Weltreporterin Julia Macher über die Proteste gegen den Massentourismus in Barcelona - und ihre eigene Rolle dabei.
In Spanien wird derzeit fast überall gegen die Auswirkungen des Massentourismus protestiert. Bei mir in Barcelona bespritzten Demonstrierende Anfang Juli Touristinnen und Touristen mit Wasserpistolen und skandierten vor Hotels "balconing, balconing": Ein deutsches Magazin hat das – sehr frei – mit "In Balkonien ist es auch schön" übersetzt.
Tatsächlich ist "balconing" das spanisch-englische Kunstwort für das Springen vom Hotelbalkon in den Pool. Das ist natürlich verboten, bei Partytouristen aber trotzdem oder gerade deshalb beliebt. Jedes Jahr kommt es dabei zu schweren, auch tödlichen Unfällen. Die wenigsten Urlauberinnen und Urlauber haben wohl verstanden, dass sie von den Protestierenden dazu aufgefordert wurden, herunterzuspringen.
Ich war auch auf dieser Demo, in erster Linie als Reporterin, in zweiter als Bewohnerin der Stadt, in der ich seit fast zwanzig Jahren lebe. Die latente Aggressivität gegenüber den Touristen hat mich irritiert. Dabei verstehe ich den Frust und die Wut der Demonstrierenden gut.
Auch ich bin regelmäßig genervt von den vielen Touristen. Ich schüttele den Kopf, wenn ich beim Weg durch die Stadt mal wieder einen Bogen um Menschen schlagen muss, die sich gegenseitig in irgendeiner lustigen Pose vor irgendeinem bemerkenswerten Haus fotografieren.
Ich ärgere mich, dass es in vielen Markthallen inzwischen mehr Smoothie- als Tomatensorten gibt.
Ich bekomme Aggressionsschübe, wenn mir auf dem Bürgersteig eine laut klingelnde Gruppe Fahrradfahrerinnen und -fahrer entgegenkommt.
Und manchmal triggert mich schon dieser tiefenentspannte Schlendrian, mit dem Besucher durch Barcelona schlappen und selbstbewusst oder selbstvergessen den halben Bürgersteig einnehmen – während ich mal wieder viel zu spät zu einem Termin, einer Verabredung, zum Einkaufen oder nach Hause eile und den Promenierenden ausweichen muss.
Verstopfte Straßen, überteuerte Cafés
Und Ausweichen ist in Barcelona schwer. Mit 100 Quadratkilometern ist die 1,6-Millionen-Einwohner-Metropole relativ klein. Auf einem Quadratkilometer leben 16.600 Menschen. Spuckt ein Kreuzfahrtschiff eine Ladung Passagiere aus, dann sind die Ramblas voll. 19 Millionen Touristinnen und Touristen kamen 2019, im Rekordjahr vor der Pandemie nach Barcelona. In diesem Jahr sollen es deutlich mehr werden.
Ich glaube inzwischen: Die "turismofobia", die Wut auf den Massentourismus, ist in erster Linie die Folge eines Platzproblems. Weil die Straßen verstopft und die Busse überfüllt sind. Weil es für Einheimische kaum noch erschwinglichen Wohnraum gibt. In den letzten zehn Jahren sind die Mietpreise um 68 Prozent gestiegen, angetrieben von der wachsenden Beliebtheit der Stadt.
Weil die Bewohnerinnen und Bewohner auch sonst keinen Platz mehr finden. Im Café bei mir um die Ecke wird fast ausschließlich Englisch gesprochen, der Kaffee wird in Keramikschälchen gereicht und kostet fast drei Euro. Kein Barcelonese, keine Barcelonesin würde diese Summe für einen Kaffee schnell mal zwischendurch ausgeben. Das machen nur "guiris". "Guiris", das ist die negativ konnotierte Bezeichnung für Touristinnen und Touristen und/oder Ausländer aus tendenziell wohlhabenderen Staaten.
"Miris on miris, tots són guiris" war einer der am lautstärksten skandierten Slogans Anfang Juli: "Egal, wo du hinguckst: überall nur 'guiris'". Als er angestimmt wurde, lief links von mir eine in Deutschland geborene Freundin, die den Großteil ihres Lebens in Spanien und Uganda verbracht hat, rechts von mir eine katalanische Freundin, die in Wien lebt und arbeitet. Für uns drei wäre der leicht abgewandelte Slogan "Tots som guiris ("Wir alle sind 'Guiris'") passender gewesen.
Als freie Journalistin, die in Spanien lebt, aber fast ausschließlich für deutsche Medien arbeitet, bin ich für viele Teil des Problems. Mein Jahresgehalt liegt deutlich über dem spanischen und noch deutlicher unter dem deutschen Durchschnittsgehalt.
Ich kann mir das schaumgekrönte Barista-Wunderwerk im Café an der Ecke leisten, inklusive Banana Bread. Und sollte unsere Vermieterin beschließen, die Miete zu erhöhen, muss ich nicht sofort an den Stadtrand ziehen. Zumindest nicht, solange zwei Gehälter in die Haushaltskasse fließen.
Darf ich mich da überhaupt über zu viele Touristen, zu viele "andere Ausländer" beschweren? Ökonomisch gehöre ich schließlich eher zu den Expats als zu den Einheimischen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass mein Sohn auf eine öffentliche Schule geht und ich im Alltag mehr Katalanisch als Englisch spreche.
Darf ich mich als privilegierte Ausländerin über Tourismus ärgern?
Wir "guiris" sind aber noch auf eine andere, subtilere Weise Teil des Problems. Darauf hat mich der Anthropologe José Mansilla gestoßen. Mansilla forscht an der Freien Universität Barcelona zu Tourismus in Barcelona und befragt regelmäßig US-amerikanische Touristinnen und Touristen zu ihren Erwartungen. Die meisten geben an, sie kämen wegen des Meeres, der Gastronomie und wegen des Fußballs.
"Selbstbetrug", sagt Mansilla. "In Wahrheit suchen sie das Ambiente, aus dem die Stadt ihr Markenzeichen gemacht hat: Barcelona verkauft sich als kosmopolitische, mediterrane Stadt, in der Straßen und Plätze voll sind mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern."
Die Reisenden suchen also sich – und Leute, die so ähnlich sind wie sie, zum Beispiel mich. Ich bin Statistin in einem Spiel, bei dem ich eigentlich gar nicht mitmachen möchte. Das ist eine ziemlich undankbare Rolle.
Zugleich hat mir das Gespräch mit Mansilla noch einmal verdeutlicht, warum Wasserpistolen-Angriffe und "Balconing"-Sprechchöre nicht nur moralisch fragwürdig sind, sondern auch politisch nichts bringen. Der Protest muss sich gegen die richten, die die Regeln bestimmen. Und das sind weder die Touristinnen und Touristen noch wir "guiris", sondern Stadt- und Regionalverwaltung und Verbände. Auch deswegen haben mich die Rufe auf der Demo so verstört.
Beste Grüße aus Barcelona!
Verwendete Quellen
- Deutschlandfunk: Barcelona: Mit Wasserpistolen gegen Touristen
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