr gebraucht, denn sie geben ja keine Milch. Nur ein paar wenige starke Bullen werden benötigt, um für Nachwuchs zu sorgen. Die Kühe werden allerdings künstlich befruchtet.
Mutterkühe und Kälber werden kurze Zeit nach der Geburt getrennt, damit die Kühe gemolken werden können. Es gibt Videos, die zeigen, wie die Mütter nach ihren Babys schreien oder ihnen hinterherlaufen. Die männlichen Kälber landen meist in der Mast und werden nach wenigen Monaten geschlachtet.
"Psychisches Leid, physisches Leid, Krankheit, Verfall: Nach drei bis vier Jahren ist eine Industriemilchkuh-Schrott”, fasst es Friedrich Mülln, Gründer und Vorstand der Augsburger Tierschutzorganisation SoKo-Tierschutz in Worte. Zusammen mit dem Meeresbiologen und Umweltschützer Robert Marc Lehmann ist er auf Undercover-Mission in verschiedenen Milchvieh-Betriebe gegangen. Was sie da gefilmt haben, siehst Du hier im YouTube-Video. Aber Vorsicht, es sind erschreckende und verstörende Aufnahmen.
Davor müssen sie allerdings anstrengende Torturen während des Transports (auch in Drittländer) über sich ergehen lassen, die viele Bullen nicht überleben. Die Euter der Kühe schwellen teilweise sehr unnatürlich groß an, oder entzünden sich. Um Krankheiten zu vermeiden, bekommen die Kühe Medikamente wie Antibiotika. Da sich Eiter und Blut in der Milch befinden kann, wird sie vor dem Verkauf pasteurisiert, das bedeutet hoch erhitzt.
Auch in der Eierindustrie herrscht Tierleid – die Hühner sind auf engstem Raum in Käfige gepfercht, picken sich vor Stress selbst die Federn und gegenseitig die Augen aus. Kürzlich schrieb die Supermarktkette Lidl Negativ-Schlagzeilen, weil Tierschützer heimliche Aufnahmen bei Lidls spanischem Zulieferer machten, die sterbende Hühner im Maststall zeigen. Wir berichteten in unserem Podcast "Tierschutz-Update” darüber.
Warum hat Veganismus so ein schlechtes Image?
Da Karnismus unseren grundlegenden menschlichen Werten wie Mitgefühl und Gerechtigkeit gegenüberstehe, so die Autorin, brauche es psychologische Abwehrmechanismen, um sich selbst aufrechtzuerhalten. Deshalb gebe es so viele Fehlinformationen über Veganismus und Mythen rund um den Konsum von Tieren. Veganer gelten als zu emotional, irrational, schwach und verweichlicht.
Hier sei die Schnittstelle von Karnismus und dem Patriarchat und Rassismus zu sehen. Denn dieselben Verteidigungen und Stereotype seien laut Joy benutzt worden, um Menschen, die in der Geschichte andere Arten der Unterdrückung herausgefordert haben, zum Schweigen zu bringen.
Das Essen von Tieren gelte hingegen als normal, natürlich und notwendig. "Karnismus” bringe uns zudem bei, Tiere, insbesondere Farmtiere, als Objekte anzusehen. Dadurch fälle es uns leichter, kein Mitgefühl gegenüber ihnen zuzulassen. So falle es leichter, das vorhandene Glaubenssystem aufrechtzuerhalten. Jedem, der es infrage stelle, werde seine Legitimität abgesprochen. Deshalb seien viele Fleischesser so abwehrend gegenüber allen Informationen, die das herausfordern, was sie als ihr Recht, Tiere zu essen, betrachten.
Die Rechtfertigung des Tiere-Essens ist strukturell verankert
Das liege daran, dass "Karnismus” ein sogenanntes dominantes Glaubenssystem sei und wir es alle verinnerlicht hätten, so die vegane Aktivistin. Es sei also so weit verbreitet, dass seine Lehren in der Struktur unserer Gesellschaft verwoben sind und so unsere Normen, Gesetze, Überzeugungen, Verhaltensweisen und so weiter formen. Diese Ideologie ist also institutionalisiert. Das heißt, sie werden durch alle großen Institutionen unterstützt: Regierung, Wirtschaft, Medizin und so weiter, erklärt Joy.
Das sei einer der Gründe, warum es so hilfreich sein könne, Karnismus zu erkennen, erklärt sie. "Nur, weil du Tiere isst, heißt das nicht, dass du ein schlechter Mensch bist”, betont die Autorin. Weiterhin führt sie aus: "Wir sind alle konditioniert. Uns wurde ALLEN eingetrichtert, nicht das zu sehen, was direkt vor uns ist. Und es kommt nur darauf an, ob man aufwacht.”
Wenn Du nun selbst etwas unternehmen möchtest, um Tierleid so gut es geht zu vermeiden, hat Joy hier einige Tipps für Dich: "‚Karnismus‘ ist von Dir abhängig, Dich von etwas abzuwenden, das genau vor Dir ist. Wenn Du Tiere liebst, hast Du jeden Tag mehrmals die Möglichkeit, Tiere zu retten, einfach durch Deine Ernährungsumstellung.”
Die Autorin weiter: "Du kannst so vegan sein wie möglich. Falls Du Deine Ernährung verändern möchtest durch langsames Weglassen von tierischen Produkten: Die zwei wichtigsten karnistischen Produkte, die man reduzieren sollte, sind Huhn und Fisch. Denn dafür sterben die meisten Tiere. Informier Dich gerne darüber und informiere andere. Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, ist wirklich der Schlüssel.”
Joy rate den Leuten immer: "Sei so vegan, wie Du kannst. Du musst nicht nach dem Motto ‚alles oder nichts‘ leben.” Und sie ermuntere die Leute dazu, die Bewegung zu unterstützen: "Du kannst Deine Ressourcen, Deine Fähigkeiten dafür aufwenden, zum Beispiel an Organisationen spenden, die sich gegen Karnismus einsetzen. Du kannst Familienmitglieder in ihrem Veganismus unterstützen, damit sie hoffentlich vegan blieben können. Du kannst Deinen lokalen Restaurants dabei helfen, fleischfreie Montage einzuführen. Du kannst Initiativen wählen, die sich für Bauernhoftiere und Gesetzesänderungen einsetzen.” © Deine Tierwelt
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