Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schieben kurz vor oder während der Arbeitszeit noch schnell einen Arztbesuch ein. Doch ist das überhaupt erlaubt?

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Müssen Arztbesuche in die Freizeit gelegt werden oder dürfen sie auch in die Arbeitszeit fallen? Henning Schultze, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei der Münchner Kanzlei WSK, erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion die arbeitsrechtliche Lage und in welchen Fällen Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlte Freistellung haben.

Herr Rechtsanwalt Schultze, ein Arbeitnehmer bekommt während der Arbeitszeit hohes Fieber oder heftige Zahnschmerzen. Darf er sofort zum Arzt gehen?

Henning Schultze: Natürlich. Wenn der Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt, kann er selbstverständlich auch während der Arbeitszeit zum Arzt gehen. Es herrscht dann nämlich keine Arbeitsverpflichtung, da keine Arbeitsfähigkeit besteht. Schreibt ihn der Arzt krank, besteht Entgeltanspruch bis zur Dauer von sechs Wochen. Das heißt: In diesem Fall ist der Mitarbeiter quasi bezahlt freigestellt.

Was passiert, wenn der Termin für eine allgemeine Vorsorgeuntersuchung während der Arbeitszeit ist?

Grundsätzlich gilt: Arzttermine sind Privatsache des Arbeitnehmers. Wenn eine sofortige Behandlung medizinisch nicht nötig ist, muss der Arbeitnehmer zunächst unbedingt versuchen, einen Termin außerhalb der Arbeitszeit zu vereinbaren. Nur wenn der Arzt nicht bereit ist, auf diesen Wunsch einzugehen, darf der Arbeitnehmer während der Arbeitszeit zum Arzt gehen. Das gleiche gilt, wenn der Arzt überhaupt keine Sprechstunden außerhalb der Arbeitszeit anbietet.

Kann der Arbeitgeber vom Mitarbeiter fordern, einen anderen Arzt um einen besseren Termin zu bitten?

Nein, das darf er nicht. Jeder Arbeitnehmer darf den Arzt seines Vertrauens aufsuchen. Der Grundsatz der freien Arztwahl gilt prinzipiell auch im Arbeitsrecht.

Und was ist mit der morgendlichen Blutabnahme im nüchternen Zustand?

Der Termin ist hier von der Arztpraxis vorgeben und fällt unter die Kategorie "medizinisch unvermeidbar". Aber auch in diesem Fall sind Arbeitnehmer grundsätzlich verpflichtet, einen Termin am Rande der Arbeitszeiten zu wählen.

Besteht Anspruch auf Lohnfortzahlung bei jedem Arztbesuch während der Arbeitszeit?

Ob die Vergütung für diesen Zeitraum fortzuzahlen ist, richtet sich nach § 616 BGB. Diese Vorschrift besagt, dass der Arbeitnehmer prinzipiell bei unverschuldeter kurzfristiger Abwesenheit vom Arbeitsplatz seinen Vergütungsanspruch behält. Eine Ausnahme ist, wenn diese Vorschrift im Arbeitsvertrag außer Kraft gesetzt ist, was aber selten vorkommt. Hat der Arbeitnehmer alles versucht, den Termin außerhalb der Arbeitszeit zu verlegen, bleibt der Vergütungsanspruch in aller Regel erhalten.

Wie sieht es bei Gleitzeit und Teilzeit aus?

Bei Teilzeit und Gleitzeit wird es dem Arbeitnehmer in der Regel möglich sein, einen Arzttermin außerhalb der Arbeitszeiten zu legen. Deshalb ist es für Mitarbeiter in Teilzeit oder Gleitzeit schwieriger zu argumentieren, sie könnten einen Arztbesuch nur während der Arbeitszeit wahrnehmen.

Rein rechtlich betrachtet unterscheiden sich allerdings die Grundsätze für Vollzeitmitarbeiter, Teilzeitmitarbeiter und Mitarbeiter in Gleitzeit nicht. Aber auch hier sind Ausnahmen denkbar, wie für eine ambulante Spezialuntersuchung im Krankenhaus.

Wenn das Kind krank ist?

Erkrankt das Kind des Arbeitnehmers oder ein Angehöriger, der Begleitung zum Arzt braucht, gilt das Gleiche wie beim eigenen Arztbesuch. Der Mitarbeiter muss primär versuchen, eine anderweitige Betreuung des Kindes oder des Angehörigen sicherzustellen. Wenn es um die Betreuung des kranken Kindes zu Hause geht, die nicht anders gewährleistet werden kann, kann Anspruch auf bezahlte Freistellung bestehen. Allerdings nicht unbegrenzt, sondern nur für einen vorübergehenden kürzeren Zeitraum von maximal fünf Tagen. Aber diese Fälle sind sehr umstritten im Arbeitsrecht.

Was gilt für regelmäßige Behandlungen wie die wöchentliche Krankengymnastik oder zehn Sitzungen beim Psychologen?

Diese Termine werden nicht anders gesehen als ein Arztbesuch. Sie müssen also medizinisch notwendig und dürfen nur während der Arbeitszeit sein, wenn keine andere Möglichkeit besteht. Außerdem muss es sich um kurzfristige Abwesenheiten handeln, ein gewisser zeitlicher Rahmen darf also insgesamt nicht überschritten werden.

Was ist mit Untersuchungen in der Schwangerschaft?

Schwangerschaft ist ja keine Krankheit. Hier gilt das Mutterschutzgesetz, nachdem Arbeitgeber Frauen für Untersuchungen, die zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, bezahlt freistellen müssen.

Muss der Arbeitgeber vorher über den Arztbesuch informiert werden?

Bleibt ein Arbeitnehmer der Arbeit fern, hat er den Arbeitgeber vorher über Grund und Dauer der Abwesenheit zu informieren. Das gilt auch für Arztbesuche. Wer wegen Krankheit arbeitsunfähig ist, muss sich abmelden und spätestens am dritten Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom Arzt vorlegen. Wer nicht krank gemeldet ist und ohne Ankündigung für einen Arzttermin fernbleibt, kann eine Abmahnung kassieren. Im Wiederholungsfall kann dies auch zur Kündigung führen.

Kann ein Nachweis für den Arztbesuch gefordert werden?

Der Arbeitgeber kann das fordern. Aus Sicht des Mitarbeiter macht es auch Sinn, sich eine vom Arzt unterschriebene Bescheinigung ausstellen zu lassen. Denn er will ja schließlich Lohn dafür haben, wofür er eigentlich nicht gearbeitet hat.

Henning Schultze ist Rechtsanwalt und seit 2005 Fachanwalt für Arbeitsrecht. Der 46-Jährige ist Partner der Münchner Arbeitsrechtskanzlei "Wolff Schultze Kieferle" (https://www.wsk-arbeitsrecht.com/)


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