• Frauen werden in der medizinischen Versorgung auch heute noch benachteiligt.
  • Denn Erkrankungen und Medikamente werden hauptsächlich an Männern erforscht.
  • Für Frauen hat das mitunter fatale Folgen, wie eine Gendermedizinerin im Interview erklärt.
Ein Interview

Frau Kautzky-Willer, werden Frauen und Männer in der Medizin gleich gut betreut?

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Alexandra Kautzky-Willer: Nein, leider nicht. Die meisten Leitlinien in der Medizin basieren auf Studien, die von männlichen Probanden dominiert wurden. Aber was für Männer die optimale Behandlung ist, muss noch lange nicht optimal für Frauen sein. Es müsste mehr zwischen den Geschlechtern differenziert werden, denn manche Krankheiten entstehen unterschiedlich, es gibt unterschiedliche Risikofaktoren und es sind unterschiedliche diagnostische Tests notwendig. Auch die Therapien wirken bei Männern und Frauen unterschiedlich und Frauen sind häufiger von Nebenwirkungen betroffen. In der Medizin ist eine Gleichbehandlung von Männern und Frauen keine gleich gute Behandlung.

Bereits in den 1980er-Jahren stieß man darauf, dass Männer und Frauen sich hinsichtlich Erkrankungen unterscheiden. Wieso ist das Thema Gendermedizin rund 40 Jahre später immer noch nicht vollständig in der Medizinpraxis angekommen?

Das ist eine gute Frage. Arzneimittelbehörden wie die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA fordern schon lange, dass Männer und Frauen in klinischen Studien in dem Ausmaß vertreten sein müssen, wie sie auch beim jeweiligen Krankheitsbild vertreten sind. Aber das reicht offenbar nicht aus. Herzkreislauf-Erkrankungen zum Beispiel betreffen Frauen und Männer gleichermaßen – tatsächlich sind in den Studien der Pharmaunternehmen aber nur 25 bis 30 Prozent Frauen eingeschlossen und nicht etwa 50 Prozent. Man muss schon froh sein, wenn Frauen überhaupt berücksichtigt werden. Das ist immer noch ein Problem.

Frauen machen 50 Prozent der Gesellschaft aus - warum sind sie in medizinischen Studien so stark unterrepräsentiert?

Aufgrund des hormonellen Zyklus hat man Frauen und auch weibliche Versuchstiere aus Studien ausgeschlossen, weil man homogene Gruppen mit möglichst wenig Schwankungen haben wollte. Dann muss man weniger Tiere oder Probanden testen, was die Studien einfacher und billiger macht. Allerdings werden die Medikamente später auch Frauen verabreicht, die nun mal einen hormonellen Zyklus haben. Es wäre zu teuer und zu aufwendig, alle Studien der Vergangenheit zu wiederholen. Bei neuen Studien sollte aber darauf geachtet werden, dass die Geschlechter getrennt auswertbar sind und wir Rückschlüsse ziehen können. Aber da gibt es noch Nachholbedarf. Es ist einfach ein sehr träges System.

Welche Konsequenzen hat die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in der Medizin?

Das Paradebeispiel der Gendermedizin ist der Herzinfarkt. Frauen haben häufig andere Symptome als Männer, zum Beispiel Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen in Schultern, Oberbauch oder Kieferbereich. Männer haben häufiger Schmerzen in der Brust und im linken Arm. Deshalb kommt es bei Frauen häufig zu Fehldiagnosen, was die richtige Behandlung verzögert - gerade bei einem akuten Notfall wie einem Herzinfarkt kann das fatale Folgen haben.

In welchen Bereichen weiß man noch von Unterschieden zwischen Männern und Frauen?

Wenn man genau hinschaut, findet man in allen medizinischen Bereichen Unterschiede, zum Beispiel bei hormonellen Erkrankungen, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck oder Schilddrüsenfunktionsstörungen. Frauen bekommen zwar seltener Diabetes, haben dann aber eine höhere Sterberate und ein höheres Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und Nierenkomplikationen. Warum das so ist, weiß man immer noch nicht. Frauen sind auch sehr viel häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen. Die Unterschiede müssen nicht immer eine klinisch relevante Größe haben, wie etwa beim Herzinfarkt. Aber solange wir die Unterschiede nicht untersuchen, können wir es nicht ausschließen.

Profitieren auch Männer von einer geschlechtergerechten medizinischen Versorgung?

Gendermedizin würde grundsätzlich allen zugutekommen – Frauen, Männern und dem Nachwuchs. Denn alles, was gesundheitlich auf die Frau rund um die Schwangerschaft einwirkt, wirkt sich über Epigenetik und fetale Programmierung auch auf die Kinder aus. Auch Männer werden in manchen Bereichen der Medizin benachteiligt. Schilddrüsenerkrankungen und auch -Schilddrüsentumore werden häufig viel später diagnostiziert, weil bei Männern seltener an die Schilddrüse gedacht wird. Das verschlechtert die Prognosen deutlich. Das gilt auch für Osteoporose: Nicht nur postmenopausale Frauen erkranken an Osteoporose, sondern auch jüngere Frauen und Männer. Deshalb müssen die Medikamente auch an Männern getestet werden. Auch Depressionen werden bei Männern häufiger übersehen, weil die Symptome weniger dem "klassischen" Bild der Depression entsprechen. Sie neigen eher zu Wutausbrüchen, Aggressionen oder Alkoholmissbrauch, das wird in vielen Fällen missinterpretiert.

Das heißt, es geht in der Gendermedizin nicht nur um biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, sondern auch um Geschlechterklischees?

