• Die Corona-Lage entspannt sich, Christian Drosten prognostiziert das Ende der Pandemie.
  • Doch für die Krankenhäuser ist die Normalität noch weit entfernt.
  • Warum man Covid-19 auch weiterhin nicht unterschätzen sollte.

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Sabine Bielicke setzt die Schutzbrille auf, greift zum gelben Kittel und bindet ihn fest um den Körper. Der Blick der Stationspflegeleiterin der Pneumologie und Infektiologie im Vivantes-Klinikum Neukölln ist konzentriert, jeder Griff sitzt. Das An- und Ausziehen der Schutzkleidung ist nach fast drei Jahren Pandemie mittlerweile zur Routine geworden.

Immer, wenn sie oder ein Kollege eines der Isolierzimmer für Corona-Patienten betreten, müssen sie sich umziehen – mehr als zehnmal am Tag. Auch das Ausziehen folgt einem strengen Protokoll, das sich täglich immer und immer wiederholt. Es ist belastend, aufwendig und kostet Zeit, die Bielicke gut für etwas anderes nutzen könnte. "Aber was soll man machen?", fragt sie, zuckt mit den Schultern und bindet eine weitere Schlaufe des Kittels am Hals.

Die Inzidenz ist deutschlandweit niedrig, sie liegt aktuell bei 210 (Stand: 12. Dezember). Bayern, Hessen, Schleswig-Holstein und auch Baden-Württemberg haben die Isolationspflicht gekippt und aktuell wird diskutiert, ob die Maskenpflicht in Bussen und Bahnen bundesweit abgeschafft werden soll. Der Virologe Christian Drosten sagte kürzlich in einem Interview mit der "Zeit", das Ende der Pandemie stehe kurz bevor. Und tatsächlich sah die Kurve der Fallzahlen schon lange nicht mehr so gut aus wie gerade. Doch noch immer sind viele Isolationszimmer in den Krankenhäusern belegt.

Corona hat Spuren im Krankenhausalltag hinterlassen

Bielicke hat 1980 ihre Ausbildung im Klinikum Neukölln begonnen, seit 1984 ist sie Krankenpflegekraft. Die Pandemie hat ihren Arbeitsalltag auf den Kopf gestellt und erhebliche Spuren hinterlassen. Schon vor der Pandemie gab es Personalmangel. Die Situation hat sich jetzt weiter verschärft. Noch immer fallen ständig Mitarbeitende aufgrund einer Corona-Infektion aus, viele infizieren sich wieder und wieder. Andere sind früher in Rente gegangen, wieder andere haben den Job gewechselt.

Seit Beginn der Pandemie wurden in dem Neuköllner Haus fast 3.900 Patienten behandelt. "Corona ist auch weiterhin ein großes Thema für uns. Und je mehr Isolierte, desto aufwendiger ist es", sagt Bielicke, während sie auf dem Gang der Station blaue Schutzhandschuhe anzieht. Vor jedem Zimmer steht ein Rollcontainer mit Desinfektionsmittel und Wasserflaschen, neuen Kitteln, neuen Handschuhen, neuen Brillen. Bielicke blickt auf. Jetzt ist sie bereit, sie kann den Isolierraum mit dem Corona-Patienten betreten.

Risikogruppe Ungeimpfte

Momentan liegen vor allem ältere und vorerkrankte Menschen mit Corona im Klinikum – und viele Ungeimpfte. "Wir sprechen gerade viel über die vierte Impfung, aber vergessen dabei, dass ein großer Teil der Bevölkerung noch gar nicht geimpft ist", sagt Sven Gläser, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Pneumologie und Infektiologie am Vivantes-Klinikum Neukölln und Pandemiebeauftragter aller Vivantes -Kliniken, während er die Treppen zu Station 4 hinaufgeht. Diese ist eine Intensivstation für Langzeitbeatmung und Weaning, was bedeutet: Hier werden Patienten von den Atemgeräten entwöhnt. Sie lernen also wieder selbstständig zu atmen.

Wenn Gläser vom Alltag in der Klinik erzählt, merkt man ihm an, dass es noch kein Aufatmen in seinem Alltag gibt, auch wenn die Corona-Lage entspannter sein mag als vor einem Jahr. Es gibt zwar weniger schwere Verläufe, weniger junge Menschen sterben. Doch die Pflegekräfte sind immer noch stark belastet, viele Corona-Patienten liegen oft wochenlang auf der Station.

Dort sieht es bereits weihnachtlich aus. Geschmückte Tannenbäume aus Plastik stehen auf dem Gang, eine kleine runde Weihnachtsmannfigur winkt den Besuchern entgegen. Aus den Zimmern tönt das Piepen von Herzmonitoren.

