• Die Corona-Maßnahmen helfen, Leben zu retten. Sie können aber auch die Psyche stark belasten.
  • Eine neue Erhebung zeigt, wie sehr sich die Verfassung der Menschen im Vergleich zum ersten Lockdown geändert hat.

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Was macht der lange Lockdown mit der Psyche? Die regelmäßigen und repräsentativen Umfragen für das "Deutschland Barometer Depression" verheißen nichts Gutes. Nach der jüngsten Sondererhebung, die am Dienstag veröffentlich wurde, sind bedrückende Gefühle in der Gesamtbevölkerung deutlich höher als im Frühjahr 2020. Besonders hart aber trifft es all jene, die bereits depressiv erkrankt sind. Es gebe eine bedenklichen Zahl von Suizidversuchen, heißt es in der Studie. Forderungen nach systematischer Untersuchung von gesundheitlichen Folgen der Pandemie-Maßnahmen werden lauter.

Drei Viertel empfinden Situation als bedrückend

Der erste Lockdown begann am 22. März 2020 und wurde bereits ab Ende April nach und nach aufgehoben. Seit damals hat sich die Stimmung maßgeblich verändert, wie die Erhebung zeigt, bei der Mitte bis Ende Februar rund 5.100 Menschen zwischen 18 und 69 Jahren repräsentativ online befragt wurden.

  • Fast drei Viertel (71 Prozent) der Bundesbürger gaben an, die Situation im zweiten Lockdown als bedrückend zu empfinden.
  • Im Vergleich dazu waren es im Frühjahr 2020 weniger als zwei Drittel (59 Prozent) der Befragten.
  • Fast die Hälfte (46 Prozent) der Bundesbürger erlebt seine Mitmenschen nach der Umfrage inzwischen auch als rücksichtsloser als im Frühjahr 2020 (40 Prozent).
  • Das Gefühl familiärer Belastung lag in der Umfrage mit 25 Prozent dagegen nur leicht höher als im ersten Lockdown mit 22 Prozent.
  • Sorgen um die berufliche Zukunft gab es weiterhin bei fast einem Drittel (30 Prozent) - vor einem Jahr waren es 28 Prozent.

Ängste, Bewegungsmangel, Konflikte und schlechterer Schlaf

Für Psychiater Ulrich Hegerl, Vorstandschef der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, sind diese Ergebnisse Ausdruck einer allgemeinen Demoralisierung der Bevölkerung, will heißen: Die Menschen sind entnervt und zermürbt. "Sie bewegen sich nicht mehr, sie nehmen zu, liegen länger im Bett und schlafen dann nachts schlecht", sagt er. "Sie sitzen noch länger vor Bildschirmen. Das ist alles nichts, was einen aufbaut. Dazu kommen ganz normale psychische Reaktionen wie berufliche Sorgen, Ängste und häusliche Konflikte."

Tatsächlich bringt eine weitere aktuelle Umfrage die ruhelosen Nächte vieler Bürgerinnen und Bürger zutage: Jeder Fünfte in Deutschland leidet aktuell pandemiebedingt unter Schlafstörungen, zeigt eine Erhebung des Forsa-Institutes im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH). Im März 2021 wurden rund 1.000 Personen zwischen 18 und 70 Jahren repräsentativ befragt.

  • Rund 20 Prozent der Befragten berichten von Schlafproblemen, die sie auf die Corona-Krise zurückführten.
  • Eltern mit Kindern unter zwölf Jahren leiden noch häufiger als andere: Rund 30 Prozent von ihnen geben an, dass ihnen die Pandemie den Schlaf raube.

Mit der Umstellung auf die Sommerzeit komme am Wochenende (Sonntag, 28. März) eine weitere Herausforderung für den Schlafrhythmus hinzu. Jeder dritte Umfrageteilnehmer berichte von Problemen, morgens in den Tagen nach der Umstellung aufzustehen. Besonders häufig wirke sich die Umstellung negativ auf Schlafverhalten und Wohlempfinden bei Frauen aus.

Dass sich die Zahl der Depressiven durch den langen Lockdown massenhaft erhöht, glaubt Hegerl allerdings nicht. "Allein die Wahrnehmung, dass das Leben gerade bitter ist, führt noch nicht zu einer Depression", betont er. "Darauf reagieren Menschen mit Angst, Sorge und Verzweiflung. Dies sind zwar leidvolle, aber nicht krankhafte menschliche Reaktionen." Habe ein Mensch jedoch eine Veranlagung zu einer Depression, könne durch die Maßnahmen gegen Corona eine depressive Krankheitsphase getriggert werden.

Berichte von Suizidversuchen - "Zahl sehr, sehr hoch"

Die Umfrage wirft ein Schlaglicht darauf, wie sich die Versorgung depressiver Menschen in der Pandemie verschlechtert hat. Manche bekamen keine Behandlungstermine, andere wagten sich aus Angst vor Ansteckung nicht in Praxen und Kliniken. Eine Reihe von Behandlungen fiel aus, und Selbsthilfegruppen konnten sich nicht mehr treffen. Viele Betroffene haben die Maßnahmen der Pandemie nicht nur deutlich mehr verunsichert und bedrückt als die Gesamtbevölkerung. Sie gaben auch an, dass sich ihre Depression im vergangenen halben Jahr verschlimmerte - zum Beispiel durch Rückfälle oder Suizidgedanken.

Rund ein Prozent der befragten Betroffenen sprach in der Studie von Suizidversuchen. "Diese Zahl in der Umfrage ist schon sehr, sehr hoch", sagte Hegerl. Mangels Erhebungen gebe es keine Vergleichswerte aus der Zeit vor der Pandemie. Die Wissenschaft gehe aber davon aus, dass es zehn bis 20 Mal mehr Suizidversuche als Suizide gebe. "Dann kommt man auf 150.000 bis 200.000 Suizidversuche in Deutschland pro Jahr", erläuterte er. "Hier haben wir allein bei Menschen mit Depressionen, also nur einer Untergruppe der Gesamtbevölkerung, hochgerechnet 140.000 Suizidversuche in einem halben Jahr."

Das Ergebnis sei eine Aufforderung, Suizidversuche in Deutschland zumindest in einer repräsentativen Stichprobe systematisch zu erheben. "Für mich ist es eine Katastrophe zu sehen, wie sich die Versorgung von Menschen mit Depressionen verschlechtert hat", resümiert Hegerl. "Nicht bedacht wird dabei oft, dass es sich hier um eine häufige, schwere, und oft auch lebensbedrohliche Erkrankung handelt."

Er könne nicht erkennen, dass diese wichtige Frage in der Pandemie systematisch diskutiert werde und dafür Daten aus allen Bereichen der Medizin zusammengetragen oder auch gezielt erhoben würden, kritisierte Hegerl. "Unsere Daten zu Menschen mit psychische Erkrankungen liefern hier nur eine Facette. Man bräuchte dazu eine multiprofessionelle Expertengruppe, die sich mit dieser Balance zwischen Vor- und Nachteilen der getroffenen Maßnahmen in systematischer Weise und permanent beschäftigt." (dpa/af)

Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 08 00/ 11 10 - 111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).

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