Absolut, das spielt auch eine Rolle. Bei Frauen wird zum Beispiel viel häufiger an eine psychiatrische Erkrankung gedacht als bei Männern. Davon sind bei Weitem nicht nur Frauen betroffen, aber offenbar traut man es ihnen eher zu. Die Gendermedizin verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz: Einerseits werden die biologischen Unterschiede erforscht und andererseits soziokulturelle Einflüsse und Gendervorurteile berücksichtigt.

In Beipackzetteln findet man meist nur Angaben für Erwachsene und Kinder, nach Geschlecht wird fast nie differenziert. Ein Mann mit 90 Kilo bekommt also die gleiche Dosis wie eine Frau, die 50 Kilo wiegt. Sollte ich als Frau dann lieber weniger von einem Medikament einnehmen, als im Beipackzettel empfohlen wird?

Es ist anzunehmen, dass eine kleine, leichte Frau weniger von einem Medikament einnehmen muss als ein großer Mann. Bei Blutdrucksenkern wurde das in Studien schon gezeigt. Pauschal beantworten kann man das nicht, denn die Wirksamkeit eines Medikaments hängt von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel haben Frauen einen höheren Körperfettanteil und weniger Blut- und Wasservolumen. Je nachdem, ob ein Medikament fettlöslich ist oder nicht, verteilt es sich anders im Körper. Die Wirksamkeit hängt auch davon ab, wie die Leber das Medikament aktiviert oder abbaut, was mit den Sexualhormonen zusammenhängt. Östrogen kann die Wirkung verstärken oder den Abbau beschleunigen, je nachdem. Neben dem Geschlecht und Körpergewicht spielt auch das Alter eine Rolle. Nach der Menopause fällt Östrogen bei Frauen stark ab, die Hormonschwankungen sind nicht mehr so groß. Man muss sich das also für jedes Medikament einzeln anschauen.

Sollte ich meinen Arzt oder meine Ärztin bei der Behandlung auf das Thema Gendermedizin ansprechen?

Es hat wenig Sinn, das Wort Gendermedizin zu benutzen – viele können mit dem Begriff noch nichts anfangen, bei manchen ist er auch negativ behaftet. Besser ist es, direkt die medizinische Kompetenz des Arztes oder der Ärztin anzusprechen. Fragen Sie konkret nach, ob ihr Geschlecht bei einer Erkrankung oder bei einem Medikament eine Rolle spielen könnte oder die Tatsache, dass Sie schon in der Menopause sind oder nicht. Damit steigen die Chancen, dass Ihr Arzt oder Ihre Ärztin sich darum bemüht und nachliest. Wenn eine psychische Ursache hinter Ihren Beschwerden vermutet wird, können Sie immer darum bitten, zur Sicherheit auch mögliche körperliche Ursachen abzuklären.

Wir haben bislang nur über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen gesprochen – gibt es auch gendermedizinische Forschung zu Trans-Personen?

An der Medizinischen Universität Wien haben wir eine Transgender-Ambulanz. Uns interessiert sehr, wie es sich auswirkt, wenn man einem biologischen Geschlecht die Hormone des anderen Geschlechts zuführt. In aktuellen Studien schauen wir uns den Einfluss auf das Herzkreislauf-System, den Blutdruck, die Fettverteilung und das Entzündungssystem an. Die Studien laufen noch, viel kann ich daher noch nicht sagen. Es gibt aber Daten, die zeigen, dass es gesundheitliche Auswirkungen gibt.

Wie sind Sie mit dem Bereich Gendermedizin in Berührung gekommen?

Ich bin über das Thema Schwangerschaftsdiabetes dazu gekommen. Das mag erst einmal überraschend klingen, aber da gibt es sehr interessante geschlechtsspezifische Wechselwirkungen. Frauen, die Schwangerschaftsdiabetes entwickeln, haben später ein höheres Risiko, an Diabetes Typ 2 zu erkranken. Je nachdem, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwarten, wirkt sich Schwangerschaftsdiabetes teilweise unterschiedlich auf die spätere Gesundheit des Kindes aus. Umgekehrt hat auch das Geschlecht des Fetus einen Effekt auf den Stoffwechsel der Mutter. Erwartet die Frau einen Jungen, steigt ihr Risiko für Schwangerschaftsdiabetes. Auch Männer, die zu wenig Testosteron haben, haben ein höheres Risiko für Diabetes Typ 2, das untersuchen wir gerade.

Obwohl Frauen in der Medizin oft benachteiligt werden, haben sie statistisch eine höhere Lebenserwartung als Männer. Sind Frauen grundsätzlich gesünder als Männer?

Frauen sind von Natur aus etwas robuster und haben eine höhere biologische Lebenserwartung als Männer, so ungefähr anderthalb Jahre. Im Durchschnitt leben Frauen in Europa sogar fünf Jahre länger als Männer. Diese Differenz ist im Lebensstil begründet: Männer rauchen und trinken mehr als Frauen und haben häufig gefährlichere Jobs – das Unfallrisiko eines Bauarbeiters ist höher als das einer Sekretärin. Männer begehen auch häufiger Selbstmord oder werden Opfer von Gewalttaten. All das spielt in die Lebenserwartung mit hinein.

Über die Expertin: Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer ist Fachärztin für Innere Medizin und wurde 2010 zur ersten Professorin für Gendermedizin in Österreich berufen. Seitdem leitet sie den gleichnamigen Fachbereich an der Medizinischen Universität Wien und ist wissenschaftliche Leiterin des "lapura women health resort" im Kamptal. Zudem ist sie Autorin von Fachbüchern zum Thema Gendermedizin.
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