Die Risiken rezeptfreier Schmerzmittel werden drastisch unterschätzt, meint der Schmerzmediziner Gerhard Müller-Schwefe. Im Interview fordert er eine Rezeptpflicht und ein Werbeverbot – und erklärt, was er bei Kopfschmerzen oder Rückenleiden anstelle von Tabletten empfiehlt.

Ein Interview

Im März 1899 wurde die Marke Aspirin ins Handelsregister des Kaiserlichen Patentamtes in Berlin eingetragen. In den folgenden 125 Jahren schrieb sie eine weltweite Erfolgsgeschichte und trug wesentlich dazu bei, die Tablette als Darreichungsform für Medikamente zu etablieren.

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Inzwischen haben Ibuprofen oder Paracetamol dem auch in Aspirin enthaltenen Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) den Rang abgelaufen. Rezeptfreie Schmerzmittel gehören zum Alltag: Menschen schlucken sie bei Kopf- oder Rückenschmerzen, vor dem Sport oder zur Vorbeugung von Herzerkrankungen.

Für Gerhard Müller-Schwefe ist der Gebrauch zu leichtfertig. Im Interview warnt der Ehrenpräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin vor schweren Nebenwirkungen – und fordert den Gesetzgeber zum Handeln auf.

Herr Müller-Schwefe, Aspirin ist seit 125 Jahren in Apotheken erhältlich und das wahrscheinlich bekannteste Arzneimittel der Welt. Wie sehr hat der Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) die Schmerzmedizin verändert?

Gerhard Müller-Schwefe: Aspirin hat völlig neue Therapieoptionen eröffnet, obwohl anfangs niemand das Prinzip dahinter kannte – das Blockieren der Enzyme, die Schmerz- und Entzündungsbotenstoffe produzieren. Zuvor gab es vor allem Salicylsäure, die aber den Magen zerfressen hat. ASS war eine Revolution: Ein verträgliches Mittel gegen akuten Entzündungsschmerz oder für Rheumapatienten, für die es bis dahin nichts gab.

Vor allem Ibuprofen hat ASS inzwischen den Rang abgelaufen. Insgesamt konsumiert jeder Deutsche im Schnitt mehr als eine Packung rezeptfreie Schmerzmittel pro Jahr – ist das angemessen?

Es ist unglaublich, dass so etwas möglich ist! Wir bejammern die Folgen von Drogen wie Alkohol, dabei richten diese Schmerzmittel viel größeren Schaden an – nur eben im Verborgenen. Es sind keine Lutschbonbons, sondern hochwirksame und auch gefährliche Medikamente.

Bei jedem Wirkstoff kommt es anfangs zu einem Überschwang: Wir sind begeistert über neue Therapieoptionen und erst allmählich verstehen wir die Nebenwirkungen und schwenken auf einen vernünftigen Umgang mit den Substanzen um. Bei den entzündungshemmenden Schmerzmitteln wie ASS, Ibuprofen und auch Diclofenac fand dieses Umdenken nie statt. Die Arzneimittelbehörden warnen zwar vor den Risiken, dennoch werden die Medikamente frei verkauft. Die Folgen sind verheerend.

"In Deutschland verlaufen etwa 3.000 Magenblutungen im Jahr tödlich – ein Großteil geht auf diese Medikamente zurück."

Gerhard Müller-Schwefe

Was wissen wir darüber?

Entzündungshemmende Schmerzmittel zerstören den Magenschutz und die Funktion der Niere, sie halten die Blutsalze im Körper zurück und steigern den Blutdruck. Dadurch sind sie verantwortlich für zahlreiche Herzinfarkte und Schlaganfälle, für Nierenversagen und Magenblutungen. In Deutschland verlaufen etwa 3.000 Magenblutungen im Jahr tödlich – ein Großteil geht auf diese Medikamente zurück.

