• Viele Eltern verzweifeln derzeit, weil ihre Kinder das Tablet kaum mehr aus der Hand geben möchten.
  • Häufig wird dann starr auf das Einhalten von Bildschirmzeiten beharrt - was erst recht zu Streit führt.
  • Experten geben verschiedene Tipps, die je nach Alter und Charakter des Kindes helfen.

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Im ersten Quartal 2021 wurden fast doppelt so viele Tablets wie im vergleichbaren Zeitraum ein Jahr zuvor verkauft – die Branche boomt, wie schon lange nicht mehr. Kein Wunder, musste doch ständig von zu Hause gelernt, gearbeitet und gelebt werden. Doch die schnelle Digitalisierung der Familien überfordert Eltern und Kinder gleichermaßen.

Oft kommt es derzeit zum Streit, weil Eltern die Nutzungs- und Bildschirmzeit der Tablet-Geräte einschränken möchten, die Kinder aber nicht kooperieren und sogar Geräte heimlich nutzen. Doch ist die Nutzungssituation tatsächlich so extrem und wie kann man als Familie hierfür eine Lösung finden?

Zu viel Bildschirmzeit, zu wenig Bewegung

Tatsächlich sitzen Kinder und Jugendliche deutlich länger vor dem Bildschirm als vor der Corona-Pandemie. Der Studie "JIM plus Corona" vom medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest zufolge verbrachten Jugendliche in der ersten Welle neben zwei Stunden Lernen am Tag im Durchschnitt 114 Minuten mit Streamingdiensten, 100 Minuten mit Musikhören, rund 1,5 Stunden mit YouTube-Videos und mehr als eine Stunde mit Fernsehen. Jungen spielten zudem noch am Rechner mit ihren Freunden.

Die Gaming-Zeiten und die Social-Media-Nutzung verringerte sich zwar im Herbst 2020 deutlich, das zeigt eine Längsschnittstudie der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), jedoch sind die Bildschirmzeiten immer noch deutlich höher als gewöhnlich.

Die Konsequenz: Kinder und Jugendliche sind derzeit zu wenig in Bewegung. Das belegt auch die Motorik-Modul-Studie des Karlsruher Instituts für Technologie und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Demnach bewegen sich Kinder und Teenager aktuell pro Tag nur 61 Minuten, vor der Pandemie waren es 107 Minuten täglich. Die Hälfte der Kinder gab zudem an, dass ihre Fitness stark gesunken ist und knapp 30 Prozent berichten von einer Gewichtszunahme.

Wer also seine Kinder motivieren will, die Nutzung von Tablet und Co. einzuschränken, steht vor einer großen Herausforderung. Schließlich gibt es derzeit immer noch wenig Alternativen für die Freizeitbeschäftigung. Schwimmbäder, Sportvereine und andere Freizeitmöglichkeiten öffnen nur langsam und vereinzelt. Vielerorts gelten immer noch physische Kontaktbeschränkungen. Was können Eltern also tun, um die Bildschirmzeit ohne Streit und Zank trotzdem zu reduzieren?

Tipp 1: Miteinander reden - und zwar nicht nur über Bildschirmzeiten

Kristin Langer, die als Mediencoachin der Initiative "Schau hin!" Eltern bei allen Fragen rund um die Medienerziehung unterstützt, rät im Gespräch mit unserer Redaktion: "Ich empfehle Familien immer, sich einmal ausführlich über die Nutzung von Tablets und Co. zu verständigen. Es ist wichtig, dass beide Seiten sich verstehen, also die Eltern verstehen, warum das Kind wirklich vor dem Bildschirm sitzt und was es damit verbindet, und die Kinder nachvollziehen können, worum sich Eltern konkret Sorgen machen."

Oft verbergen sich hinter der intensiven Tabletnutzung bestimmte Bedürfnisse wie etwa die Kommunikation mit Freunden, soziale Integration, die Ablenkung von schulischen Sorgen oder auch Entspannung sowie Unterhaltung. Diese gilt es zu berücksichtigen.

Deshalb hält es Kristin Langer nicht für sinnvoll, nur auf die strikte Einhaltung der Bildschirmzeit zu beharren. "Darauf zu bestehen, dass mein Kind exakt die Zeit einhält, kann kontraproduktiv sein. Vereinbaren Sie lieber abgestimmte Einheiten, etwa zwei Level spielen oder zwei Filmkapitel schauen, statt einer festen Zeit. Anschließend können Eltern und Kinder darüber reden, ob die Zeit für alle akzeptabel ist", führt die erfahrene Medienpädagogin aus.

