Kein Kind gleicht dem anderen – weder in seinem Verhalten noch in seinen Bedürfnissen. Wenn Eltern an ihren eigenen und den Ansprüchen anderer verzweifeln, sollten sie den Blick nach innen richten, sagt Experte Remo H. Largo. Denn es gibt einfache Gründe, warum Kinder so sind, wie sie sind.
Das Thema Kindererziehung ist ein heikles Thema. Wie sieht die ideale Erziehungsmethode aus und wie weit darf Erziehung gehen? Diese Frage müssen sich täglich nicht nur Eltern stellen, sondern auch Pädagogen, Erzieher und Ärzte.
Was passieren kann, wenn Eltern trotz guter Vorsätze an ihren Kindern verzweifeln und nicht mehr weiter wissen, zeigte jüngst die Dokumentation "Elternschule".
Proteste von entsetzten Eltern und Kritikern des Films fluteten die sozialen Netzwerke. Die Staatsanwaltschaft Essen ermittelt aktuell aufgrund der im Film angewandten Therapiemethoden an Kindern sogar gegen die Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen.
Erziehungsmethoden, die Eltern wirklich helfen
Ein Mann, der sich in den vergangenen Jahrzehnten wie kaum ein anderer mit dem Thema Kindererziehung beschäftigt hat, ist der Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo. Sein Buch "Babyjahre" gehört zu den Klassikern im Regal eines jeden Elternhaushaltes und hat ihn zu einem der renommiertesten Autoren der Ratgeberliteratur in diesem Bereich gemacht.
Im Interview spricht der 74-Jährige über den umstrittenen Film "Elternschule", die Grundbedürfnisse von Kindern sowie Erziehungsmethoden, die Eltern und Kindern wirklich helfen.
Die Dokumentation "Elternschule" hat in den vergangenen Wochen für eine hitzige Debatte rund um das Thema Kindererziehung gesorgt. Warum ist der Film Ihrer Meinung nach so problematisch?
Remo H. Largo: Für mich gibt es drei gewichtige Gründe. Der Film suggeriert, dass die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, die in der im Film gezeigten Klinik bei Kindern mit schweren Verhaltensauffälligkeiten zur Anwendung kommen, auch ein essenzieller Bestandteil des "normalen" Erziehungsalltages sein sollen. Damit sind sehr viele Eltern, Fachleute und auch ich nicht einverstanden.
Der zweite Grund betrifft die unterschiedlichen Vorstellungen über die Bedeutung der Kind-Eltern-Beziehung. Der dritte Grund besteht darin, dass die Vielfalt unter den Kinder, etwa bezüglich dem Schlafverhalten, nicht berücksichtigt wird.
Wenn verzweifelte Eltern auf Verhaltenstherapie mit Schlaf-, Ess- und Trennungstrainings setzen: Wie lange tragen die Erfolge einer solchen Therapie denn wirklich?
Selbstverständlich sollen Eltern die Hilfe von Fachleuten bekommen, wenn sie mit ihrem Kind schwierige Zeiten durchmachen. Was jedoch immer mein Hauptanliegen war: Die Eltern auf Dauer möglichst kompetent und selbstständig machen. Dazu gehört, dass sie wissen, dass die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Eigenheiten von Kind zu Kind unterschiedlich sind.
So verabschieden sich gewisse Kinder beim Eintritt in die Kita problemlos von ihrer Mutter. Andere tun sich schwer damit und brauchen mehr Zeit, sich von ihr zu trennen und eine verlässliche Beziehung zu den Erzieherinnen und anderen Kindern einzugehen. Die Eltern dieser Kinder haben nicht versagt, nur weil ihr Kind mehr Zeit braucht, um emotional selbständig zu werden.
Woran liegt das, dass manche Kinder leichter allein zurechtkommen oder besser schlafen als andere?
Jedes Kind ist in seinen Bedürfnissen einzigartig. So gibt es Kinder, die nach wenigen Wochen nachts durchschlafen. Andere schaffen es erst viele Monate später, einen regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus zu entwickeln. Sie sind besonders darauf angewiesen, dass die Eltern eine gewisse zeitliche Ordnung in den Tagesablauf einbringen. Im Alter von einem Jahr benötigen manche Kinder bis zu 14 Stunden Schlaf am Tag, andere lediglich neun Stunden oder gar noch weniger.
Wenn Eltern davon ausgehen, dass ihr einjähriges Kindes zwölf Stunden pro Nacht schlafen muss, weil es in vielen Ratgebern so steht, es aber nur zehn Stunden schlafen kann, wird das Kind abends Mühe mit dem Einschlafen haben oder nachts aufwachen oder früh morgens wach sein. Im schlimmsten Fall haben die Eltern unter allen drei Schlafstörungen zu leiden. Es gilt also, als Eltern – auch im eigenen Interesse – auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einzugehen.
Welche Bedeutung hat für Sie die Kind-Eltern-Beziehung?