Dennoch wurde in den vergangenen Jahren die Rezeptpflicht für mehrere solcher Schmerzmittel aufgehoben …

Das ist ein katastrophaler Vorgang! Es ist eine Milchmädchenrechnung zu glauben, dass mehr Sicherheit entsteht, wenn wir niedrige Dosen frei verkaufen. Jeder weiß, dass er einfach nur zwei oder drei Tabletten nehmen muss, um die Dosis eines verschreibungspflichtigen Medikaments zu erreichen. Auch die Idee, dass die Krankenkassen dadurch entlastet werden und das Gesundheitssystem Geld spart, ist Augenwischerei. Die Folgekosten sind deutlich höher. Hier ist der Gesetzgeber gefragt: Für entzündungshemmende Schmerzmittel muss die Rezeptpflicht gelten.

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Steht der Schmerzmittelkonsum im Einklang zum tatsächlichen Bedarf?

Unsere Lebensweise – die nicht artgerechte Haltung der Menschen in vielen Berufen – führt sicher dazu, dass mehr Schmerzen auftreten als früher. Vor allem im Bewegungsapparat, ausgehend von der Muskulatur und den Bändern. Aber genau bei diesen Schmerzen sind Ibuprofen und ASS völlig wirkungslos, wie auch bei klassischen Spannungskopfschmerzen. Dennoch schlucken wir sie. Der freie Zugang fördert den Missbrauch. Wahrscheinlich werden 80 Prozent der entzündungshemmenden Schmerzmittel sinnlos eingenommen, ohne jede Wirkung. Aber die Leute hören irgendwo, dass die Mittel wirken sollen. Also probieren sie es weiter oder steigern die Dosis.

Rezeptfreie Schmerzmittel sind ein Milliardengeschäft, entsprechend präsent sind sie in der Werbung. Spielt auch das eine Rolle?

Eine große. Die Werbung für Schmerzmittel ist verführerisch. Dabei sehe ich keinen guten Grund, dass sie erlaubt sein sollte. Werbung für Antibiotika, Cortison, Insulin oder Opiate ist schließlich auch nicht zulässig. Es wäre höchste Zeit, dass die entzündungshemmenden Medikamente ebenfalls unter dieses Verbot fallen.

Ist Paracetamol eine verträglichere Alternative zu Ibuprofen und ASS?

Paracetamol unterdrückt den Schmerz nur schwach, die Entzündung hemmt es gar nicht. Als fiebersenkendes Mittel kann es sinnvoll sein, doch auch Paracetamol ist ein gefährlicher Wirkstoff. Nimmt man zu viel, kann er die Leber angreifen und abhängig machen. Und es gibt gute Daten, dass er die Cannabis-Rezeptoren im zentralen Nervensystem anspricht. Dadurch werden Menschen risikofreudiger – was Auswirkungen zum Beispiel im Straßenverkehr hat.

Wie lautet Ihre Empfehlung für Menschen mit moderatem Kopfschmerz?

Wenn die Schmerzen einmalig auftreten: Bewegung, frische Luft, viel Flüssigkeit. Kommen sie regelmäßig, ist eine sorgfältige Untersuchung wichtig, um zu analysieren, ob der Schmerz entzündlichen Charakter hat, wie bei Migräne, oder ob er aus dem Bewegungsapparat kommt. Dann kann gezielt behandelt werden. Oft helfen muskelentspannende Medikamente. Der schlechteste Weg ist, einfach eine Tablette einzuwerfen.

Gilt das auch bei Rückenschmerzen? Hier greifen viele zu Diclofenac-haltigen Tabletten oder Salben wie Voltaren.

Die meisten Rückenschmerzen kommen aus der Muskulatur, da wirken entzündungshemmende Stoffe wie Diclofenac nicht. Einreiben hilft, weil das Reiben guttut, aber nicht wegen irgendeiner Substanz in der Salbe, die zudem auch fast gar nicht zu der schmerzenden Stelle vordringt. Viel mehr bringen gezielte Übungen und ein gesunder Lebensstil etwas, um Rückenschmerzen zu verhindern. Jeder sollte sich überlegen, ob er wirklich vier Stunden am Stück auf einem Stuhl sitzen muss. Besser ist es, sich nach einer Stunde Sitzen erst einmal zu bewegen und dann weiterzuarbeiten.