Tipp 2: Mediennutzungsvertrag abschließen und Medien zusammen besser verstehen

Ob es ums Fahrradfahren, Zeichnen oder Handstandmachen geht: Die meisten Dinge im Leben müssen wir mühsam erlernen, um sie am Ende richtig gut zu beherrschen. Das gilt auch für die Nutzung von Tablets. Für Familien, in denen sich die Regelung der Mediennutzung trotz vieler Gespräche als häufiger Streitpunkt erweist, empfiehlt es sich deshalb, einen gemeinsamen Vertrag über die richtige Mediennutzung zu erarbeiten und sich darauf zu einigen.

In diesem wird zum Beispiel vereinbart, dass die Eltern sich über neue Entwicklungen und Angebote, die das Kind nutzt, informieren und Eltern und Kinder sich konstant über ihre Medienerfahrungen austauschen. "Eltern tun gut daran, ihre Kinder für die Mediennutzung zu trainieren, so ein Vertrag kann da ein guter gemeinsamer Startpunkt sein, der auch die Eltern in die Pflicht nimmt", erklärt die "Schau hin!"-Expertin.

Ein Mediennutzungsvertrag legt zudem fest, wie die Geräte genutzt werden und bildschirmfreie Zeiten einzuhalten sind, dass Eltern ihre Kinder nicht heimlich kontrollieren und die Familie regelmäßig auch bildschirmferne Aktivitäten zusammen unternimmt. Für die Verträge gibt es im Internet einfache Vorlagen wie die auf der Seite "www.mediennutzungsvertrag.de". Diese können sogar gemeinsam gestaltet und im Verlauf immer wieder altersgerecht angepasst werden.

Hilfreich sind auch spielerische Quizze, bei denen Eltern und Kinder sich selbst reflektieren und ihren Wissensstand rund um die Mediennutzung zusammen abfragen können. Das Kartenspiel "Real-Life-Challenge" stellt zum Beispiel diverse Herausforderungen an die Mitspieler. So darf man zum Beispiel an einem Tag nur maximal 20 einzelne Messenger-Nachrichten versenden und muss das Handy immer weglegen, wenn man sich mit Menschen unterhält. Das Medienquiz der Initiative "Schau hin!" testet hingegen das Medienwissen rund um Computerspiele, Social Media und das Internet.

Tipp 3: Eieruhr, Gutscheine & Co. als kleine Hilfe für die Selbstregulierung nutzen

Wenn es den Kindern trotz vielem Reden und einem Vertrag schwerfällt, die Bildschirmzeit zu beenden, gibt es ein paar bewährte Helferlein, die sie dabei unterstützen.

Kindern, die sehr vertieft sind, helfen zum Beispiel laute Töne einer Eieruhr oder eines Handy-Timers, um an das Ende der Bildschirmzeit erinnert zu werden. Diese stellen Kinder am besten eigenverantwortlich ein. Ein besonders beliebtes Mittel sind auch Gutscheine. "Dieses System greift meiner Erfahrung nach gut ungefähr bis zur zweiten, dritten Klasse. Spätestens ab der 4. Klasse aber kommt die Vorpubertät, da gibt es dann bei dieser Methode Kontra", weiß Kristin Langer zu berichten.

Es helfe aber, ein Verantwortungsgefühl für sich zu entwickeln und zu lernen, das Gutscheinkontingent für sich zu verplanen. Darüber hinaus können auch technische Lösungen Kinder unterstützen, die etwa das WLAN deaktivieren oder die Nutzungsdauer einer bestimmten App begrenzen.

Für welche Möglichkeit man sich entscheidet, hängt für Kim Beck vom Medienkompetenz-Podcast medially am Ende vom Erziehungsstil ab, der von Familie zu Familie sehr unterschiedlich sein kann. "Oft sind Kombinationen hilfreich, zum Beispiel klare Abmachungen in Kombination mit Bildschirmzeitkontrolle der Apps. Jeder muss sich dann an seinen Teil der Abmachung halten", sagt die Medienpädagogin.

Tipp 4: Medienwochenfahrplan erstellen

Neben einem Mediennutzungsvertrag und kleinen Helfern gibt es eine weitere, recht hilfreiche Methodik, um die Nutzung von Tablets und anderen Geräten stressfrei in der Familie zu regeln: den Medienwochenfahrplan. Hierbei legt die Familie in gemeinsamer Runde fest, wer von den Familienmitgliedern im Wochenverlauf wann welches Gerät benötigt und verwenden darf.

