Beruflicher Erfolg ist, wenn man auf der Karriereleiter nach oben steigt. Oder? Der Coach und Autor Martin Wehrle vertritt eine andere These: Karriere bedeute, an dem Ort zu sein, an dem man sich selbst am wohlsten fühle. Zur Not auch die Karriereleiter wieder nach unten.
Früher machte er als Topmanager Karriere, heute will er Menschen helfen, einen gesunden Ausgleich zwischen Berufs- und Privatleben zu finden. Im Interview erzählt Martin Wehrle, warum er als coach inzwischen mehr Karriereabstiegsberatungen statt -aufstiegsberatungen anbietet.
Sie sind Karrierecoach. Bei dem Begriff denken die meisten Menschen vermutlich an ein Coaching, um die Karriereleiter hinaufzusteigen. Dabei bieten Sie immer mehr Abstiegs- statt Aufstiegsberatungen an. Was steckt dahinter?
Martin Wehrle: In früheren Jahren haben Menschen Karriere immer damit verbunden, möglichst hoch in einer Hierarchie aufzusteigen. Mittlerweile haben aber immer mehr Menschen verstanden, dass Karriere bedeutet, an dem Ort zu sein, an dem man sich selbst am wohlsten fühlt. Viele Menschen, die sehr schnell aufgestiegen sind, stellen irgendwann fest, das eigentliche Glück ihres Berufes zu verlieren.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Ein begnadeter Verkäufer, der den Kontakt mit seinen Kunden liebt, wird eines Tages zum Vertriebsleiter. Er mag nun zwar mehr Geld verdienen und eine höhere Position innehaben, aber es ist dennoch möglich, dass er in dieser Position wesentlich unglücklicher ist, weil er nicht mehr das tut, was er liebt. Aus diesem Grund habe ich immer mehr Klienten und Klientinnen, die nicht auf-, sondern absteigen wollen auf eine Höhe, auf der sie sich wirklich wohlfühlen.
Karriere bedeutet für Sie also nicht zwangsläufig Aufstieg?
Richtig. Karriere bedeutet, an dem Ort zu sein, an dem man selbst die größte Erfüllung findet.
Gehört dazu auch, einen gesunden Ausgleich zwischen Berufs- und Privatleben zu finden?
Absolut! Vor allem die jüngere Generation lebt bereits nach dieser Devise und lehnt teilweise sogar Beförderungsangebote ab. Auch die typische Fünftagewoche im Büro kommt für sie häufig nicht mehr infrage, weil sie das Leben als Gesamtheit zwischen Berufs- und Privatleben sieht. Das ist auch der Grund, warum zahlreiche Unternehmen für mehr Homeoffice oder eine freiere Zeitgestaltung werben. Denn sie verstehen, dass etwa der Wunsch nach einer Viertagewoche nichts mit Faulheit zu tun hat. Vielmehr wird erkannt, dass hier ein selbstbewusster Mensch für sich und seine Ziele einsteht. Wenn er das für seine persönlichen Ziele kann, kann er das vermutlich auch für das Unternehmen und ist authentisch, weil die eigenen Interessen vernünftig und mit Maß vertreten werden.
Sie selbst haben damals Ihren hochrangigen Managerposten aufgegeben – weil Sie Ihre Arbeit eigenen Angaben zufolge als immer sinnloser empfunden haben. Was genau hat sich damals abgespielt?
Mein Herz hat mich dazu aufgefordert, etwas zu tun, das Sinn ergibt. Denn das, was ich damals in meinem Managerposten getan habe, hat häufig keinen Sinn ergeben, weil ich meine Handlungen nicht immer vertreten habe. In großen Unternehmen geht es nicht immer um Sinn, doch es geht immer um Gewinn. All das unterstützt man direkt oder indirekt, wenn man Teil dieses Systems ist. Ich habe also auf mein Herz gehört und mich als Karriereberater selbstständig gemacht. Denn so war ich lediglich meinen Klientinnen, Klienten und meinem Gewissen verpflichtet und konnte mit ihnen an ihrer Erfüllung arbeiten.
Welche Rolle hat Ihr Kopf bei dieser Entscheidung gespielt?
