• Wirkt sich eine Corona-Infektion bei den Geschlechtern unterschiedlich aus? Die Antwort lautet: ja.
  • Männer sterben eher – aber Frauen leiden länger. Experten sehen dafür nicht nur biologische Gründe.
  • Alarmierend sind die sozialen Faktoren. Einer davon: Frauen würden weniger ernst genommen.

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Am gefährlichsten ist COVID-19 für ältere Männer? Stimmt – wenn es um die Schwere der akuten Erkrankung und das Sterberisiko geht. Betrachtet man aber die langfristigen Folgen einer COVID-Infektion, sieht es ganz anders aus: Dann ist die Risikogruppe jung und weiblich.

Jördis Frommhold ist Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen in einer Reha-Klinik in Heiligendamm und hat vor Kurzem ein Buch über Long COVID veröffentlicht. "Im Frühling und Sommer 2020 wurden bei uns vor allem Menschen aufgenommen, die einen schweren COVID-Verlauf überstanden hatten", sagt sie. "Das waren eher Männer. Dann hat sich das gewandelt. Mittlerweile behandeln wir zu rund zwei Dritteln Frauen."

Wie groß ist der Unterschied zwischen Frauen und Männern?

Dass Frauen häufiger an Long COVID erkranken als Männer, zeigen nicht nur Erfahrungen aus der klinischen Praxis, sondern auch Dutzende von kleineren und größeren Studien. Um wie viel häufiger sie erkranken, ist hingegen noch unklar. Einer aktuellen Schätzung der WHO zufolge haben Frauen ein doppelt so hohes Risiko wie Männer, Long COVID zu bekommen.

Einem im Juni in der Fachzeitschrift "Current Medical Research and Opinion" erschienenen, vom Pharma-Unternehmen Johnson & Johnson finanzierten Review-Artikel zufolge hingegen sind Frauen "nur" 1,22 Mal so häufig von Long COVID betroffen wie Männer – 55 von 100 Menschen, die mehr als vier Wochen nach ihrer COVID-19-Infektion noch unter Symptomen leiden, sind demnach Frauen.

  • Was bedeuten Long COVID und Post COVID? Auch mehr als zwei Jahre nach Auftreten der ersten Fälle wird der Begriff "Long COVID" nicht immer einheitlich verwendet. Meist werden Symptome, die länger als vier Wochen nach der COVID-Infektion auftreten oder fortbestehen, als Long COVID bezeichnet, Beschwerden nach mehr als zwölf Wochen dann als Post COVID. Long COVID ist also der breitere Begriff – jeder Post-COVID-Fall ist auch ein Long-COVID-Fall, aber nicht umgekehrt.

Fatigue bessert sich auch durch Ausruhen nicht: Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer

Besonders groß waren die Geschlechterunterschiede bei HNO-Symptomen wie Geruchs- oder Geschmacksverlust, bei rheumatologischen Problemen wie Gelenksschmerzen sowie bei Fatigue, also einer extremen Erschöpfung und Kraftlosigkeit, die sich durch Ausruhen nicht bessert.

Von diesen Symptomen waren Frauen mehr als doppelt so oft betroffen wie Männer. Auch Verdauungsbeschwerden, Hautprobleme und psychiatrische sowie neurologische Symptome traten bei Frauen häufiger auf; Nierenbeschwerden sowie endokrinologische Probleme wie Diabetes waren hingegen bei Männern häufiger.

Auf einen größeren Geschlechterunterschied wiederum kommt eine große Studie, die im Juli in "Nature Medicine" veröffentlicht wurde. Forschende werteten dafür aus einer britischen Datenbank die Daten von 486.000 Menschen aus, die sich mindestens zwölf Wochen zuvor mit SARS-CoV-2 infiziert hatten, und verglichen sie mit den Daten von 1,94 Millionen Menschen ohne bestätigte Corona-Infektion.

Berücksichtigt wurden dabei nur Menschen, deren akute Infektion nicht im Krankenhaus behandelt werden musste. Unter ihnen erkranken Frauen der Studie zufolge gut eineinhalb Mal so oft an Long COVID wie Männer. Rechnet man Faktoren wie Vorerkrankungen heraus, hatten außerdem Menschen zwischen 18 und 30 Jahren ein höheres Risiko als ältere. Ethnische Minderheiten und sozioökonomisch benachteiligte Menschen litten besonders häufig an Langzeitfolgen.