Dabei wird genau eingetragen, wann die Medienzeit beginnt und wann sie endet. Eltern haben damit genau im Blick, welches Familienmitglied wann vor welchem Bildschirm sitzt und Kinder können sich auf "ihre" Zeit im Vorfeld einstellen. Weil alles reguliert und besprochen ist, entfällt Stress rund um die Nutzung der Tablets. Streit wird so definitiv vorgebeugt.

Die Medienpädagogin Kim Beck empfiehlt, für die festgelegten Bildschirmpausen einen "Auszeit-Platz" für Tablets und andere mobile Geräte zu vereinbaren. "Dorthin kann das Smartphone beispielsweise selbstständig hingebracht werden, wenn man es gerade nicht braucht oder wenn man sich ohnehin auf die Hausaufgaben konzentrieren muss. Sowas kann es auch für die ganze Familie geben. Etwa wenn gemeinsam gegessen wird, kommen alle Smartphones auf den Küchenschrank und damit außer Reichweite", empfiehlt sie.

Tipp 5: Familientablet einrichten

Wer als Familie bewusst auf mehrere Tablets verzichten möchte, für den eignet sich die Einführung eines Familientablets. Hierbei nutzt die gesamte Familie nur ein Gerät. Alle Mitglieder lernen so, gegenseitig bei der Nutzung des Tablets auf andere Rücksicht zu nehmen und zu teilen. Jeder hat dabei die Möglichkeit, das Gerät zu nutzen, ganz ohne feste Zeiten.

"So kann sich erst gar nicht der Gedanke festigen, das Gerät sei das eigene Spielzeug, dem man sich stundenlang widmen könne. Kinder müssen für den Medienumgang lernen, dass die Nutzung nicht grenzenlos ist. Das geht wunderbar mit dem Familientablet", erklärt Kristin Langer.

Für die Medienpädagogin ist dabei wichtig, dass Eltern erst gar kein Besitzrecht entstehen lassen sollten. Das Tablet sollte in erster Linie technisches Hilfsmittel sein, um Schul- und Freizeitaktivitäten zu ermöglichen. Bis zu einem gewissen Alter erfolge die Nutzung am besten in Begleitung der Eltern.

Tipp 6: Bei digitaler Abhängigkeit professionelle Hilfe von außen suchen

Wenn all das nicht hilft und die Eltern beobachten, dass ihr Kind öfter schlechte Laune durch lange Mediennutzung bekommt und es keinen Sport mehr macht und sich von allem zurückzieht, ist Vorsicht empfohlen. Eltern können zunächst mittels Checklisten überprüfen, ob eine Abhängigkeit vorliegt. Eine hilfreiche Liste bietet die Medienkompetenz-Initiative Klicksafe.

Doch selbst wenn viele Fragen positiv beantwortet wurden, ist das noch keine Diagnose. Klicksafe empfiehlt, nun erst recht mit dem Kind darüber zu reden und auch neugierig auf die Medien zu sein, die das Kind nutzt. Erst wenn ein entsprechendes, auf eine Sucht hindeutendes Verhalten über einen Zeitraum von einem Jahr vorliegt, sollten Eltern einen vermittelnden Suchtexperten aufsuchen, der die Situation überprüft.

Tipp 7: Geduld und Verständnis an den Tag legen

Wer offen ist, das Mediennutzungsverhalten in der Familie zu ändern und die Streitereien beenden möchte, der sollte vor allem geduldig sein. Denn Kinder und Jugendliche müssen Selbstregulierung oft in einem jahrelangen Prozess erlernen. Für Kristin Langer ist Mediennutzung deshalb vor allem eine Art Verhaltenstraining, das sich langsam ändern lässt.

"Verhalten können Sie antrainieren, das ist der Vorteil. Üben Sie miteinander, reden Sie auf Augenhöhe, leben Sie das, was Sie verlangen auch vor und geben Sie Kindern Schritt für Schritt Mitverantwortung. Dann sollten erste Erfolge schon nach einem Vierteljahr sichtbar werden", weiß die erfahrene Familiencoachin zu berichten.

Über die Experten:
Kristin Langer ist Mediencoachin beim Elternratgeber "Schau hin!". Die diplomierte Medienpädagogin und Mutter einer Tochter hat langjährige Erfahrungen im Bereich der Elternarbeit und arbeitet unter anderem als freie Dozentin in der Erwachsenen- sowie Lehrerfortbildung. Zudem ist sie als Referentin für die Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) tätig.
Kim Beck arbeitet in der medienpädagogischen Praxis in Form von Workshops oder Vorträgen intensiv mit Kindern, Jugendlichen sowie Fachkräften und Eltern zusammen. Sie ist auch Co-Host im Medienkompetenz-Podcast medially.

Verwendete Quellen:

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