Mein Kopf hatte natürlich eine widersprüchliche Meinung. (lacht) Immerhin war ich mit Anfang 30 in einer Position tätig, die mir ein gutes Gehalt einbrachte. Da wäre man doch wahnsinnig, all das für eine unsichere Selbstständigkeit aufzugeben. Aber wie wir heute wissen, hat sich das Herz durchgesetzt, worüber ich sehr froh bin.
Nun ist Ihr neues Buch "Dieses Buch verändert dein Leben – wie du deine Lebensfreude verdoppelst und deine Probleme halbierst" erschienen. Wer sollte dieses Buch lesen?
Alle Menschen, die das Gefühl haben, ihr Leben verlaufe nicht so, wie sie es sich wünschen. Menschen, die das Gefühl haben, zu viel Zeit für die Arbeit und zu wenig für ihre Herzensthemen aufzuwenden. Menschen, die das Gefühl haben, von ihrer Vergangenheit belastet zu sein und mit vielen Umständen zu grollen. Und Menschen, die das Gefühl haben, nicht genug zu sein und sich demnach fortwährend optimieren wollen. Kurzum: Menschen, die noch nicht ihr richtiges Leben gefunden haben und ihre Einmaligkeit noch nicht mit Leben füllen, weil sie ihre Lebensfreude verloren haben. Diese Menschen möchte ich ermutigen, in kleinen Schritten erst ihr Denken und dann das Handeln zu verändern.
Warum neigen manche Menschen dazu, in einer Spirale, in der ihnen die Lebensfreude abhandengekommen ist, zu bleiben, anstatt auszubrechen?
Das hat einen psychologischen Grund. Denn das Vertraute bereitet uns immer weniger Angst als das Unbekannte. Ein Beruf oder eine Beziehung, in der Betroffene sich nicht wohlfühlen, ist immer noch berechenbarer als der Schritt in etwas Neues. Denn auch wenn das Neue möglicherweise viel besser ist, macht es Angst, weil es zunächst nicht berechenbar ist. Aus diesem Grund haben Menschen häufig Angst davor, Veränderungen anzustoßen. Der große Fehler hierbei ist, dass die Menschen sich häufig ein viel zu hohes Ziel setzen und demnach entsprechend unter Druck stehen.
Können Sie hier ein Beispiel nennen?
Ein typischer Fall ist der Marathon. Menschen, die in ihrem Leben noch nie gejoggt sind, setzen sich das Laufen eines Marathons als Ziel. Dieses Ziel ist meist zu hoch gegriffen. Vielmehr empfehle ich, kleine Schritte zu gehen – dabei ist es am wichtigsten, überhaupt erst einmal mit dem Laufen anzufangen, auch wenn es anfangs nur fünf Minuten sind. Irgendwann werden daraus zehn Minuten, dann 15 und so weiter und eine gewisse Dynamik entwickelt sich. So kommt die Person auf natürliche Weise irgendwann bei einem Marathon an. Vielleicht stellt sie auch fest, dass ein Zehnkilometerlauf bereits ausreicht, um glücklich zu sein – doch das Wichtigste ist getan: nämlich, dass die Person begonnen hat, etwas zu verändern.
Eine hohe und verantwortungsvolle berufliche Position spielt in unserer Gesellschaft dennoch eine große Rolle. Wie können wir das Denkmuster, man sei nur etwas wert, wenn man erfolgreich ist, ablegen?
Der Erfolg wird gesellschaftlich noch immer über den Beruf definiert. Aber stimmt das wirklich? Leisten Eltern, die ihre Kinder erziehen und auf das Leben vorbereiten, gesellschaftlich nicht viel mehr als ein Topmanager? Oder die Person, die ehrenamtlich im Krankenhaus schwer kranken Menschen etwas vorliest? Umso wichtiger ist es, sich von äußeren Etiketten nicht länger beeindrucken zu lassen, sondern das Wort Selbstwert auf eine neue Stufe zu heben. Wir dürfen unseren Wert nicht davon abhängig machen, was die anderen sagen – in diesem Fall sind wir ein Fähnchen im Wind. Vielmehr geht es darum, unseren Selbstwert selbst zu definieren.
Über den Gesprächspartner
- Martin Wehrle ist Karriere- und Lebenscoach, Experte in Sachen Unternehmensführung und -kultur sowie langjähriger Bestsellerautor. Im Oktober ist sein neues Buch "Dieses Buch verändert dein Leben – wie du deine Lebensfreude verdoppelst und deine Probleme halbierst" erschienen.
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