Dass eine Royal Enfield Classic 650 kommen wird, war längst klar. Auf der EICMA wurde sie präsentiert, und wir haben sie bereits zum ersten Fahrtest gebeten.

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"Hey there! What beautiful looking old bikes are these?", ruft er über den Zaun, während die Journalisten-Meute vor einer roten Ampel auf Grün wartet. "It’s not old! It’s brand new!", brüllt einer aus der Meute zurück und erntet ungläubiges Staunen. Der Mann hinterm Zaun kann nicht mehr nachhaken, denn die Ampel schaltet auf Grün und der Test-Tross setzt sich in Bewegung. Im Rückspiegel ist erkennbar, dass sein Hals immer länger wird und er uns noch lange hinterherschaut.

Diese kleine Begegnung auf den ersten Kilometern hier im Norden Englands wird nicht die einzige dieser Art bleiben und sagt alles über die neue Royal Enfield Classic 650 aus. Sie ist Everybody’s Darling, ein absoluter Hingucker. Noch klassischer als ihre Schwestern Continental GT oder Interceptor, die beide vom Styling her in die 1970er einsortiert werden könnten. Wer die Classic 650 zum ersten Mal sieht, glaubt, sich in den 1950er-Jahren wiederzufinden.

Video: Der Erlkönig der Royal Enfield Classic 650 im Video

Royal Enfield Classic 650 für EU und USA

Für Insider ist es beileibe keine Überraschung, dass die Inder nun auch diese Variante mit ihrem luftgekühlten 650er anbieten. Denn die Classic 350 war für Royal Enfield zeitweise das erfolgreichste Modell und schuf ein kräftiges Fundament, auf dem die Firma wächst und gedeiht. Zwischen 2010 und 2015 produzierte Royal Enfield monatlich rund 50.000 Exemplare der Classic 350, die neben der Classic 500 vor allem im Heimatland extrem begehrt ist. Nun will man mit der Royal Enfield Classic 650, die in vielen Schwellenländern der Welt als Big-Bike gilt, auch die europäischen und amerikanischen Märkte erobern.

Ob das mit 47 PS gelingt, sei dahingestellt. Aber die Chancen sind da. Echte Konkurrenz ist quasi nicht vorhanden. Zum einen hat kein anderer Hersteller ein derart perfekt auf alt gemachtes, technisch aktuelles Bike im Programm. Zum anderen sind Motorräder wie die Kawasaki W 800 oder auch die Triumph Bonneville T100 wesentlich teurer. Und die legendären, luftgekühlten 883 Kubik großen Einsteigerbikes von Harley gibt es schon lange nicht mehr. Kurzum: All diese Umstände rollen der Royal Enfield Classic 650 quasi den roten Teppich aus.

Royal Enfield Classic 650 vs. Shotgun 650

Dass dies gerade in der Nähe des nordenglischen Newcastle beginnt, hoch oben, nahe der Grenze zu Schottland, ist wettertechnisch gewagt. Es ist nebelig an diesem Morgen Ende September, kalte Feuchtigkeit schwebt in der Luft. Was die Motoren allerdings nicht davon abhält, sofort nach dem Startimpuls rundzulaufen. Gleich auf den ersten Metern ist man versucht, Parallelen zum Schwestermodell Shotgun 650 zu finden, mit der sich die Royal Enfield Classic 650 Rahmen und Motor teilt. Wer die zwei Modelle im kommenden Frühling beim Händler nebeneinander begutachtet, könnte auf die Idee kommen, die Shotgun sei eine modernere Version der Classic. Hoffen wir mal, dass sich beide Modelle untereinander nicht kannibalisieren. Optisch ist die Gefahr gering, denn beide haben eine andere Zielgruppe im Visier. Aber fahrtechnisch?

Leicht feuchte Straßen, zwölf Grad plus. Und ein indischer Reifen, der in den hiesigen Breiten nahezu unbekannt ist: MRF NyloHigh-FN. Vorsichtig tastet man sich über verschlungene Wege Richtung Northumberland-Nationalpark. Das Vertrauen in den Grip stellt sich mit jedem neuen Kilometer mehr ein. Apropos Reifen: Die Royal Enfield Classic 650 rollt auf etwas größeren Durchmessern als die Shotgun. Vorn setzen die Inder auf 100/90-19 und hinten auf 140/70-18. Gerade der hintere Reifen wirkt auf der schmalen Felge sehr zierlich. Aber er trägt maßgeblich dazu bei, dass die Royal Enfield Classic 650 quasi von selbst ums Eck fährt.

