Wenn Du beim Reiten mit Deiner Haltung Probleme hast, dann solltest Du vielleicht mal zum Zahnarzt gehen. Denn: Schiefe Zähne, schiefer Reiter, sagt Zahnärztin und Pferdeausbilderin Kristina Gerber. Pferde.de sprach mit ihr über den richtigen, korrekten Biss und warum unsere Zähne unsere Haltung bis zu den Zehen beeinflusst beeinflussen.
Gerber hat zwei Leidenschaften: Reiten – und den richtigen Biss. Und sie lebt beide mit ganzem Herzen. Beruflich arbeitet sie als ganzheitliche Zahnärztin in Wittingen und zusätzlich hat sie mit ihrem Mann gemeinsam das Ausbildungs- und Rehazentrum für Pferde "Gut Hanum" aufgebaut. Das klingt nach zwei Welten, hat aber ganz viel miteinander zu tun. "Das Gebiss beeinflusst unsere Haltung", erklärt Gerber. Salopp gesagt: schiefe Zähne, schiefer Reiter.
Das erkennt die Expertin oft schon auf den ersten Blick: "Wenn ein Reiter den Kopf sehr weit vorne trägt, als ob der Kopf vor dem Körper ist, dann ist häufig ein Fehlbiss die Ursache." Genauer: Der Reiter hat zum Beispiel dann einen sogenannten tiefen Deckbiss: "Wenn er die Zähne zusammenbeißt, sind die Unterkieferzähne nicht zu sehen. Normalerweise sind aber etwa zwei Drittel zu sehen." Die Folge: "Über Muskel-Faszienketten wird eine Fehlstellung auf die Wirbelsäule übertragen. Das kann sogar zum Beispiel zu einem Bandscheibenvorfall führen."
Ein Fehlbiss beeinflusst den ganzen Körper
Aber nicht nur die Bandscheibe ist ein Problem: Ein Fehlbiss beeinflusst den ganzen Körper – über die Wirbelsäule und das Becken bis zu den Zehen. "Viele denken, der Körper wird durch das Skelett gehalten – aber das stimmt nicht. Er wird durch Muskeln und Faszien gehalten. Und die reagieren sehr sensibel auf Abweichungen", sagt die Zahnärztin.
Dass die Zähne einen großen Einfluss auf den ganzen Körper haben, bestätigen auch Wissenschaftler der Universität von Innsbruck und Barcelona. Die Forscher fanden heraus: Eine fehlende Balance im Gebiss verursacht auch ein Ungleichgewicht in unserer Körperhaltung. Forscher vermuten, dass es eine Verbindung zwischen unserem stomatognathen System (Organe und Gewebe) und unserer Körperhaltung gibt. Der Grund: Der für das Kauen verantwortliche Nerv ist mit dem Teil des Gehirns verbunden, der das Gleichgewicht steuert.
Zähne fehlen – und das Pferd reagiert
"Davon ist auch unser Becken betroffen – für Reiter eines der wichtigsten Instrumente zur Hilfengebung", so Gerber und führt fort: "Denn wenn die Zähne oben schief sind, wird die Muskulatur anders beansprucht. Dabei ist die Kaumuskulatur eine der stärksten im Körper." Die Pferdeausbilderin weiter: "Und diese falsche Stellung geht dann weiter: Die Hüfte wird schief und dadurch das Becken ganz anders bewegt." Entsprechend reagiert das Pferd.
"Wenn zum Beispiel im Kiefer hinten links zwei Zähne fehlen, dann beißt der Betroffene links tiefer, weil es ja keinen Widerstand mehr gibt. Die Folge: Die Muskeln links werden zu stark angespannt, der Betroffene knickt links eher ein – und das Pferd weicht nach rechts aus. Das wird in einer Rechts-Volte dann besonders deutlich."
Eine ihrer Reitschülerinnen hat so ein Problem: "Sie konnte keine Linksvolten reiten, weil sie den Kopf gar nicht richtig nach links drehen konnte. Sie bekam eine spezielle Schiene und schon ging es", erklärt die Zahnärztin. Klingt nach einer einfachen Lösung, hat aber einen Haken: "Die Schiene wirkt nur, wenn sie getragen wird." Die Expertin rät daher: Ideal sei das Tragen auch tagsüber je nach Schweregrad des Fehlbisses, aber wenigstens in der Nacht und natürlich beim Reiten sollte sie getragen werden.
Zähne: Eine Spezial-Schiene kann helfen
Teilweise können Fehlbisse auch durch Kronen und Co. korrigiert werden. Doch in vielen Fällen ist eine spezielle Schiene die einzige Möglichkeit. Das Problem dabei: "Viele denken, dass eine normale Knirscher-Schiene hilft. Aber sie schützt meist nur die Zähen vor zu starkem Abrieb. Eine Korrekturschiene ist eine spezielle Schiene, die individuell bezüglich der Körperstatik des Patienten angepasst werden muss." Das geht nicht so mal eben nebenbei.
