Ein Neurologe hat kürzlich in Interviews eine strittige These vertreten: In Kliniken gehe man bei Long Covid von einem psychosomatischen Zusammenhang aus - also dass die körperlichen Beschwerden psychische Auslöser hätten. Eine Nachfrage bei zahlreichen deutschen Kliniken zeigt jedoch ein anderes Bild.

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Geht es um die Krankheitsmechanismen hinter den Corona-Langzeitfolgen, dominieren Hypothesen zu organischen Ursachen die wissenschaftliche Debatte. Die Praxis aber zeige etwas ganz anderes, sagt jetzt der Neurologe Christoph Kleinschnitz in viel beachteten Interviews: An den Kliniken gehe man von einem psychosomatischen Zusammenhang aus - also psychischen Auslösern mit körperlichen Folgen.

Stehen die praktischen Erfahrungswerte also im Widerspruch zum Mainstream der Forschung? RiffReporter hat die deutschen Unikliniken und die Post-Covid-Spezialambulanzen dazu befragt. Die Antworten zeigen: Eine überwiegende Mehrheit der Klinikverantwortlichen hält wenig von der Psychosomatik-These.

Wie kontrovers Ärztinnen und Ärzte noch immer auf Long Covid blicken, zeigt sich am besten daran, dass das Klinikum Vest, das Akademische Lehrkrankenhaus der Ruhr-Universität Bochum, gleich doppelt auf eine Anfrage reagiert:

"Ich muss leider bestätigen, dass ich auch das Gefühl habe, dass eine psychosomatische Grunderkrankung bei den allermeisten Patienten vorliegt. Im Rahmen der kardiologischen Untersuchungen, die wir bei diesen Patienten durchführen, kommt eigentlich nie ein pathologischer Befund heraus", antwortet Kardiologie-Chef Frank Weidemann auf die an die Pressestelle des Klinikums übermittelte Anfrage.

Es dauert nur gut zwei Stunden, bis die zweite Nachricht aus dem Klinikum Vest eingeht, dieses Mal von Jens Geiseler, Chefarzt der Pneumologie. "Die Einschätzung von Prof. Weidemann kann ich nur zum Teil bestätigen", schreibt er. Man habe es oft mit asthmatischen Reaktionen und autoimmunologischen Prozessen in der Lunge zu tun. Daneben beobachtet Geiseler viele funktionelle Störungen, die zu einem Teil "durch ein übermäßiges 'In-sich-Hinein-Horchen', also psychosomatisch bedingt" seien. Aber eben auch nur zu einem Teil.

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Widersprechen praktische Erfahrungen dem wissenschaftlichen Mainstream?

Ist Long Covid psychisch oder körperlich verursacht? Rund drei Jahre lang hat sich die Medizin mittlerweile mit den Langzeitfolgen von Corona-Infektionen befasst – diese Frage wird noch immer hitzig diskutiert. Für Betroffene macht die Antwort mitunter große Unterschiede: Therapien können sich stark unterscheiden, je nachdem, ob Ärztinnen und Ärzte körperliche Befunde in den Blick nehmen oder die Patientinnen und Patienten im Wesentlichen als psychisch erkrankt einstufen.

In wissenschaftlichen Publikationen dominiert die Sicht von Long Covid als organisch bedingt, oft aber von psychischen Begleiterscheinungen geprägt. Als mögliche Auslöser gelten Autoimmunreaktionen, Virusreste, chronische Organschädigungen und die Reaktivierung schlummernder Viren. Entschieden andere Worte findet der Leiter der Neurologie am Uniklinikum Essen, Christoph Kleinschnitz. "Die psychosomatische Genese ist in den allermeisten Fällen evident", sagte er Ende September in einem beachteten Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

In einem Video des Ärzte-Portals DocCheck wiederholte er die These. Kleinschnitz betonte, dass er die Beschwerden keineswegs für eingebildet hält – aber eben auch nicht für körperlich verursacht. Vielmehr sei es "der Regelfall", dass Mediziner die Patienten "auf den Kopf" stellten und "nichts" finden, weshalb Long Covid "überhaupt kein großes Klinikproblem mehr" sei. "Wenn wir uns mit anderen Kollegen unterhalten, die Post-Covid-Ambulanzen unterhalten", so der Neurologe, dann sagten diese fast ausnahmslos "etwas ganz Ähnliches" – also dass sie von einer "psychosomatischen Genese" ausgingen.

"Das, was meine Patienten haben, möchte ich nicht bekommen – und es ist sicher nicht psychosomatisch."

Martin Halle, Sportmediziner an der Technischen Universität München.

Hätte er recht, stünden konkrete praktische Erfahrungen der Kliniken im Widerspruch zur wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung. Triff das zu? RiffReporter hat bundesweit bei den Universitätskliniken und Post-Covid-Ambulanzen nachgefragt. Die meisten, so das klare Bild, widersprechen Kleinschnitz' These – und zwar unabhängig von der fachlichen Spezialisierung der Ambulanz und der antwortenden Mediziner.

