Sie sind teuer und sie sind unangenehm: Kieferorthopädische Maßnahmen. Die Behandlungen, gerade von Kindern und Jugendlichen, standen in der Vergangenheit schon häufiger in der Kritik. Nun mischt sich das Bundesgesundheitsministerium ein. Das sei längst überfällig, betonen Kassen und Experten.
Nach aktuellen Zahlen des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die im Geschäftsbericht 2018 der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung ausgewiesen sind, gaben die Kassen 2017 rund 14 Milliarden Euro für alle zahnärztlichen Behandlungen aus.
Knapp über eine Milliarde des Gesamtbetrages entfielen dabei auf kieferorthopädische Maßnahmen.
Viele Jugendliche in Deutschland betroffen
Schon in den vergangenen Jahren war Kritik an den Behandlungen laut geworden. Vor allem an der Häufigkeit, mit der gerade bei Kindern und Jugendlichen Maßnahmen zur Regulierung von Zahn- und Kieferfehlstellungen durchgeführt werden - etwa durch eine Zahnspange.
So stellte der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG) bereits 2001 in einem Gutachte fest: "Die Behandlung von Jugendlichen mit kieferorthopädischen Maßnahmen überschreitet [...] mit über 60 Prozent alle internationalen Normwerte, die zwischen 12,5 und 45 Prozent liegen."
Diese Rate übertreffe "sogar den subjektiven Behandlungswunsch der Jugendlichen", schrieb die SVRKAiG.
Der Bundesrechnungshof hatte im vergangenen Jahr moniert, dass der "Nutzen kieferorthopädischer Behandlung wissenschaftlich nicht belegt" sei und hier zwingend Handlungsbedarf bestehe. Es mangele schlichtweg an Daten.
Bundesrechnungshof kritisiert Mangel an Transparenz
Der Bundesrechnungshof erkannte einen eklatanten Mangel an Transparenz. Dadurch entstehe "der Eindruck einer großen Kluft zwischen praktischer Anwendung kieferorthopädischer Maßnahmen und der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Wirksamkeit".
Auch andere Experten würden seit Jahren darauf verweisen, dass die Notwendigkeit kieferorthopädischer Eingriffe "unzureichend wissenschaftlich untersucht" sei, so der Bundesrechnungshof.
Er warf dem Bundesgesundheitsministerium Versagen vor: "Das BMG ging der Kritik nicht nach."
Der Rüffel wirkte, denn 2018 gab Gesundheitsminister Jens Spahn tatsächlich eine eigene Studie beim Berliner Forschungsinstitut IGES in Auftrag.
Die Ergebnisse erhärten den Verdacht von Krankenkassen, Bundesrechnungshof und Experten, wie "Bild Online" unter Berufung auf die Studie berichtet.
Demnach gibt es "keine ausreichende Evidenz für den patientenrelevanten Nutzen kieferorthopädischer Leistungen", zitiert "Bild Online" ein Schreiben des Ministeriums an den Bundestag.
Aktuelle Studie bestätigt die Bedenken
Bis heute könne keine einzige Studie beweisen, "ob und welche langfristigen Auswirkungen die kieferorthopädischen Therapien auf die Mundgesundheit" hätten. Die Forscher stellen daher infrage, "ob die Ausgaben in der kieferorthopädischen Versorgung den Kriterien der Wirtschaftlichkeit genügen".
Die Bundesregierung spielt den Ball nun an die gesetzlichen Krankenkassen zurück. Diese müssten bewerten, ob kieferorthopädische Eingriffe im Einzelfall notwendig und sinnvoll seien oder eben nicht. Das sei "keine staatliche Aufgabe", schreibt das Gesundheitsministerium.
Derartige Gutachten gibt es bereits. Sie werden auch im Jahresbericht der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung ausgewiesen.
Demnach wurde 2017 in 53.996 Fällen ein Gutachter hinzugezogen, eine Zunahme von rund sechs Prozent. "In 53,1 Prozent der Fälle wurde der geplanten Behandlung ganz, in 29,5 Prozent teilweise und in 17,4 Prozent nicht zugestimmt", erklärt die KZBV.
Allerdings weist der Jahresbericht auch 7.936.600 abgerechnete Behandlungen aus. Somit wurde lediglich in rund 0,7 Prozent aller Fälle eine gutachterliche Notwendigkeitsprüfung durchgeführt.
Natürlich spielen bei der Entscheidung für oder gegen eine kieferorthopädische Behandlung gerade bei Kindern und Jugendlichen auch die Eltern eine Rolle. Allerdings könne man diese nicht mit der Verantwortung allein lassen, betont etwa die Handelskrankenkasse (HKK) in ihrer Analyse.
Die Eltern sind das schwächste Glied
Die Eltern seien hier schließlich keine unvoreingenommene Instanz, betont die HKK, da oftmals schon "der leiseste und auch nicht weiter begründete Hinweis" eines Arztes genüge, eine Nicht-Behandlung könnte körperliche und psychische Nachteile für das Kind haben, um sich für eine Behandlung zu entscheiden.
Dabei sei es mittlerweile "wissenschaftlich unstrittig, dass die meisten kieferorthopädischen Behandlungen ästhetisch motiviert sind und nicht gesundheitlich", kritisierte der Kieferorthopäde Henning Madsen im Gespräch mit den "Stuttgarter Nachrichten". Es gebe oftmals keinerlei Probleme beim Kauen und Beißen.
Ute Maier, Vorsitzende des Kassenzahnärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, erklärt sich das auf Nachfrage der Zeitung so: "Eltern sind heute aufmerksamer als früher und auch schneller alarmiert. Wenn ein Kind keine Spange hat, gilt das fast schon als unnormal. Die Spange gilt auch als Zeichen dafür, dass Eltern sich besonders um ihre Kinder kümmern."
Maier verweist aber auch auf eine übergroße Vorsicht bei Haus- und Zahnärzten. Man gehe oftmals "lieber auf Nummer sicher und schickt das Kind zum Kieferorthopäden, weil man sich nicht vorwerfen lassen möchte, eine wichtige Behandlung versäumt zu haben".
Die Eltern sind in dieser Bewertungskette das schwächste Glied. Sorgen um die berufliche und gesellschaftliche Zukunft ihres Kindes würden oft zum Entschluss führen, einer Behandlung zuzustimmen, gibt die HKK zu bedenken - und äußert Verständnis: Eltern wollten eben "immer nur das Beste für ihr Kind".
Mit dem aktuellen Gutachten kommt nun Bewegung in das Thema: Das Bundesgesundheitsministerium hat angekündigt, demnächst ein Expertengespräch anzusetzen. Darin soll offen über Sinn und Unsinn von kieferorthopädischen Behandlungen diskutiert werden.
Verwendete Quellen:
- Geschäftsbericht 2017/2018 der GKV
- "Bild.de": "Verdacht auf Abzocke mit Zahnspangen"
- Gutachten von 2001 des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVRKAiG)
- Bundesrechnungshof: Ergänzungsband Nr. 09 "Nutzen kieferorthopädischer Behandlung muss endlich erforscht werden"
- Jahresbericht 2018 der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung
- hkk Gesundheitsreport 2018: Kieferorthopädische Behandlung bei Kindern und Jugendlichen
- "Stuttgarter Nachrichten": Zahnspangen: Zu viele Kinder werden zu lange behandelt
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