Rund jeder dritte Deutsche war schon mal in einer toxischen Beziehung. Laut einem Diplom-Psychologen kann es jeden treffen. Warum es schwierig ist, sich zu trennen und wie man trotzdem einen Ausweg findet, erklärt der Beziehungsexperte im Interview.
Woran erkenne ich eine toxische Beziehung?
Christian Hemschemeier: Aus meiner Sicht ist das Hauptsymptom einer toxischen Beziehung, dass man liebessüchtig wird. Das heißt, dass man in einem Dating- oder Beziehungsprozess steckt, wo man die ganze Zeit darüber nachdenkt und sich fühlt wie ein Junkie. Man kann unter Umständen nicht mehr schlafen, essen und arbeiten. Die eigenen Gedanken drehen sich nur darum, wann und wie der andere schreibt und was als Nächstes passiert.
Und welche Dynamiken treten zwischen den Partnern auf?
Typischerweise sind das sogenannte "Heiß-Kalt-Beziehungen". Sie sind beispielsweise geprägt von Unehrlichkeit, negativer Kommunikation und Schuldumkehr. Es gibt Doppelstandards, das bedeutet, ein Partner hat mehr Freiheiten als der andere. Toxische Beziehungen sind oft auch sehr fantasiegeladen. Es existiert die Vorstellung, dass es eigentlich die absolute Traumbeziehung ist, sobald die Probleme gelöst sind. Aber das Gegenteil ist der Fall: Es wird alles nur noch schlimmer.
Gibt es Menschen oder Menschengruppen, die tendenziell eher in eine toxische Beziehung kommen?
Ja, es gibt grob gesagt zwei Gruppen, die besonders betroffen sind. Die erste Gruppe sind diejenigen, die eine toxische Kindheit erlebt haben. Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Eltern das Kind nicht gemocht haben. Es reicht schon aus, dass die Bezugspersonen nicht immer verfügbar waren, zum Beispiel aufgrund einer Alkoholerkrankung. Oder man hat inkonsistente Beziehungserfahrungen erfahren und es ging generell zu Hause sehr dramatisch zu. Dadurch, dass sich unser Gehirn daran gewöhnt, was wir in der Kindheit erlebt haben, suchen die Betroffenen später unterbewusst immer wieder dieses Drama. Zur zweiten Gruppe gehören Menschen, bei denen im Leben gerade alles schiefläuft. Zum Beispiel ist ein Angehöriger gestorben, sie haben ihren Job verloren oder sie sind krank geworden. Es geht ihnen insgesamt nicht gut und sie sind daher bedürftiger. Das ist häufig auch ein Einfallstor für eine toxische Beziehung.
Das bedeutet, dass es jeden treffen kann?
Ja, theoretisch schon. Der erste Fall kommt zwar häufiger vor, aber ich hatte auch schon Klienten, die von sich sagen, auf eine gute Kindheit zu blicken, aber dennoch in einer toxischen Beziehung gelandet sind. Das lag daran, dass sie sich in einer schlechten Lebensphase befanden.
Und wie befreit man sich aus einer toxischen Beziehung?
Für mich ist der Königsweg, dass man sich seiner eigenen Standards bewusst wird. Das heißt, dass man sich überlegt, wie man in einer Beziehung behandelt werden möchte. Ich unterscheide in "Dealbreaker" und "Standards". Dealbreaker sind die absoluten No-Gos in einer Partnerschaft, die man nie akzeptieren sollte. Standards hingegen sind verhandelbar. Wenn man diese Kriterien für sich selbst definiert hat, macht man nicht mehr den Partner oder die Partnerin zum Maßstab, sondern sich selbst. Zudem sollte man sich fragen, welche Beziehungsziele man verfolgt und was man innerhalb der Beziehung erleben möchte.
Sollte man seine Standards und Dealbreaker nicht schon vor einer Beziehung definieren?
Ja, eigentlich schon. Viele Menschen haben sich das im Vorfeld einer Beziehung aber nicht richtig überlegt, weil sie denken, dass es reicht, wenn die Chemie stimmt und man sich mag. Aber dann ist eben die Gefahr gegeben, dass man in eine Beziehung reinrutscht, in der Grenzen permanent überschritten werden. Wenn man hingegen seine Standards und Dealbreaker kennt, dann kann man sofort reagieren und das Gespräch suchen, wenn einem das Verhalten des Partners missfällt.
Und was passiert, wenn ich in einer toxischen Beziehung das Gespräch mit meinem Partner oder meiner Partnerin suche?
Dann zeigt sich der Unterschied zu einer gesunden Beziehung. In einer toxischen Beziehung bekommt man nichts geklärt. Jeder Wunsch wird abgeschmettert oder es wird im Gespräch darauf eingegangen, aber nicht umgesetzt. Häufig ist es dann so ernüchternd, dass man irgendwann merkt, dass sich alles nur um den Partner dreht und die eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Das ist aber oftmals nur ein erster Anstupser. Wenn man richtig liebessüchtig ist, braucht es oftmals einen Aufprall, damit man sich wirklich trennt. Es muss etwas Unaussprechliches passieren oder der Partner hat übermäßig viele Grenzen überschritten, sodass man die Beziehung schlichtweg nicht mehr ertragen kann.
Das heißt, das Gefühl der Liebessucht sollte sich in Wut verwandeln?
Ja, eine gesunde Trennungsaggression ist auf jeden Fall sehr hilfreich. Und irgendwann erkennt man auch, dass es immer die gleichen Muster sind. Also, dass der Partner Versprechungen macht, die er oder sie nicht halten kann und man sich nicht darauf verlassen kann. Dennoch fällt es den Betroffenen schwer, sich zu trennen aufgrund ihrer Prägung aus der Kindheit. Sie haben bereits eine gewisse Gewöhnung an das Drama und das ständige Auf und Ab in der Beziehung. Das wiederum fördert wieder die Liebessucht. Deswegen sagt man, dass es bis zu 15 Anläufe braucht, um aus einer toxischen Beziehung rauszukommen.
Verwendete Quellen:
Zur Person:
- Christian Hemschemeier ist Diplom-Psychologe und Beziehungsexperte in Hamburg. Er hat mehrere Bücher geschrieben, sein aktuelles Buch trägt den Titel "Feuer & Flamme: Warum echte Leidenschaft die Polarität von männlicher und weiblicher Energie braucht".
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