1978 bestieg er zusammen mit Peter Habeler als erster Mensch der Welt den Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff. 40 Jahre später spricht Reinhold Messner darüber, warum seine Generation die beste Zeit an den großen Bergen hatte - obwohl sein Alpinismus scheiterte.

Ein Interview

Herr Messner, Sie waren vergangene Woche in Nepal. Was haben Sie dort gemacht?

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Reinhold Messner: Eine Erinnerungstour - in Gedenken an den Mount Everest vor 40 Jahren.

1978 war ich mit einer österreichischen Expedition unter der Führung von Wolfgang Nairz am Mount Everest und habe mit Peter Habeler den höchsten Berg der Erde als erster Mensch ohne Sauerstoffmaske bestiegen.

Alle acht noch lebenden Bergsteiger, die damals dabei waren, haben in diesem Jahr im Himalaya gefeiert, sich erinnert und zurückgedacht.

Sie haben damals einen Rekord aufgestellt. Was macht Reinhold Messner seitdem am 8. Mai?

Ich mache gar nichts Besonderes, aber ich werde mir sicherlich "Everest, der letzte Schritt" anschauen: den Film, den ich selbst zum Thema Everest ohne Maske gemacht habe. Es ist der Versuch, die erinnerte Wirklichkeit auf den Schirm zu bringen.

Ihnen selbst bedeutet der Alleingang auf den Everest von 1980 mehr. Wieso?

Das war das "i-Tüpfelchen" meines Bergsteigens. Ich habe 1975 damit angefangen, an den Achttausendern einen reduzierten "alpinistischen" Stil vorzutragen. Mir ging es dabei nicht mehr um die Gipfel, sondern um das "Wie?"

Zu Beginn waren das schwierige, neue Routen, aber auch der Verzicht auf Sauerstoffgeräte und fixe Seile gehörte dazu. Ich selbst nenne diese Periode auch den "Verzicht-Alpinismus".

Leider lebte er nur ganz kurz auf und blieb nicht nachhaltig erfolgreich. Mein Alpinismus ist im Grunde gescheitert.

Sie haben sich stets gegen Heldentum gewehrt und den Selbstzweck des Bergsteigens als Grenz- und Selbsterfahrung in den Mittelpunkt gestellt. Was hat Sie insbesondere der Everest über Ihre eigene Person gelehrt?

Das hängt in diesem Fall mit der Frage "Wo kam die Idee her?" zusammen. Bis 1975 hatte ich drei Achttausender bestiegen, alle ohne Maske. Zu Beginn noch in diesem schwerfälligen, komplizierten Stil.

Ich habe mich langsam von diesem Expeditionsstil abgewandt. Nachdem mir 1975 der "Hidden Peak" mit Peter Habeler im alpinen Stil gelungen war, kam nicht nur bei mir, sondern auch etwa in Japan und England die Frage auf: "Kann man das auch am Mount Everest machen?"

Die Fachleute waren sich einig: Das funktioniert nicht! Wenn man Sauerstoff einsetzt, braucht es Helfer: Die Flaschen wogen damals - pro Mann! - 50 Kilogramm, sodass man sie nicht mit eigener Kraft in die Gipfelregion tragen konnte.

Dafür waren Träger und eine Infrastruktur notwendig. Davon wollte ich aber weg, daher habe ich den Versuch gewagt, ohne Maske auf den Everest zu steigen.

Durch das Gelingen war der Beweis geliefert, dass Gleiches an allen Bergen möglich ist. Ich habe dann gelernt, über Tage hinweg in dieser Einsamkeit, bei großen Schwierigkeiten und in prekären Lagen mit mir selbst zurechtzukommen.

Ein Sprichwort lautet: "Alle sagten 'Das geht nicht.' Dann kam einer, der wusste das nicht, und hat’s gemacht." Traf das auf Sie zu?

Niemand wusste, ob es klappen würde. Es brauchte wirklich den Versuch, und Peter Habeler und ich haben viel gewagt. Wir hatten allerdings Grund zur Annahme, dass es nicht ausgeschlossen ist.

Engländer waren bereits 1924 bis über 8.500 Meter vorgestoßen. Allerdings waren sie zuletzt so langsam - in der Schlussphase 20 bis 30 Höhenmeter pro Stunde -, dass sie keine Chance hatten. Daraus habe ich abgeleitet, dass wir schnell sein müssen.

Für mich ist der Alpinismus keine sportliche Angelegenheit, sondern eine kulturelle Auseinandersetzung zwischen Mensch und Berg. Nur wenn ich die Historie kenne und weiß, wie man früher agiert hat und ausgerüstet war, kann ich mir eine neue Logistik zurechtlegen, um es dann zu schaffen.

Der Alpinismus entwickelt sich seit 200 Jahren nur entlang der einen Prämisse: möglich oder unmöglich.

