• Mentale Erkrankungen erhalten in den sozialen Medien eine immer größer werdende Aufmerksamkeit, was mit dem Begriff "Sick Style" beschrieben wird.
  • Der Trend, psychische Erkrankungen abzubilden, soll aufklären und enttabuisieren, kann aber auch Gefahren mit sich bringen.
  • Neurowissenschaftlerin Maren Urner erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion die Gefahren des "Sick Styles".
Ein Interview

Frau Urner, wie ordnen Sie den "Sick Style" ein?

Maren Urner: Auf der einen Seite ist es natürlich gut, dass sich Menschen immer mehr mit psychischen Leiden und Krankheiten auseinandersetzen – wobei ich an dieser Stelle direkt betonen möchte, dass auch sogenannte psychische Erkrankungen als körperliche Phänomene betrachtet werden sollten. Auf der anderen Seite geht der regelrechte Trend, psychische Krankheiten abzubilden, mit der Gefahr einher, dass damit viel Schindluder betrieben wird und gewisse Fehlvorstellungen herumgeistern. Das liegt daran, dass mentale Erkrankungen einerseits häufig immer noch als ein Zeichen von Schwäche abgetan werden. Andererseits gehört es heute – ganz überspitzt gesagt – fast schon zum guten Ton dazu, mindestens eine Diagnose für ein psychisches Leid zu erhalten. Das bemerke ich aktuell vor allem bei jungen Menschen, deren Bild von psychischen Erkrankungen stark durch Influencer und Influencerinnen geprägt wird.

Wo liegt hierbei die Gefahr?

Eine Gefahr liegt darin, dass Fachwissen und Fehlvorstellungen häufig durcheinander gebracht werden. Hierbei handelt es sich natürlich um eine der grundsätzlichen Herausforderungen der sozialen Medien. Doch gerade bei dieser sehr sensiblen Thematik, bei der es im Ernstfall um potenziell lebensbedrohliche Situationen und suizidale Menschen gehen kann, können falsche Abbildungen von Erkrankungen gefährlich werden.

Was gilt es also zu tun?

Einerseits müssen wir natürlich noch viel mehr über mentale Gesundheit sprechen, um mehr Enttabuisierung zu betreiben, um entsprechende Krankheiten vollständig aus der Ecke des "Da spricht man nicht drüber!" herauszuholen. Andererseits darf dabei keine Trivialisierung stattfinden. Es sollte nicht darum gehen dazuzugehören, indem sich junge Menschen ähnliche Diagnosen wie andere erkrankte Menschen als Stempel aufdrücken. Zwischen diesen beiden Extrempunkten müssen wir als Gesellschaft einen sensibleren Mittelweg finden.

Legitimation durch Sportler und Influencer

Woher kommt das Bewusstsein, mentale Erkrankungen öffentlich zu machen?

Es ist eine positive Entwicklung, dass es inzwischen okay bis sogar anerkannt ist, über Erkrankungen generell zu sprechen – und sie nicht als Zeichen von Schwäche vertuschen zu wollen oder gar müssen. Gerade in Bezug auf psychische Krankheiten lohnt sich ein Blick in die Historie: Früher gab es die Hysterie, bei der vorzugsweise Frauen weggesperrt wurden, weil sie als irre abgestempelt wurden. Der Satz "Jetzt sei mal nicht so hysterisch", den wir heute alle noch kennen, trägt die Geschichte nach wie vor in sich. Doch parallel schaffen wir hier gesellschaftlich auch einen neuen Diskurs über die falsche Vorstellung, dass psychische Leiden und das Zeigen von Emotionen generell Zeichen von Schwäche sind. Genau das ist wichtig.

Ein Diskurs, der etwa über soziale Netzwerke stark transportiert werden kann …

Richtig. Immer mehr Menschen und Kanäle mit einer gewissen Reichweite – vom bekannten Fußballspieler über eine Influencerin bis hin zu einer Stiftung – nutzen ihre Stimme. Ein Beispiel dafür ist etwa Teresa Enke (Witwe des Fußballers Robert Enke, der 2009 durch Suizid starb und Vorstandsvorsitzende der Robert-Enke-Stiftung, die die Erforschung und Behandlung von Depressionen zum Ziel hat, Anm. d. Red.). Ihre Arbeit ist sehr wertvoll und schafft eben jenen Diskurs. Wenn Menschen mit einem gesellschaftlich hohen Ansehen über mentale Erkrankungen sprechen, kreiert das in den Köpfen der Menschen eine Legitimation, die wir brauchen.

Was genau meinen Sie mit Legitimation?

Es wird nicht nur "salonfähig", sondern auch anerkannt und sogar gewünscht, über mentale Gesundheit zu sprechen. Nur wenn wir das – auch gerade bei uns – nach wie vor verbreitete Bild von Schwäche überwinden, können wir den gesellschaftlichen Diskurs voranbringen. Viele Menschen scheuen sich – zu Recht – immer noch davor, im Fall einer Krankmeldung aufgrund einer psychischen Krankheit offen die wahren Gründe zu kommunizieren. So wird dann etwa ein Rückenleiden vorgeschoben statt zu sagen, dass man einen Burn-out oder eine Depression hat.

Trivialisierung und fehlendes Fachwissen

Uns begegnen auch laienhafte Abbildungen von mentalen Erkrankungen. Scrolle ich mich etwa durch meinen Instagram-Feed, sehe ich viele "Memes" rund um das Thema Mental Health. Wie passt das in die Enttabuisierung von Erkrankungen?