"Das, was meine Patienten haben, möchte ich nicht bekommen – und es ist sicher nicht psychosomatisch", sagt Martin Halle, Sportmediziner an der Technischen Universität München. "Definitiv nicht", bekräftigt Astrid Weber, Leiterin der als Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) organisierten Post-Covid-Ambulanz Koblenz. Auch der Psychosomatiker Thomas Loew, der am Universitätsklinikum Regensburg Post-Covid-Betroffene behandelt, sagt für die Mehrheit seiner Patienten: "Wir finden da schon etwas Organisches."

Viele Kliniken stellen Langzeitschäden an der Lunge fest

Viele Kliniken stellen nach Corona-Infektionen beispielsweise Langzeitschäden an der Lunge fest, Herzmuskelentzündungen, Gefäßverschlüsse und ME/CFS-Erkrankungen mit Belastungsintoleranz, die sie als organisch verursacht einstufen. "Die Hypothese, dass bei den allermeisten Patienten eine psychosomatische Genese evident ist, ist nicht belegt. Diese wird im Rahmen von polarisierten Diskussionen vertreten", meint Andreas Stallmach, Chef der Post-Covid-Ambulanz am Universitätsklinikum Jena. Er halte das Post-Covid-Syndrom für ein multiorganisches Krankheitsbild, bei dem eine "multimodale, supportive Therapie notwendig" sei. "Die Tatsache, dass wir die genaue Ursache nicht kennen, macht es nicht zu einem psychosomatischen Krankheitsbild."

"Long Covid" oder "Post-Covid"?

  • Durch einen Hashtag auf Twitter verbreitete sich zu Beginn der Pandemie zunächst der Begriff "Long Covid" – als Sammelbegriff für Beschwerden, die nach der akuten Infektionsphase über vier Wochen hinaus bestehen bleiben oder die nach eigentlich überstandener Erkrankung neu auftreten. In der Wissenschaft hat sich mittlerweile jedoch "Post-Covid" als Bezeichnung für Beschwerden durchgesetzt, die zwölf Wochen nach der akuten Erkrankung fortbestehen oder sich erst dann entwickeln. In einer Konsensdefinition beschreibt die Weltgesundheitsorganisation das Syndrom als postvirale Symptomatik, die sich drei Monate nach Beginn einer Corona-Infektion zeigt, mindestens zwei Monate lang bestehen bleibt und nicht durch eine andere Diagnose erklärbar ist. In Medien und sozialen Netzwerken hält sich das Schlagwort "Long Covid" bis heute als Oberbegriff für alle anhaltenden Probleme infolge einer COVID-19-Erkrankung. Auch in diesem Text werden die Begriffe zur Vereinfachung synonym als Bezeichnung für über einen längeren Zeitraum anhaltende Langzeitfolgen einer Corona-Infektion verwendet.

Der Pneumologe Wolfgang Neumeister, Ärztlicher Direktor der Hufeland-Klinik Bad Ems, beobachtet bei vielen Patienten eine bronchiale Überempfindlichkeit, eine Vorstufe von Asthma bronchiale – soweit nichts Ungewöhnliches nach Atemwegserkrankungen. Dass diese bei vielen Post-Covid-Erkrankten noch 18, manchmal sogar 24 Monate nach der Infektion anhalte, sei allerdings "neu". Auch "mannigfaltige Schlafstörungen", teils in Verbindung mit Atmungsstörungen, stuft Neumeister als somatisch ein: "Hier kann kein psychosomatischer Zusammenhang konstruiert werden." Der Kardiologe Bernhard Schieffer, Leiter der Post-Covid-Ambulanz am Universitätsklinikum Marburg, wird noch deutlicher. Die These von der psychosomatischen Genese – im Sinne eines Negierens klinisch relevanter organischer Befunde – ist für ihn "medizinischer Humbug".

Patienten haben ein "Kausalitätsbedürfnis"

"Eine psychogene Genese kann ich klar verneinen", bestätigt die Neurologin und Psychiaterin Claudia Schilling, Leiterin der Post-Covid-Ambulanz am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Sie kritisiert: "Die unscharfe und oft bewusst missbräuchliche Verwendung des Begriffs 'psychosomatisch' trägt leider nicht zu einem sachlichen Diskurs bei. Wir haben es beim Post-Covid-Syndrom mit einer somatisch verursachten komplexen systemischen Erkrankung zu tun, die wie jede schwere Erkrankung mit psychischen Auswirkungen und Coping-Strategien wechselwirkt." Als "Coping-Strategien" werden Verhaltensweisen bezeichnet, mit denen Menschen eine schwierige Situation zu bewältigen versuchen – sowohl hilfreiche als auch solche, die die Situation ungewollt verschlechtern, wie etwa Suchtverhalten.

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Zustimmung zu Kleinschnitz' angeblich so weit verbreiteter These von der psychosomatischen Ursache von Long Covid kommt aus dem Klinikum Chemnitz. Thomas Grünewald, Leiter der infektionsmedizinischen Post-Covid-Sprechstunde, beobachtet, dass bei Patienten das "Kausalitätsbedürfnis" – der Wunsch also, "bestehende Beschwerden auf ein vermeintliches Post-Covid-Syndrom zurückzuführen" – im Vordergrund stehen könne. Die von anderen Erregern bekannte postvirale Fatigue sei im Vergleich zu "somatoformen Störungen" eher die Ausnahme.