Der "Spiegel" schrieb 1979 über Sie: "Messner machte sich ein Vergnügen daraus, die geheiligten Tabus der Kletterwelt zu brechen." Gibt es heute noch solche Tabus?

Jede Generation hat versucht, das, was die Vorläufer für unmöglich erklärt haben, möglich zu machen. Deswegen bin ich bei den älteren Bergsteigern auch angeeckt - nicht böswillig, sondern weil ich Tabus gebrochen habe, was die Quintessenz des Bergsteigens ist.

Durch das Verschieben der Grenzen habe ich den Alpinismus meiner Zeit verändert.

Es gibt heute immer noch Schwierigkeiten in großer Höhe, die - noch - niemand meistern kann: Die Hufeisen-Route am Mount Everest - Aufstieg über den Westgrat des Nuptse, über den Lothse zum Everestgipfel und Abstieg über den Westgrat - ist machbar, aber noch niemandem gelungen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sie diesseits des Möglichen liegt.

Am Mount Everest wurde Infrastruktur für Touristen geschaffen und hat den Aufstieg viel einfacher gemacht. Müsste man dem entgegenwirken?

So wie die Achttausender heute für den Massentourismus präpariert werden, hat das mit Alpinismus nichts mehr zu tun. Alpinismus ist der Versuch, in Eigenregie am Ende der Welt, wo es keinerlei Hilfen und Infrastruktur gibt, zurechtzukommen.

Alle Versuche, dem Tourismus am Mount Everest entgegenzuwirken, sind gescheitert. Als Edmund Hillary noch am Leben war, bin ich mit ihm 2003 zur Feier der Erstbesteigung beim damaligen König von Nepal gewesen. Wir haben eine Audienz bekommen und ihn gebeten, es so zu organisieren wie früher: eine Expedition pro Saison an jeder Seite des Berges - und nicht dreißig oder hundert.

Schon damals hat der König gesagt, man müsse die wirtschaftliche Seite sehen: Jeder Bergsteiger, der heute den Everest angeht, zahlt 11.000 Dollar in die Staatskasse.

Die Sherpa müssen den Berg wie Straßenarbeiter regelrecht reparieren und bauen Pisten vom Basislager bis zum Gipfel, auf denen die Touristen dann hochgebracht werden. Das ist immer noch gefährlich, aber nur ein Bruchteil der Anstrengung von damals.

Das Bergsteigen hat sich seit den letzten 30 Jahren radikal verändert. Es ist global geworden, es ist Sport geworden und es ist Tourismus geworden. Die meisten Leute, die heute in den Alpen unterwegs sind, sind Touristen.

Sie sagen, die wilde Natur gebe es so gar nicht mehr, weil man sich alles über Satellit anschauen könne. Warum hört Natur an dem Punkt auf, wild zu sein?

Die Natur ist gleich geblieben, auch wenn wir sie von Satelliten aus beobachten können. Aber unsere Vorstellung von Natur hat sich verändert.

Alpinismus ist nicht Natur, sondern die Auseinandersetzung zwischen Menschennatur und Bergnatur. Die Menschennatur verändert sich, wenn ich weiß, dass ich mich über GPS an jedem Punkt der Erde orientieren kann, an jedem Ort mit einem Satellitentelefon direkt den Wetterbericht erfahren kann: ein völlig anderer Zugang heute zu den Bergen als in den 30er- oder 50er-Jahren.

Wir hatten die beste Zeit an den großen Bergen - sie waren wild, es gab kein GPS-Gerät oder Satellitentelefon -, sodass die Menschennatur in diesen Dimensionen absolut gefordert war. Die Generation davor hatte Schwierigkeiten, Expeditionen überhaupt zu finanzieren, wir aber konnten so viele Expeditionen machen, wie wir wollten.

In Kletterkunst steckt das Wort "Kunst". Worin liegt die Kunst für Sie bei Ihren Touren?

Ich lese aus der Bergstruktur eine Linie heraus, die ich dann klettere. Ich versuche dabei, die Gangbarkeit einer Linie zu prüfen. Am Ende bleibt die Linie in der Wand. Man kann sie zwar nicht sehen und greifen, es gibt sie aber.

Ist das Kunst? Zeichnen an den größten Leinwänden der Welt. Eine gelungene Route, die der Natur des Berges entspricht, ist eine kunstvolle Linie. Außerdem ist gutes Klettern wie ein Tanz, und auch das gehört zur Kunst.

Sie beschreiben den Berg als weder beseelt noch tot, sondern sagen: Berge zeigen uns, dass es Dimensionen gibt, die die Möglichkeit menschlichen Erkennens übersteigen. Können Sie das genauer erklären?

Ich glaube, wir Menschen haben eine Natur in uns - nicht von Gott, sondern genetisch übertragen. Sie hat sich über hunderttausende Jahre im Menschen ausgebildet.

Wir haben bei keiner Tätigkeit die Möglichkeit, so nah an die archaische Basis der Menschennatur zu kommen wie beim Grenzgang, beim Abenteuer.