Hier geht es um die bereits erwähnte Trivialisierung, weil an dieser Stelle fundierte und fachliche Einschätzungen rund um Symptome, Diagnosen oder Behandlungen fehlen. Vieles gerät dabei durcheinander, weil Fachwissen fehlt. Blicken wir beispielsweise auf die klinische Depression, wird sie vielleicht mit einer temporären Trauerphase oder einer saisonalen Beeinflussung gleichgesetzt. Das kann vor allem für tatsächlich Betroffene nicht nur verletzend und verwirrend, sondern auch gefährlich werden.

Inwiefern?

Die Gefahr liegt darin, dass Menschen mit einer klinisch diagnostizierten psychischen Erkrankung, etwa einer Depression, durch diese teilweise augenzwinkernde mediale Darstellung den Eindruck erhalten können, ihr Leiden sei nicht so schlimm – und sie sollten sich mal nicht so anstellen. Wenn Stimmungsschwankungen und schlechte Laune gemeinsam mit klinischen Diagnosen fälschlicherweise in einen Topf geworfen werden, fühlen sich Betroffene zusätzlich verunsichert und ziehen sich möglicherweise noch mehr zurück, ohne die notwendige Hilfe zu erfragen. Wenn also Enttabuisierung auf der einen Seite mit laienhafter Darstellung auf der anderen Seite vermischt wird, können für Betroffene nicht nur Verunsicherungen, sondern auch ernstzunehmende Gefahren entstehen.

Befeuert der Sick Style vor allem bei jungen Nutzerinnen und Nutzern den Gedanken, auch eine mentale Erkrankung "haben zu wollen"? Ich denke hierbei etwa an das Phänomen "Alle meine Freunde tragen eine Brille, deswegen möchte ich auch eine haben" …

Absolut. Hier geht es um das eben bereits kurz erwähnte Bedürfnis, dazugehören zu wollen. Das urmenschliche Wesen ist sozial, der soziale Klebstoff zwischen Menschen und innerhalb von Gruppen ist das Gefühl der Dazugehörigkeit. Gerade junge Erwachsene sind in der Hochphase der Identitätsfindung und auf der Suche nach Ein- und Zuordnung. In dieser Zeit werden die Weichen für viele Lebensentscheidungen gestellt. Wenn es also während dieser Zeit zum bereits angesprochenen "guten Ton" gehört, an einer mentalen Erkrankung zu "leiden", kann der Wunsch nach einer Diagnose aus Gründen der gewünschten Zugehörigkeit entstehen. Wenn ein junger Erwachsener eine Zeit lang schlechte Laune hat, muss nicht zwingend eine Depression vorliegen – auch wenn bestimmte Darstellungen in den sozialen Medien eine solche Diagnose nahelegen.

Welche Rolle spielen Influencer und Influencerinnen in diesem Kontext? Kann der Spagat zwischen dem Bewusstsein für Mental Health und Influencer-Marketing gelingen?

Das ist eine schwierige Frage (lacht). Die Herausforderung liegt hierbei darin, sich die Frage zu stellen, wie ernst gesponserte Posts mit entsprechender Produktplatzierung gemeint sind. Das ist nicht immer einfach zu durchschauen. Natürlich gibt es Produkte, und dazu zähle ich beispielsweise auch Therapien, die in sinnvoller Form angeboten werden können. Doch genau hier ist der Spagat zwischen ernst gemeinter Hilfestellung und reinem Marketing häufig eine echte Herausforderung.

Cathy Hummels nach Instagram-Post in der Kritik

Zuletzt geriet Unternehmerin und Influencerin Cathy Hummels in die Kritik. Im Rahmen eines "Strong Mind Retreats" wollte sie Sensibilisierung für mentale Gesundheit leisten, wurde in diesem Zusammenhang vor allem für die Verharmlosung und Kommerzialisierung von Depressionen kritisiert. Kann es also auch passieren, dass die ursprünglich angestrebte Awareness durch die mediale Darstellung auf der Strecke bleibt?

Genau das gilt es in der Medienpsychologie und der Medienwirkungsforschung zu untersuchen, was sehr komplex ist. Hierbei geht es darum, zu beobachten, wie Themen besprochen werden und wie die entsprechende Thematisierung sich auf die Rezipientinnen und Rezipienten auswirkt. Es geht dabei immer um mediale Verantwortung und darum, wie sensible Themen behandelt werden. Das genannte Beispiel ist demnach wichtig, weil besonders einflussreiche Menschen mit einer hohen Reichweite eine Verantwortung haben.

Das Beispiel Cathy Hummels, die selbst lange an Depressionen litt, zeigt also auch, dass sogar die Authentizität von Betroffenen angezweifelt werden kann …

Genau das beschreibt die Herausforderung, der wir begegnen. Es geht darum, herauszufinden, wem man Aufklärungsarbeit abnimmt oder ob es möglicherweise auch Menschen gibt, die diese wichtige Arbeit eher kaputt machen. Es geht auch darum, zu erkennen, wie groß der mögliche Schaden aufgrund vernachlässigter Verantwortung sein kann. Ohne jetzt auf diesen speziellen Fall eingehen zu wollen, lässt sich in jedem Fall folgendes festhalten: Mit jedem Follower mehr steigt die Verantwortung von Influencern und Influencerinnen. Denn jede Information, die wir verarbeiten, verändert uns, weil sie Spuren in unserem Gehirn hinterlässt. Mit anderen Worten: Sobald wir Informationen wahrnehmen, werden wir durch sie beeinflusst – hier gilt es also zu klären, welche Beeinflussung wir als Gesellschaft unterstützenswert finden und welche nicht. Das Gute an Debatten wie diesen ist entsprechend, dass ein Diskurs geschaffen wird. Nun gilt es, diesen möglichst ehrlich und transparent zu führen.

Über die Expertin: Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin, Professorin für Medienpsychologie und Bestseller-Autorin. Sie ist Mitgründerin des 2016 entstandenen Online-Magazins Perspective Daily und Professorin an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln.

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