Linken-Chefin Janine Wissler hat unlängst gefordert, Hausaufgaben an den Schulen abzuschaffen. Im Gespräch mit unserer Redaktion äußert sich eine Lehrerin kritisch zu diesem Vorschlag.
"Hast du deine Hausaufgaben gemacht?" In den meisten Familien gehört diese Frage zum Alltag. Eine Frage, die zu Stress führen und das Familienleben vergiften kann, sagt Linken-Chefin
Denn eben dieser Stress bedeute laut der Politikerin "Streit, Überforderung, Tränen und schürt Aggressionen. Für alle Eltern und ganz besonders für voll Berufstätige und Alleinerziehende." Wissler fragt: "Warum tut man Familien das an?"
Ferner seien viele Eltern gar nicht in der Lage, ihre Kinder bei den täglichen Hausaufgaben zu unterstützen. Weil sie arbeiten müssten oder auch, weil es ihnen an entsprechenden Sprachkenntnissen fehle. Laut Wissler vertiefe das das Dilemma im Bildungssystem, denn "das Bildungsniveau der Eltern darf nicht entscheidend sein für die Erfüllung schulischer Aufgaben".
Worum genau handelt es sich bei Hausaufgaben eigentlich? Um auf die Forderungen Wisslers reagieren zu können, bedarf es zunächst einer Klärung dieser Frage, meint Stefanie Düvier, die als Lehrerin und Beratungslehrerin an einem niedersächsischen Gymnasium tätig ist.
Antworten finden sich in dem jeweiligen Hausaufgabenerlass der Bundesländer, erklärt sie. So sollen Hausaufgaben etwa den Unterricht ergänzen und den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler unterstützen. Dabei gilt es für die Lehrenden, nur solche Hausaufgaben zu stellen, "deren selbstständige Erledigung den Schülerinnen und Schülern möglich ist", führt Düvier aus und nimmt damit Bezug auf die Kritik Wisslers, Eltern seien häufig bei der Hausaufgabenbetreuung ihrer Kinder überfordert.
"Wenn Eltern regelmäßig in die Hausaufgaben ihres Kindes eingebunden sind und dies als stressig empfinden, muss die Frage gestellt werden, warum das Kind die Hausaufgaben nicht allein erledigt", erklärt sie. In diesem Zusammenhang muss etwa geklärt werden, ob das Kind möglicherweise Probleme hat, sich selbst zu organisieren oder die schulischen Inhalte zu verstehen. Aber auch die Frage, ob sich das Kind schlichtweg daran gewöhnt hat, Hilfe durch Eltern zu erhalten, spiele eine Rolle.
"Eigentlich sollen Eltern nicht helfen"
Wisslers Aussage, Hausaufgaben verlagern schulische Lehre in die Familien, kann Düvier nicht bestätigen. Vielmehr gehe es bei Hausaufgaben um eine Ergänzung des Lernstoffs sowie um eine Unterstützung des Lernprozesses, bekräftigt sie. Die These Wisslers, Hausaufgaben hätten keinerlei positive Auswirkungen auf die Lernleistung, bestätigt sie hingegen, da diese "meist reproduktiv" seien.
Was aber, wenn Eltern ihren Kindern aus verschiedenen Gründen nicht bei der Erbringung der Hausaufgaben helfen können? Wissler vertritt den Standpunkt, das Bildungsniveau der Eltern dürfe nicht entscheidend sein für die Erfüllung schulischer Aufgaben. Doch laut Düvier sollte dieses Argument streng genommen keine maßgebliche Rolle spielen, denn "eigentlich sollen Eltern nicht helfen".
Die Lehrerin weiß aber ebenso: "Die Chancenungleichheit in Bezug auf den Bildungsgrad des Elternhauses ist unbestritten." Sollte ein Kind also Probleme bei der Erbringung der schulischen Leistung haben, gilt es ihrer Einschätzung nach zu klären, ob die Inhalte möglicherweise nicht verständlich genug erklärt wurden oder betroffene Schülerinnen und Schüler andere Verständnisprobleme haben könnten. Für Düvier steht fest: "In diesem Fall muss von der Lehrkraft Unterstützung gegeben werden."
Wisslers Aussage, es handele sich häufig um Aufgabe der Eltern, den "Überblick zu behalten, welche Hausaufgaben in welchen Fächern bis wann fällig sind", sieht Düvier ebenfalls kritisch. Hier spiele vor allem das Alter der Kinder eine Rolle, wenn es um das Erlernen von Selbstständigkeit gehe. Schülerinnen und Schüler ab der siebten Klasse etwa schätzt Düvier als selbstständig genug ein.
"In der Grundschule und in Klasse 5 und 6 zusammen die Tasche zu packen und die im Schulplaner notierten Aufgaben abzuhaken", kann ihrer Einschätzung zufolge hingegen "Elternaufgabe" sein. "Dies kann als Ritual in den Familienalltag eingebaut werden und muss nicht zwingend zu Stress führen", ergänzt sie.
"Wenn man diesen Schritt fordert, müssen auch Alternativen geboten werden"
Der kategorischen Forderung Wisslers, die Hausaufgaben abzuschaffen, kann Düvier nicht zustimmen. "Wenn Hausaufgaben abgeschafft werden, wann sollen die Aufgaben dann erledigt werden? Wann soll geübt, vorbereitet und Selbstständigkeit erlernt werden?", fragt sie sich.
Düviers Berufserfahrung zeigt, dass nur eine Ganztagsschule diese Leistungen erbringen könnte. In der in Deutschland vorherrschenden Halbtagsschule funktioniere das nicht, sagt Düvier, ergänzt aber, dass Schulen für jüngere Schülerinnen und Schüler Hausaufgabenbetreuungen anbieten.
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Düviers Eindruck: Viele Eltern setzen sich häufig selbst stark unter Druck, anstatt "ihr Kind mit ungemachten oder unvollständigen Hausaufgaben in die Schule zu schicken." Hier sieht die Lehrende den eigentlichen Knackpunkt. "Besser wäre doch eine offene Kommunikation mit den Lehrkräften", führt sie an. Hat ein Kind etwa Probleme mit den Hausaufgaben und den schulischen Inhalten, "kann man gemeinsam herausfinden, wo das Problem liegt", appelliert sie.
Düviers persönlicher Meinung zufolge sei eine Debatte über die Abschaffung der Hausaufgaben möglich. Es gebe "Punkte, die dafür und genug, die dagegen sprechen", erklärt sie. "Wenn man diesen Schritt aber fordert, müssen auch Alternativen geboten werden", kritisiert sie Wisslers Aussage, aus Hausaufgaben sollen Schulaufgaben werden.
Denn man dürfe die Frage nicht vergessen, wo die Schulaufgaben dann erledigt würden: "Beim aktuellen Lehrermangel gar nicht so leicht zu beantworten."
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