Wer sich vegan ernährt, muss sich oft die Frage gefallen lassen: "Ja, ist denn das überhaupt gesund?" Tatsächlich ist der Verzicht auf jegliche tierische Produkte nicht jedem zu empfehlen.
Auf Manuel Kasers Küchentisch herrscht Chaos; zum Essen ist kein Platz: Ein Teelichthalter mit Keramikkatze steht in der Mitte, daneben ein umgekippter Stapel von Zeitschriften, Zetteln und Büchern – "Naturparadies Regenwald", "Vegan Bodybuilding & Fitness" und "How to Draw Comics The Marvel Way". An der Wand hängt ein Magnet: "Bring Liebe in deinen Kühlschrank". Auch eine Tüte Neapolitanerschnitten steht am Tisch - "die einzigen von Manner, die vegan sind", sagt der 34-Jährige mit leichtem Bedauern in der Stimme. Er hat eine kurze, blonde Sturmfrisur und wache Augen, bei denen schwer zu sagen ist, ob sie blau sind oder grün.
Vegan ist in. Bücher wie "Anständig essen" von Karen Duve und "Tiere essen" von Jonathan Safran Foer sind zu Bestsellern geworden. Allerorts finden Interessierte Tipps für den Einkauf, Rezepte und gesundheitliche Ratschläge. Der Vegetarierbund Deutschland (VEBU) bietet etwa eine Veggie-Restaurantsuche und liefert gar eine Liste von Ärzten, die überwiegend vegetarisch oder vegan leben – Telefonnummer und Fachgebiet inklusive. Bei dem Verein kann sich auch als "Veggie-Buddy" eintragen lassen, wer anderen beim Umstieg auf eine vegetarische oder vegane Lebensweise zur Seite stehen will. Er hilft Geläuterten beim Einkauf und kocht mit ihnen. Aber ist diese Art der Ernährung auch gesund?
Manuel Kaser arbeitet als Briefträger in München. Seit zwei Jahren verzichtet er nicht nur auf Fleisch, sondern auch auf Eier, Milch, Käse und Honig – alles, was vom Tier stammt. Er will nichts mehr zu tun haben mit Eiern, weil in der Legehennenproduktion ein Fließband die männlichen Küken direkt nach dem Schlüpfen in einen Häcksler befördert, weil man sie nicht brauchen kann. Käse und Joghurt möchte er nicht mehr essen, weil eine Kuh jedes Jahr kalben muss, damit sie weiter Milch gibt – und die Kälber meist geschlachtet werden. Verzicht ist seiner Ansicht aber nicht das richtige Wort. "Statt Sahne nimmst du halt Sojasahne, und Käse gibt es auch vegan."
"Veganismus ist schon eine extreme Lebensform", sagt Antje Gahl. Sie ist Ernährungswissenschaftlerin und arbeitet bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). "Für gesunde Erwachsene ist sie okay, wenn sie sich mit dem Thema beschäftigen und sich überlegen, wie sie ihre Nahrung zusammenstellen." Bei Menschen, die Fleisch essen – Gahl nennt sie Mischköstler, Veganer sprechen häufig von "Allesessern" - sei das Spektrum der aufgenommenen Nährstoffe aber größer. "Wenn man alles isst, ist die Gefahr eines Mangels geringer", betont sie.
Lieber hungern statt Fleisch essen
"Man kann schon einmal ein wenig Hunger leiden", räumt Manuel ein. "Zum Beispiel bei der letzten Betriebsfeier. Da wurde gegrillt, und es gab noch nicht einmal einen vernünftigen Salat." Im Normalfall behilft er sich, indem er vorher zu Hause isst – oder auf Salate ausweicht. Weil die meisten, mit denen er sich regelmäßig trifft, ohnehin selbst Vegetarier oder Veganer sind, tut es auch ein veganes Restaurant wie das Max Pett in der Münchner Innenstadt, in dem Manuel neben seinem Job als Briefträger auch hin und wieder aushilft. Das Lokal ist vor allem abends gut besucht – von Jungen, Alten und auch Familien mit kleinen Kindern.
Allerdings weist Ernährungswissenschaftlerin Antje Gahl ausdrücklich darauf hin, dass eine vegane Ernährung bei Menschen mit Vorerkrankungen zu Schwierigkeiten führen kann – etwa bei Diabetikern, Allergikern oder Nierenkranken. Auch bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten kann es Probleme geben."Wer zum Beispiel keinen Fruchtzucker verträgt, kann praktisch nur auf Gemüse ausweichen", sagt Gahl. "Für Schwangere, Stillende, Säuglinge und Kleinkinder ist eine vegane Ernährung ungeeignet. Das Risiko ist zu hoch."
