Diskriminierung ist für viele "queere" Menschen immer noch Alltag. Gerade Jugendliche fühlen sich unsicher und haben Angst vor einem Coming-out. Eine Psychologin zeigt, wie Eltern sie dabei unterstützen können.

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Wenn Jugendliche mitteilen wollen, dass sie nicht den typischen Geschlechternormen entsprechen, tun sie das oft zuerst im Internet. Das berichtet Christiane Kaufmann von "Rat&Tat" in Bremen. Der Verein versteht sich als Beratungsstelle und Interessenvertretung für queere Lebensweisen, Kaufmann arbeitet dort als psychologische Beraterin.

"Meiner Erfahrung nach sind Eltern nicht die ersten, die von einem Coming-out erfahren", so Kaufmann. "Häufig haben Jugendliche Sorgen, dass die Eltern etwas mitbekommen. Deshalb sind die ersten Menschen, denen sie sich mitteilen, diejenigen, die im Nahbereich sind, also gute Freunde, manchmal auch Lehrkräfte. Meistens sind es jedoch irgendwelche anonymen Menschen im Internet."

Was auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mag, hat durchaus seine Vorteile. "Es ist eine positive Entwicklung, dass die Jugendlichen über Internet und soziale Medien überhaupt Information bekommen. Sie erhalten einen Blick in eine andere Welt und sehen, da gibt es Leute mit ähnlichen Themen." Soziale Medien schaffen also eine größere Zugänglichkeit. "Jugendliche können so früher herausfinden, was sie interessiert und womit sie sich näher beschäftigen wollen."

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Coming-out oder nicht? Jugendliche haben oft Angst vor Ablehnung

LGBT-Jugendliche stehen vor der Anforderung, "sich mit ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität in der Gesellschaft zu verorten und sich individuell einen Lebensentwurf zu erarbeiten, der dem eigenen Erleben gerecht wird". So heißt es in einem Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstituts (DJI).

Zu den Erfahrungen, die Jugendliche machen müssen, gehören aber auch Beleidigungen, Ausgrenzung, Mobbing. Und gerade die mögliche Ablehnung durch Familienmitglieder gehört zu den größten Ängsten der Jugendlichen: 69 Prozent der in der Studie Befragten äußerten diese Sorge, 45 Prozent gaben an, "in der engeren Familie Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität erfahren zu haben".

Das Coming-out in der Familie wird demnach im Vergleich zum Freundeskreis oder dem Ausbildungs- und Arbeitsplatz als am schwierigsten bewertet.
Eltern würden meist erst dann eingeweiht, wenn etwas mehr Abstand zum Elternhaus besteht, die Kinder ausgezogen sind und sich ein eigenes stabiles Umfeld aufgebaut haben. So zumindest die Erfahrung von Christiane Kaufmann.

Diskriminierung bleibt nicht ohne Folgen

Doch auch im Freundeskreis erleben LGBT-Jugendliche Diskriminierung. Vier von zehn Jugendlichen (41 Prozent) hätten bereits dementsprechende Erfahrungen gemacht, wie es in der DJI-Studie heißt.

Das bleibt nicht ohne Folgen. "Charakteristisch ist, dass viele Jugendliche versuchen, ihre 'wahren Gefühle' über einen längeren Zeitraum zu verdrängen", so das DJI. "Während der teils jahrelangen Unterdrückung der tatsächlichen geschlechtlichen oder sexuellen Identität, entwickelten sich bei einigen Jugendlichen therapierelevante psychische und psychosomatische Symptome."

Der Verein Coming Out Day wird sogar noch deutlicher: "Das Suizidrisiko von Lesben und Schwulen zwischen 12 und 25 Jahren ist vier- bis siebenmal höher, als das von Jugendlichen im Allgemeinen", heißt es auf der Website des Vereins. Und weiter: "Deutlich ansteigend ist das Suizidrisiko, je jünger die Jugendlichen bei ihrem Coming-Out sind."

Psychologin erklärt: "Nicht so sein dürfen wie ich bin, ist die größere Gewalt"

Wie also können Eltern ihre Kinder unterstützen und ihnen die Kraft verleihen, souverän mit ihrer sexuellen Identität umzugehen? Wichtig sei vor allem ein gutes Vertrauensverhältnis, sagt Christiane Kaufmann. "Eine Beziehung, bei der das Kind weiß, dass es jederzeit zu den Eltern kommen und sich sicher fühlen darf."

Dabei könne man nicht früh genug damit beginnen, dieses Gefühl zu vermitteln, sagt Kaufmann, im Prinzip schon in der KITA. "Eltern sollten vermitteln 'Du bist okay so wie du bist. Egal was du anziehen willst oder spielen möchtest, wir unterstützen dich'. Das schafft Resilienz."

Allerdings erlebe die Sozialarbeiterin viele verunsicherte Eltern in ihrer Sprechstunde, die ihre Kinder beschützen wollen und deshalb Angst vor deren Coming-out hätten. "Ich sage den Eltern: Es ist viel leichter und weniger schädlich, mit der Stärkung von zu Hause irgendwo anzuecken oder mal ‘nen blöden Spruch zu bekommen als aus Angst davor, gesagt zu bekommen, versteck dich lieber! Verstecken und nicht so sein dürfen wie ich bin, ist die größere Gewalt."

Coming-out als Strategie der Emanzipation – ist das noch zeitgemäß?

Ein Coming-out kann also eine große Erleichterung sein. Das DJI spricht von einer "Strategie der Emanzipation". Dabei ist das Konzept alles andere als unumstritten. Denn der Begriff "Coming-out" basiert ja auf der Grundlage einer (heterosexuellen) Norm, der gegenüber eine Art Bekenntnis stattfinden soll. Das DJI schreibt dazu: "Menschen, deren geschlechtliche Identität oder sexuelles Begehren nicht dieser Norm entsprechen, werden immer noch als das 'Außen/Andere/Abweichende' gesehen und sind gesellschaftlichen Exklusionsrisiken ausgesetzt."

Was müsste also gesellschaftlich passieren, damit es ein Coming-Out gar nicht mehr benötigt? "Dazu gehört ein Bewusstsein der Vielfalt, die wir einfach haben", sagt Christiane Kaufmann. Allerdings betont sie auch die stärkenden Aspekte des Coming-Outs: "Im ersten Moment ist es schon eine Hürde, weil man gezwungen wird, sich abzugrenzen. Es gibt dieses Gefühl, ich gehöre nicht zu den anderen und das tut auch weh. Wenn man aber erfährt, ich kann so sein wie ich bin, kann das ein Moment des ‘Empowerment‘ sein."

Über die Expertin: Christiane Kaufmann ist Psychologin und Beraterin bei Rat&Tat – Zentrum für queeres Leben e.V. in Bremen.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Christiane Kaufmann
  • Deutsches Jugendinstitut: Broschüre “Coming-out – und dann…?!“ (2015)
  • Website Coming Out Day e.V.
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