"Niemand sollte auf Verdacht jeden Tag eine Tablette einwerfen, nach dem Motto 'An Aspirin a day keeps the doctor away' – das ist Unsinn."

Gerhard Müller-Schwefe

Wie stehen Sie zur täglichen Einnahme von Aspirin, um damit Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzubeugen?

ASS verhindert schon in niedriger Dosis ein Verkleben der Blutplättchen, die bei der Gerinnung eine entscheidende Rolle spielen. Für Menschen mit erhöhtem Risiko für solche Gerinnsel kann eine Prophylaxe sinnvoll sein. Aber niemand sollte auf Verdacht jeden Tag eine Tablette einwerfen, nach dem Motto 'An Aspirin a day keeps the doctor away' – das ist Unsinn. Zudem sind auch bei niedriger Dosis die Risiken nicht zu unterschätzen: Der Magenschutz wird verletzt, es kommt es leichter zu Magengeschwüren.

Wie groß stufen Sie die Gefahr des Schmerzmittelmissbrauchs im Sport ein?

Gerade im Freizeitsport werden entzündungshemmende Substanzen sehr häufig prophylaktisch eingenommen. Sie reduzieren die Durchblutung der Niere, die dann weniger ausscheidet und mehr Salz zurückhält – und das in einer Situation, in der es durch den Sport ohnehin schon zu einem Flüssigkeitsmangel kommt. Das ist hochgefährlich, weil es die Niere zerstören kann. Man sieht immer wieder, wie ein Läufer nach einem Marathon zusammenklappt: Nicht aus Erschöpfung, sondern weil einer einen Schlaganfall oder Herzinfarkt hatte. Das kann die Folge solcher Medikamente sein. Ich rate dringend davon ab, zur Schmerzprophylaxe vor dem Sport Entzündungshemmer zu nehmen.

Gehen nur die Konsumenten zu leichtfertig mit Schmerzmitteln um oder sehen Sie diese Tendenz auch bei Ärzten?

Die Risiken sind der breiten Bevölkerung nicht bekannt, aber auch unter Ärzten gibt es zu wenig Wissen darüber. Ich sehe in meiner Praxis viele Patienten, denen ein Arzt regelmäßig Entzündungshemmer verordnet, obwohl sie die niemals bekommen dürften. Das gilt eigentlich für fast alle Menschen über 60 Jahren, weil sie meistens Risikofaktoren haben: Eine Vorgeschichte am Herz oder ein erhöhter Blutdruck, auch wenn der durch Medikamente besser eingestellt ist. Leider ist das Risikobewusstsein in der Ärzteschaft nicht sehr hoch. Was kaum verwundert, denn dieses Thema kommt in der Ausbildung kaum vor. Bei der Aufklärung besteht großer Nachholbedarf.

Über den Gesprächspartner

  • Der Anästhesist Gerhard H. H. Müller-Schwefe stand der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) viele Jahre als Präsident vor und ist heute ihr Ehrenpräsident. Er betreibt ein Schmerzzentrum in Göppingen und engagierte sich zudem in der Patientenorganisation Deutsche Schmerzliga für Menschen mit chronischen Schmerzen. Für seinen Einsatz in der Schmerz- und Palliativmedizin verlieh ihm der damalige Bundespräsident Christian Wulff 2010 den Bundesverdienstorden.

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Verwendete Quellen

Ibuprofen soll sich nachteilig auf die roten Blutkörperchen auswirken

So verändert Ibuprofen die roten Blutkörperchen

Wissenschaftler haben den Einfluss des Schmerzmittels Ibuprofen auf die Erythrozyten im menschlichen Körper untersucht und dabei festgestellt, dass sich die roten Blutkörperchen verändern. (Teaserbild: iStock/clubfoto)

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