Eine ähnlich deutliche Unterstützung der laut Kleinschnitz "evidenten" psychosomatischen Genese formuliert keine weitere der angefragten Kliniken. Einige Häuser, darunter das Universitätsklinikum Münster und die BG-Kliniken als Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung, betonen, dass sich zur Genese derzeit keine gesicherte Aussage treffen lasse.

Die meisten Unikliniken und Post-Covid-Ambulanzen aber widersprechen der Behauptung. Unterschiedlich stark formulieren dies Repräsentanten von 26 der 36 Kliniken, die auf die Anfrage antworten – die meisten sehr deutlich. Nur vier Kliniken äußern sich eher zustimmend, sechs antworten neutral. Zur Transparenz hat RiffReporter alle schriftlichen Rückmeldungen aus den Kliniken hier dokumentiert.

90 Anfragen an Kliniken wurden verschickt

Befragt worden waren alle deutschen Universitätskliniken und die bekannten, außerhalb von Universitätskliniken eingerichteten Post-Covid-Spezialambulanzen. Insgesamt belief sich die Zahl der Anfragen auf rund 90, wobei die Antworten teilweise nicht für Einzelkliniken, sondern für Klinikgruppen gebündelt eingingen, etwa bei den BG-Kliniken mit 13 Standorten.

"Es besteht leider häufig eine Tendenz in der Medizin, Erkrankungen, die man (noch) nicht versteht, als psychosomatisch zu bezeichnen."

Michael Kabesch, Ärztlicher Direktor der KUNO Klinik St. Hedwig in Regensburg

Auch in den Antworten aus pädiatrischen Einrichtungen wird der Widerspruch zwischen vorherrschender wissenschaftlicher Auffassung und praktischen Erfahrungen nicht gesehen. Michael Kabesch, Ärztlicher Direktor der KUNO Klinik St. Hedwig in Regensburg, mahnt: "Es besteht leider häufig eine Tendenz in der Medizin, Erkrankungen, die man (noch) nicht versteht, als psychosomatisch zu bezeichnen."

Das Klinikum Kassel teilt sogar mit, es könne "ausschließen", dass die psychosomatische Genese für die dort behandelten Kinder und Jugendlichen mit Long Covid evident sei. Ähnlich deutlich formuliert Cordula Koerner-Rettberg, Chefärztin der Kinder- und Jugendmedizin des Marien-Hospitals Wesel, die von einem "komplexen, somatischen Krankheitsbild mit Multiorgan-Manifestation" ausgeht: "Die Diagnose oder Vermutung einer psychosomatischen Genese darf nicht einfach ausgesprochen werden, nur weil wir ein bestimmtes Krankheitsbild noch nicht ausreichend verstehen oder uns in der Organ-Diagnostik bestimmte Befunde negativ erscheinen. Vielmehr muss auch eine psychosomatische Genese eine plausible Pathogenese aufweisen und es müssen Konzepte psychosomatischer Behandlung dann auch in der Regel funktionieren. Dieses ist nicht der Fall."

"Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu oberflächlich hinschauen und die Patienten als besorgte Bürger abtun."

Peter Schönknecht, Ärztlicher Direktor im Sächsischen Krankenhaus Altscherbitz

Bei mehreren Fachleuten sorgt es für Erstaunen, dass bei der Erklärung der Entstehung einer komplexen Erkrankung "körperlich" und "psychisch" überhaupt noch wie zwei sich ausschließende Gegensätze erscheinen. Alkomiet Hasan, Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universität Augsburg, wirbt für eine "ganzheitliche Sicht auf den Menschen": Die "Dichotomisierung von 'somatisch' und 'psychisch/psychosomatisch'", also die Zweiteilung in vermeintliche Gegenpole, sei "nicht korrekt". Matthias Weisbrod, Chefarzt des psychiatrischen SRH Klinikums Karlsbad-Langensteinbach, wirbt ebenfalls für eine "Überwindung der Dichotomie".

Wer eine Erkrankung ernstnehme, behandelt auch im Falle körperlicher Auslöser die psychischen Symptome mit: So argumentiert der Lungenspezialist Tobias Welte, Leiter der Post-Covid-Ambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover und wendet sich damit gegen eine zu starke Trennung beider Ansätze: "Die meisten chronischen Erkrankungen haben – auch – eine psychische Komponente und lösen vor allem auch psychische Beeinträchtigungen aus, die über das rein Organische hinausgehen." Post-Covid sei ein komplexer Sachverhalt. Der Versuch, ihn in einem Satz darzustellen, sei "unseriös und fahrlässig". Den gleichen Punkt macht Peter Schönknecht, Ärztlicher Direktor im Sächsischen Krankenhaus Altscherbitz: "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu oberflächlich hinschauen und die Patienten als besorgte Bürger abtun."

Verwendete Quellen:

Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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