Sich geborgen und angenommen fühlen ist für die psychische Entwicklung eines Kindes genauso wichtig wie die Ernährung für sein körperliches Wachstum. Die Einmaligkeit der kindlichen Bindung besteht darin, dass das Kind erwartet, von den Eltern bedingungslos akzeptiert zu werden. So, wie es nun mal ist. Als Gegenleistung sind für das Kind die Eltern die Größten, weshalb sie vom Kind sehr viel Zuwendung erhalten.
Die Innigkeit der gegenseitigen Beziehung hängt mitunter davon ab, wie feinfühlig die Eltern mit dem Kind umgehen. Also wie gut sie auf seine individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten eingehen, und wie viel Zeit sie miteinander verbringen. Gemeinsame Zeit ist eines der kostbarsten Güter, die Eltern ihrem Kind geben können.
Alle Eltern kennen den Satz: "Wer sich genug um sein Kind kümmert, hat keine Probleme." Doch wovon hängt es ab, ob Kinder etwas tun oder nicht?
Eine tragfähige, vertrauensvolle Beziehung zwischen Kind und Eltern ist die beste Voraussetzung, dass das Kind brav ist. Was aber keineswegs bedeutet, dass der Erziehungsalltag konfliktfrei wäre. Wie konflikthaft der Alltag ist, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem auch von der Persönlichkeit und dem Temperament des Kindes.
Aber ein sicher gebundenes Kind ist bereit einzulenken, weil es die Liebe der Eltern nicht aufs Spiel setzen will. Es kann für Eltern sehr erhellend sein, sich einmal zu überlegen, wie oft ein Kind im Verlauf des Tages gehorcht hat. Sie werden überrascht feststellen, dass es zumeist getan hat, was sie von ihm wollten.
Sie selbst warnen Eltern immer wieder davor, zu viel von ihren Kindern zu fordern. Was passiert in einem Kind und mit einem Kind, wenn man es quasi "überfordert"?
Überfordert wird ein Kind beispielsweise, wenn die Eltern erwarten, dass es mit drei Jahren sauber und trocken sein muss. Die einen Kinder sind es bereits mit zwei, andere aber erst mit vier bis fünf Jahren. Auch das intensivste Sauberkeitstraining kann diesen Entwicklungsprozess nicht beschleunigen.
Die Eltern sollten auf den Zeitpunkt warten, an dem sich bei ihrem Kind die Eigeneinitiative einstellt. Dann kann und will das Kind sauber und trocken werden. Zu diesem Zeitpunkt sollen die Eltern es mit geeigneten Maßnahmen – etwa mit Hosen, die das Kind selbständig herunterlassen und heraufziehen kann – darin unterstützen.
Welche Folgen kann eine zu hohe Erwartung der Eltern für die Entwicklung des Kindes haben?
Übertriebene Erwartungen, etwa bezüglich Schulleistungen, beeinträchtigen das Selbstwertgefühl des Kindes: Ich genüge nicht, ich kann es nicht. Im schlimmsten Fall erlebt das Kind die falschen Erwartungen der Eltern als Ablehnung: Die Eltern mögen mich nicht so, wie ich bin.
Wenn von Kleinkindern als "kleinen Tyrannen" die Rede ist, fällt unter anderem in der "Elternschule" die Unterstellung, die Kleinen seien "berechnend". Gibt es so etwas wie vorsätzliches Verhalten in einem Alter von etwa zwei Jahren überhaupt schon?
Kinder als "berechnend" anzusehen, ist für mich eine bösartige Unterstellung. Eltern, die das tun, sollten sich Karl Valentins Einsicht zu Herzen nehmen: Kinder können wir nicht erziehen, die machen uns eh alles nach. Sozialisiert wird ein Kind durch seine Vorbilder. Das Kind kann nur so werden wie seine Eltern und Bezugspersonen. Wenn ein Kind sich nicht so verhält, wie es sich die Eltern wünschen, sollten sie sich selbst hinterfragen.
Welche Verantwortung gegenüber dem Kind liegt bei den Eltern selbst und muss auch bei den Eltern liegen?
Die Aufgabe der Eltern ist aus meiner Sicht die folgende: Sie sorgen dafür, dass sich das Kind geborgen und angenommen fühlt. Sie bemühen sich, auf die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen und seine individuellen Fähigkeiten zu respektieren.
Eltern gestalten die Umwelt des Kindes so, dass es alle entwicklungsspezifischen Erfahrungen machen kann, die es für seine Entwicklung braucht. Sie tragen mit dem Kind Konflikte aus, ohne es als Person infrage zu stellen und sie setzen ihm Grenzen. So werden die Eltern für das Kind zu einer natürlichen Autorität, an der sich das Kind orientiert.
Die Verantwortung liegt also voll bei den Eltern?
Nein. Diese Aufgabe wird vielen Eltern sehr schwer gemacht. Immer mehr Eltern fühlen sich in der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Dafür gibt es viele Gründe, etwa alleinerziehend zu sein oder zwischen Familie und Beruf zerrissen zu werden. Ein ganz gewichtiger Grund ist der folgende: In der Menschheitsgeschichte haben Eltern ihre Kinder nie allein aufgezogen. Sie haben immer in Gemeinschaften vertrauter Menschen gelebt, die sie darin unterstützt haben. Wir müssen unserer Zusammenleben überdenken.
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