Woher kommen die Geschlechterunterschiede?

Vermutlich haben die Unterschiede etwas damit zu tun, dass Frauen ein aktiveres Immunsystem haben als Männer. Östrogen stärkt die Funktion der Immunzellen, Testosteron reduziert sie. Außerdem liegen viele für die Immunantwort relevante Gene auf dem X-Chromosom und werden bei Frauen daher in höherem Maße abgelesen als bei Männern.

So wie COVID-19 fallen daher auch viele andere Infektionskrankheiten bei Männern und Jungen im Durchschnitt schwerer aus als bei Frauen und Mädchen – zum Beispiel Tuberkulose oder Infektionen mit dem RS-Virus, das bei Kleinkindern schwere Atemwegserkrankungen auslösen kann.

Die Kehrseite: Frauen sind häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen, also von Krankheiten, bei denen das Immunsystem den eigenen Körper angreift. Das gilt auch für ME/CFS, eine schon seit den 60er-Jahren bekannte, aber schlecht erforschte neuroimmunologische Erkrankung, die meist infolge von viralen Infekten auftritt und zu der sich auch schwere Long-COVID-Erkrankungen entwickeln können.

Vier mögliche Ursachen von Long COVID

Die Ursachen von Long COVID sind noch immer nicht ganz klar. Es gibt mehrere Erklärungsansätze und Forschende gehen davon aus, dass es sich bei Long COVID nicht um eine einzige Erkrankung handelt, sondern dass SARS-CoV-2 auf verschiedene Arten langfristige Spuren im Körper hinterlassen kann. Das würde erklären, warum verschiedene Long-COVID-Patienten und -Patientinnen so unterschiedliche Symptome und Krankheitsverläufe erleben.

Marcus Altfeld ist Direktor des Instituts für Immunologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und leitet gemeinsam mit seiner Kollegin Hanna Lotter die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschungsgruppe "Geschlechtsspezifische Unterschiede in Immunantworten". Für ihn gibt es vier plausible Modelle, die jeweils einen Teil der Long-COVID-Fälle erklären könnten:

  • Teile des Virus verbleiben nach Abklingen der akuten Infektion im Körper und richten weiterhin Schäden an.
  • Während der Infektion entstandene Schäden an Gewebe, etwa im Herzmuskel oder in bestimmten Bereichen des Gehirns, führen zu anhaltenden Symptomen.
  • Das Immunsystem kommt mit dem Virus nicht klar, überreagiert und produziert Autoantikörper, die sich gegen Zellen des eigenen Körpers richten.
  • Die virale Infektion verändert das Mikrobiom, also die Zusammensetzung der Milliarden von Bakterien, die unseren Körper und vor allem unseren Darm besiedeln und die ebenfalls die Funktion unseres Immunsystems beeinflussen.

Vor allem die letzten beiden Punkte seien interessant, wenn man die Geschlechterunterschiede bei Long COVID verstehen will, sagt Marcus Altfeld. Wenn die Wissenschaft einmal die Mechanismen hinter Long COVID verstanden hat und die verschiedenen Formen klar unterscheiden kann, "dann stellt sich vielleicht heraus, dass bei den durch Autoimmunreaktionen entstandenen Formen von Long COVID ein noch viel größerer Geschlechterunterschied besteht, als man ihn jetzt insgesamt sieht", sagt Altfeld. "Spätfolgen durch Gewebeschäden hingegen sind bei Männern vielleicht häufiger als bei Frauen."

Es sei daher wichtig, dass Forschende weitere Studien mit großen Versuchsgruppen durchführen und nach Biomarkern, also zum Beispiel bestimmten Blutwerten, suchen, anhand derer sich die verschiedenen Long-COVID-Formen unterscheiden und gezielt behandeln lassen.