"Bei mir ist dann ein Osteopath oder Physiotherapeut dabei. Er hilft, dass bei dem Patienten die Muskulatur entsprechend vorentspannt wird. Erst dann wird ein Biss genommen, dabei der Ober- und Unterkiefer in der korrekten Lage zueinander fixiert", sagt Gerber. Das könne nicht jeder, so die Expertin: "Diese sogenannte myozentrische Stellung der Kiefer zueinander zu finden, wie auch die Ausführung und Herstellung der muskelgeführten Schienen – das braucht eine Spezialausbildung des Zahnarztes."
Jeder kann seine Zähne zu Hause testen
Wie wichtig ein guter Biss für die Haltung bei Reitern ist, weiß auch ein Olympiasieger: "Hinrich Romeike, der ja auch selbst Zahnarzt ist, hat sich mit einer speziellen Schiene versorgt", sagt Gerber. Dennoch ist dieses Wissen noch sehr unbekannt in Deutschland – nicht nur unter Reitern, sondern auch unter Ärzten. "Wenn ich mit Orthopäden spreche, schütteln die fast immer den Kopf. Und auch unter den Zahnärzten sind die Zusammenhänge nicht immer bekannt." Das liegt, so Gerber, auch am Gesundheitssystem bei uns. "An den Unis wird nicht ganzheitlich gelehrt."
Dabei haben die Probleme in den letzten Jahren zugenommen. "An über 50 bis 60 Prozent der Verspannungen und Schmerzen ist das Kiefergelenk beteiligt", so Gerber aus ihrer eigenen Praxiserfahrung. Ob man selbst ein Kieferproblem haben könnte, kann jeder auch zu Hause testen. Dafür braucht man nur zwei Waagen und eine andere Person.
"Die beiden Waagen einfach nebeneinanderstellen, gerade hinstellen – einen Fuß auf die eine und den anderen auf die andere Waage, ganz geradeaus gucken und dabei fest die Zähne zusammenbeißen. Die andere Person guckt dann auf die Waagen – und wird vermutlich überrascht sein. Denn Unterschiede von 25 bis 30 Kilo sind möglich. Wiederholt man dieses mit zwei Watterollen links und rechts auf den Zähnen, um so den Einfluss des Fehlbisses zu minimieren, und die Differenz wird besser – dann lohnt sich der Gang zum Schienenspezialisten", rät sie.
Auch die Atmung kann den Kiefer verändern
Schuld an den zunehmenden Kieferfehlstellungen hat auch die moderne Zeit, so Gerber. "Viele Kiefer sind heute zu klein, weil zum Beispiel zu wenig gekaut wird und schon Kinder zu oft breiige Konsistenzen essen." Aber auch die Atmung habe Folgen. "Wir atmen zu viel, zu schnell und falsch. Denn immer mehr Menschen atmen vor allem durch den Mund und kaum noch durch die Nase", sagt die Expertin. Dabei sei die Nasenatmung wichtig. Nur so atmen wir tief und der Sauerstoffaustausch im Blut ist entsprechend effektiv. Dazu sei die Nase auch ein Filter für Keime und Bakterien. "Was aber viele auch nicht wissen: Die Mundatmung kann auch im Rahmen der Gesichtsschädelentwicklung zu Kieferfehlstellungen führen", sagt sie.
"Gute Atmung ist auch gut fürs Reiten"
Ob Du eine gute Atmung hast, kannst Du selbst testen. "Dafür einfach sechs bis zehnmal ein- und ausatmen. Dann ausatmen, Nase und Mund zu halten und ruhigen Schrittes laufen. Dabei die Schritte zählen. Ideal sollten es 60 bis 80 Schritte sein. Viele kommen aber über 30 bis 40 Schritte nicht mehr hinaus. Wir haben sogar Kinder, die unter zehn Schritten bleiben", sagt Gerber. Auch das sollten Reiter einmal für sich testen, denn "gute Atmung ist auch gut fürs Reiten." Die richtige Atmung kann motivieren, beruhigen und auch bei den Lektionen hilft sie.
Auf ihrem Gut Hanum schaut Gerber bei ihren Reitschülern ganz automatisch auf Verspannungen – und mögliche Ursachen im Kiefer. "Ich möchte die Menschen für das Thema sensibilisieren. Denn oft wird an den Symptomen rumgedoktert, aber die Ursache wird nicht gefunden." Das möchte sie ändern – unter Reitern und Ärzten. Das hilft auch den Pferden, sagt sie. "Denn wenn es dem Menschen gut geht, kann er gute Hilfen geben. Und das ist gut fürs Pferd." © Pferde.de
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.