Angst als Teil der menschlichen Natur ist in der Wildnis etwas ganz anderes als in der Zivilisation. Die urbane Welt gibt uns mehr und mehr Sicherheiten oder täuscht sie vor.

Wir aber gehen gegen unseren Selbsterhaltungstrieb in den Gefahrenraum hinein. Die Kunst ist es, dann nicht umzukommen. Bestünde letztere Möglichkeit nicht, wäre es keine Kunst - sondern nur ein Spiel.

Wenn mir das Überleben gelingt, erfährt mein Selbsterhaltungstrieb Bestärkung und ich verlasse den Gefahrenraum mit dem Gefühl, neugeboren zu sein. Ich habe mein Leben in die Waagschale geworfen, um es zurückzuerobern.

Wie weit geht der Ausspruch "by fair means" für Sie? Wo fangen wir an, mit technischen Hilfsmitteln die Natur zu betrügen?

Das "by fair means" kommt von Albert Mummery, einem britischen Alpinisten aus dem 19. Jahrhundert. Er hat gesagt, Alpinismus ergebe nur Sinn, wenn wir es nicht durch Technik zum Spiel machen.

Ich habe das später wieder aufgegriffen und 1968 den Aufsatz "Mord am Unmöglichen" geschrieben. Dort steht: "Wenn wir das Unmögliche mit Technologie ausschalten, ist der Alpinismus obsolet." In meinem zuletzt gegründeten Museum steht im Eingang: "Wo beginnt Alpinismus, wenn der Tourismus den Gipfel des Mount Everest erreicht hat?"

Ich sehe heute meine Aufgabe auch darin, das Narrativ des traditionellen Alpinismus in den Köpfen der Menschen lebendig zu halten, damit sie nicht vergessen, was Bergsteigen eigentlich ist.

Sie haben auch als erster Mensch noch vor Jerzy Kukuczka alle 8.000er erfolgreich besteigen. Gab es da so etwas wie Konkurrenz?

In der Schlussphase, ja. Die Polen waren in den 1980er Jahren die besten Bergsteiger der Welt. Da der Staat noch unter sowjetischer Kontrolle war, hatte Kukuczka auch ein Interesse daran, Polen nach außen zu vertreten.

Das wurde unterstützt, sodass Kukuczka auch mehr Möglichkeiten hatte als ich, der seine Expiditionen selbst finanzierte. Ich habe Kukuczka öfters getroffen und großen Respekt für ihn, habe mir meine Idee aber nicht wegnehmen lassen.

Trotzdem habe ich 1984 zwei Achttausender, die ich bereits bestiegen hatte, ein weiteres Mal bestiegen. Wenn es mir nur ums Abhaken gegangen wäre, hätte ich darauf verzichten können.

Sie haben einmal gesagt: "Egal, worum es geht, es gibt nur eine einzige Frage: Wo will ich hin?" Was ist aktuell Ihre Herausforderung?

Ich komme gerade aus Nepal, wo ich mit Wolfgang Nairz ein Krankenhaus eingeweiht habe, das wir nach dem Erdbeben mit den Mitteln aus seinem Verein "Nepalhilfe Tirol" und meiner Stiftung "Messner Mountain Foundation" wieder aufbauen halfen.

Ich habe es mir vor 15 Jahren zur Aufgabe gemacht, Bergmenschen weltweit zu helfen. Die Stiftung wird noch ein weiteres Jahr aktiv sein, mit 75 löse ich sie auf, denn ich möchte ihre Fortführung niemandem aufhalsen.

Außerdem war ich vor Kurzem in Georgien und habe mit der Regierung dort vereinbart, dass mein Lieblingsarchitekt Werner Tscholl und ich ein Kaukasus-Museum für die Georgier gestalten werden.

Auch in Georgien hat man erkannt, dass der Alpinismus eine kulturelle Angelegenheit ist und man den Bergtourismus kulturell unterfüttern muss.

Ein weiteres Hauptanliegen ist mir das Filmemachen, das Narrativ "Alpinismus" auf Leinwand zu zaubern. Das mache ich, solange ich Kraft, Lust und Kreativität dazu habe. Dann irgendwann ziehe ich mich ins Gebirge zurück und greise unsichtbar von Höhle zu Höhle." (lacht)

Reinhold Messner ist eine der wenigen noch lebenden Bergsteiger-Legenden. Dem Südtiroler gelangen viele Erstbegehungen. Von 1970 und 1986 bestieg er alle 14 Achttausender ohne Flaschensauerstoff. Er durchquerte die Antarktis, die Wüsten Gobi und Takla Makan und Grönland.Heute lebt der 74-Jährige mit seiner Familie in Südtirol. Er Schreibt Bücher und widmet sich seinem Projekt Messner Mountain Museum sowie seiner Stiftung, die Bergvölker weltweit unterstützt.
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