Sozialer Faktor: Frauen werden bei Beschwerden weniger ernst genommen

Neben biologischen könnten auch soziale Faktoren eine Rolle dabei spielen, dass Frauen sich häufiger nicht von einer SARS-CoV-2-Infektion erholen, sagt die Reha-Chefärztin Jördis Frommhold, die gerade ein eigenes Institut zu Long COVID in Rostock eröffnet hat. Sie denkt dabei an zwei Punkte:

  • Erstens ist bisher nur eine Methode bekannt, wie an COVID-19 erkrankte Menschen ihr Long-COVID-Risiko reduzieren können: "Es ist wichtig, sich während der Erkrankung wirklich auszuruhen und auch danach nur langsam wieder in den Alltag einzusteigen und Ruhephasen zuzulassen", sagt Frommhold. "Ich glaube, das ist gerade für Frauen mit kleinen Kindern schwieriger als für andere Gruppen." Möglicherweise erklärt dieser Faktor auch das in der "Nature Medicine"-Studie festgestellte erhöhte Long-COVID-Risiko von ethnischen Minderheiten und sozioökonomisch benachteiligten Menschen, die oft in prekären Verhältnissen arbeiten.
  • Zweitens hat Frommhold ein Phänomen beobachtet, das viele Frauen aus eigener Erfahrung kennen und das auch durch eine Reihe von Studien belegt ist: Frauen (aber auch andere marginalisierte Gruppen) werden weniger ernst genommen, wenn sie von Schmerzen oder anderen Krankheitssymptomen berichten. Gern suchen Ärzte die Ursache für ihre Beschwerden erst mal in der Psyche oder unterstellen den Betroffenen gar, sie sich nur einzubilden. Bei Erkrankungen, die – wie Long COVID und ME/CFS – nicht auf den ersten Blick etwa im MRT oder im Blutbild erkennbar sind, ist das Problem besonders groß. Während die Frauen darum kämpfen, dass jemand ihnen ihre Erkrankung glaubt, verstreicht wertvolle Zeit, in der man diese behandeln oder zumindest ihr Fortschreiten verlangsamen könnte.

Und was ist mit intergeschlechtlichen, trans und nonbinären Menschen? Leider ignorieren die meisten medizinischen Studien die Existenz von Menschen abseits der Geschlechterbinarität – so auch die hier zitierten. Im Hinblick auf die biologischen Mechanismen, die zu Long COVID führen, dürften vor allem der Hormonspiegel und der Chromosomensatz relevant für das Long-COVID-Risiko queerer Personen sein.

Was die sozialen Faktoren betrifft, sind möglicherweise Menschen, die sich um kleine Kinder kümmern oder aus anderen Gründen schlecht einen Gang runterschalten können, besonders stark gefährdet – und wer von Gesundheitspersonal als männlich gelesen wird, hat es vermutlich leichter, ernst genommen zu werden und zügig zu einer Diagnose zu kommen.

Bei jüngeren Frauen sei das Problem besonders ausgeprägt, sagt Frommhold: "Wir hatten eine 24-jährige Studentin hier, die vor ihrer Infektion kerngesund war, sportlich, alles gut. Nach der Infektion hatte sie massive Konzentrationsprobleme, Studieren ging gar nicht mehr, aber ihr Hausarzt hat sie nicht für voll genommen. Sie ist dann auf eigene Initiative in eine Long-COVID-Ambulanz gegangen, aber selbst da wurde ihr gesagt: 'Ihre Werte sind alle unauffällig, Sie haben nichts.' Sie hat eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert bekommen, obwohl sie gesagt hat, dass sie sich psychisch stabil fühlt." Hier brauche es unbedingt mehr Aufklärung und Sensibilisierung in der Ärzteschaft, sagt Frommhold.

Frommhold hat inzwischen nach eigener Aussage über 5.500 Long-COVID-Patienten und Patientinnen behandelt. Von Frauen höre sie Geschichten wie die der Studentin regelmäßig, sagt sie. "Dass mir mal ein männlicher Patient erzählt hätte, sein Hausarzt habe seine Krankheit als psychosomatisch eingestuft, daran kann ich mich nicht erinnern."

Verwendete Quellen:

  • Webseite der WHO: At least 17 million people in the WHO European Region experienced long COVID in the first two years of the pandemic; millions may have to live with it for years to come
  • Taylor & Francis Online: Sex differences in sequelae from COVID-19 infection and in long COVID syndrome: a review
  • Nature Medicine: Symptoms and risk factors for long COVID in non-hospitalized adults
  • Ärzteblatt: Förderung für Erforschung geschlechts­spezifischer Einflüsse auf Immunkrankheiten
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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