Bei Erwachsenen sei ein vorübergehender Mangel weniger kritisch – etwa von Vitamin B12. Dessen chemischer Ausgangsstoff Cyanocobalamin kommt ausschließlich in tierischen Produkten wie Fleisch und Milch, milchsauer vergorenem Gemüse und Algen vor. Ein Mangel kann zu Störungen des Nervensystems und im schlimmsten Fall zu einer Querschnittslähmung führen. "Es gibt Studien, die schon bei vier bis sechs Monate alten Säuglingen von veganen Müttern Vitamin-B12-Mangelerscheinungen festgestellt haben. Das ist doppelt schlimm, weil sich ihr Körper erst im Aufbau befindet", erklärt Gahl.
"Vegan ist wichtig und normal"
Manuel Kaser würde auch seine Kinder gern einmal ohne tierische Produkte ernähren. "Ich möchte ihnen beibringen, dass vegan wichtig und normal ist", sagt er. Praktisch seine ganze Familie lebt so. "Naja, außer mein Vater." Der kauft noch hin und wieder Bioeier im Reformhaus und trinkt Milch. "Obwohl er immer Käse gehasst hat, meint er jetzt manchmal, Käse zu brauchen", sagt Manuel und grinst. Sein Bruder hat vor zwei Jahren den Anstoß gegeben. Manuel, seine Mutter und seine Schwester folgten bald.
Für die "Deutsche Vegan Studie" von 2007 haben die Professoren Claus Leitzmann und Andreas Hahn Lebensweise und Blut von 154 Veganern untersucht. Der Frauenanteil lag bei 56 Prozent; im Durchschnitt waren die Probanden 44 Jahre alt. Das Ergebnis: Knapp 80 Prozent der Teilnehmer hatten einen Mangel an Vitamin B12. Der Studie zufolge sinkt die Vitamin-B12-Konzentration im Blut mit den Jahren. Das deute darauf hin, dass die Leberspeicher in den ersten Jahren einer cobalaminfreien Ernährung in der Lage seien, den Bedarf an Vitamin B12 zu decken, wohingegen dies mit zunehmender Dauer einer veganen Ernährung schwieriger werde.
Gegen einen Vitamin-B12-Mangel nimmt Manuel Nahrungsergänzungsmittel, und auch sonst beschäftigt er sich eingehend mit dem, was er isst und nicht isst. Das Umfeld außerhalb der Familie hat mit gemischten Gefühlen reagiert. "Ein Kollege beim Karate kam auf mich zu und meinte ganz väterlich: 'Da müssen wir jetzt wirklich mal drüber reden'", erzählt Manuel. "Der meinte wirklich, ich spinne." Er redet mit den Händen, zieht die Augenbrauen zusammen und furcht die Stirn. Er findet es schade, dass er auf Unverständnis stößt. "Veganismus ist einfach noch nicht normal genug." Ein anderer Bekannter hat sich beschwert, er solle doch von seinem Trip runterkommen und Facebook nicht mit Links zu veganen Themen zumüllen. "Aber das ist doch normal, anfangs interessiert alles mehr."
Einkaufen geht Manuel am liebsten beim Gemüsehändler um die Ecke, sonst auch im normalen Supermarkt. Cremigen Seidentofu als Basis für Aufstriche und den Fleischersatz Seitan holt er sich aus dem Reformhaus oder bestellt sie bei einem veganen Versand. "Man muss schon gezielter einkaufen", erklärt er. "Ich habe aber schon vorher viel Geld für Essen ausgegeben, da hat sich eigentlich wenig geändert." Wenn es schnell gehen muss, gibt es auch bei ihm ganz einfach Nudeln mit Tomatensauce. Manche Läden führen sogar vegane Tiefkühlpizza.
Veganes Futter auch für Hunde?
Die beiden Familienhunde, Chihuahua Bobby und Cocker-Spaniel-Dame Layla, dürfen aber weiterhin Fleisch fressen. "Meine Mama traut sich nicht, sie umzustellen", erklärt Manuel. "Die haben halt ein Raubtiergebiss, und auch der Darm ist kürzer und nicht darauf ausgelegt, Pflanzen zu verdauen." Weil er aber selber den Konsum von Fleisch ablehne, wäre es ihm lieber, wenn auch seine Hunde vegan lebten.
Ob er sich vorstellen kann, sich in eine Fleischesserin zu verlieben? "Ja mei, ist halt so. Da, wo die Liebe hinfällt", sagt Manuel. "Besser, man vermischt sich mit dem gemeinen Volk. Nur so können wir stärker werden. Mein Kind wird dann ein kleiner Herakles - und irgendwann sind wir dann alles Halbgötter."
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