Lässige Sitzposition in 800 mm Höhe

Trotz der im Vergleich zur Shotgun etwas größeren Dimensionen und den daraus resultierenden höheren Kreiselkräften fährt sich die Royal Enfield Classic 650 recht handlich. Wenn sie denn rollt. Wer sie schieben muss, merkt ihr die 243 Kilo selbstverständlich an. Während eine malerische Landschaft an beiden Seiten vorbeizieht und man sich im Reich der Hobbits wähnt, verliebt man sich intuitiv in die lässige Sitzposition. Der Solositz ist in 800 mm Höhe. Er ist hinten breit und läuft zum Tank hin schmal zu. Das passt sowohl für große wie kleine Fahrer, hier ist ausreichend Platz, die Sitzhaltung zu variieren.

Im direkten Vergleich zur Shotgun ist der Tank an der Royal Enfield Classic 650 etwas größer und fasst 14,8 Liter. Der Lenker ist dichter am Fahrer und die Fußrasten sind in ähnlicher Position montiert. Dieses Arrangement sorgt für eine äußerst lässige, aufrechte und angenehme Sitzposition. Man fühlt sich entspannt, relaxt und frei, während es aus den beiden Schalldämpfern sonor blubbert. Nicht zu leise, nicht zu aufdringlich.

Royal Enfield Classic 650 lässt sich untertourig gut bewegen

Das Gefühl vom immerwährenden Wochenende könnte noch beruhigender ausfallen, wenn der allseits bekannte und oft verbaute Paralleltwin langhubiger ausgelegt wäre oder etwas mehr Schwungmasse hätte, beispielsweise wie die seiner kleineren 500er- oder 350er-Schwestern. Hat er aber nicht. Er ist drehfreudig, nimmt selbst in der Kaltlaufphase sauber Gasbefehle an und reißt aufgrund seiner lediglich 47 PS nur kleinere Bäume aus. Trotzdem passt er gut zur Royal Enfield Classic 650, denn das luftgekühlte Schätzchen lässt sich auch untertourig gut bewegen, wenngleich zügige Überholvorgänge hohe Drehzahlen erfordern.

Aber wer die Royal Enfield Classic 650 kauft, will schließlich nicht rasen, sondern genießen. Lediglich das Lastwechselverhalten könnte etwas zarter ausfallen. Egal. Der Wohlfühlbereich dieses zeitlosen Bikes liegt zwischen 30 und 120 km/h. Das passt gut zum deutschen Schilderwald. Wer trotzdem zügiger unterwegs ist und abrupt verzögern muss, kann sich auf die zwei Einzelscheiben verlassen. Vor allem die hintere Bremse mit ihrer 300er-Scheibe ist effektiver, als man es erwartet. Allerdings verlangt die Vorderbremse bei Gefahrenbremsungen mehr als zwei Finger. Die Gabel steckt diese Aktionen locker weg, sie ist ausreichend gedämpft und spricht auch ordentlich an. Zumindest für ein Bike dieser Preiskategorie.

Soziussitz ist demontierbar

In puncto Komfort sollte man hinten allerdings keine Wunder erwarten. Die 90 Millimeter Federweg der fünffach in der Vorspannung verstellbaren Federbeine verdienen das Prädikat "hart". Aber das ist wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass der gemeine Inder immer mindestens mit einem Sozius unterwegs ist. Wie auch die Shotgun wird die Royal Enfield Classic 650 mit einem demontierbaren Soziussitz ausgeliefert.

Während einer Pause inmitten von windgekämmten Bäumchen und knorpeligen Steinmauern bleibt ein wenig Zeit, in alle Winkel der Maschine zu schauen. Kritische Anmerkungen von einst über miese Schweißnähte oder Kabelsalat sind längst Geschichte. Die Royal Enfield Classic 650 ist gut verarbeitet. Dass Teile wie Kotflügel, deren massive Halter und sogar die kultige Scheinwerferverkleidung aus Metall sind, treibt das Gesamtgewicht zwar in die Höhe. Doch es wirkt auch wertig. Details wie verstellbare Handhebel, die leichtgängige Kupplung oder der LED-Scheinwerfer sind erfreulich. So gesehen mutiert die 650er durchaus zum Eyecatcher, auf den der Nachbar easy neidisch werden könnte.

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Fazit

Die Royal Enfield Classic 650 vereint Retro-Design mit moderner Technik. Mit 47 PS und einer lässigen Sitzposition ist sie ein Hingucker. Trotz ihrer 243 Kilo fährt sie sich handlich. Die Classic 650 bietet entspanntes Cruisen, auch wenn zügige Überholvorgänge hohe Drehzahlen erfordern. Ein zeitloses Bike für Genießer.  © Motorrad-Online

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