Erst vor vier Wochen wurde ein jüngerer Mensch mit Corona eingeliefert und musste lange künstlich beatmet werden, erzählt Gläser. Nun liege er auf der Station 4. Weitere Details wolle er nicht verraten, um den Patienten zu schützen. Der Betroffene sei ungeimpft, der Verlauf schwer. Wann sich der Patient erholen werde, sei ungewiss.

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Aktuell leiden viele Menschen unter Beschwerden wie Husten, Schnupfen oder Halsschmerzen. Da derzeit mehrere Atemwegserkrankungen kursieren, bei denen sich die Symptome überschneiden, ist oftmals die Unterscheidung nicht leicht.

Fallzahlen werden wieder steigen

"Wir befinden uns in der Pandemie zwar gerade in einem Tal", sagt Gläser, "aber wir rechnen damit, dass die Fallzahlen wieder steigen werden." Was er in der aktuellen Diskussion rund um Corona vermisse, sei die Tatsache, dass alles, was in den kommenden Wochen passiert, ein geschwächtes Gesundheitssystem trifft. "Wir sind in keiner stabilen Situation. Es sollte daher alles getan werden, dass es so wenig Infektionen wie möglich gibt." Und dazu gehöre auch, freiwillig eine Maske in der Öffentlichkeit zu tragen – zum eigenen Schutz, aber auch aus Solidarität.

Wie es die kommenden Monate mit Corona weitergeht, hängt vor allem davon ab, welche Varianten sich durchsetzen und wie pathogen die Varianten sind, also wie krank sie machen. Derzeit breitet sich vor allem die Variante BQ.1.1 aus, ein Abkömmling der Omikron-Subvariante BA.5. Aufgrund des hohen Ansteckungspotenzials trägt sie auch den Beinamen Cerberus. Der Begriff stammt aus der griechischen Mythologie und bedeutet so viel wie Höllenhund.

BQ.1.1 könnte dominierende Variante werden

In den USA sorgt die Variante bereits für zahlreiche Neuinfektionen. Italien, Belgien und die Niederlande melden einen deutlichen Anstiegt der Infektionen mit dieser Variante. Auch hierzulande besteht die Möglichkeit, dass BQ.1.1 zur dominierenden Variante werden könnte.

"Die aktuelle Situation ist interessant. Zuvor war es immer so, dass eine Variante die nächste abgelöst hat. Das haben wir schon seit einigen Monaten nicht mehr", sagt Emanuel Wyler, Molekularbiologe am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin.

Noch immer kursiert die Omikron-Variante, aus der sich mehrere Subvarianten gebildet haben. "Das Gute ist: Wir haben recht viel Immunität in der Bevölkerung gegen diese kursierenden Virusvarianten." Das liege zum einen an der großen Omikron-Sommerwelle, aber auch an der neuen BA.5-Impfung.

Die entscheidende Frage sei jetzt: Kommt wieder etwas ganz Neues? "Das kann man natürlich nie ganz ausschließen. Jeder Tag, an dem das nicht geschieht, also keine ganz neue gefährliche Variante entsteht, ist ein guter Tag", sagt Wyler. Und immerhin: Die neuen Omikron-Subtypen scheinen bislang zu keiner Zunahme von schweren Krankheitsverläufen zu führen. Das bestätigt auch Gläser aus seinen täglichen Erfahrungen im Vivantes-Klinikum Neukölln.

Dennoch mahnt Wyler, ähnlich wie Gläser, zur Vorsicht. "Sars-CoV-2 ist weiterhin ein überdurchschnittlich gefährliches Virus, das gilt insbesondere für ältere Menschen und für jene mit Vorerkrankungen", sagt Wyler. "Auch mit Omikron kann man schwer erkranken oder gar sterben." Außerdem könne man selbst nach einer milden Covid-19-Erkrankung längerfristige gesundheitliche Folgen haben, Stichwort: Long Covid.

Einige Patienten leiden Wochen nach der Corona-Infektion noch unter Fatigue, also absoluter Erschöpfung und Müdigkeit, andere unter Gedächtnis- und Kognitionsstörungen und dann gibt es wieder welche, die Luftnot bei Belastung haben. Auch psychische Störungen wie Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen können entstehen.

Bis zu 16 Prozent der Patienten sind von Long Covid betroffen

"Die Patienten, die jetzt Long-Covid-Beschwerden äußern, sind im Frühling dieses Jahres erkrankt oder sogar davor. Und diejenigen, die im Moment akut erkranken, werden oft nicht gut versorgt", erklärt Jördis Frommhold, Lungenfachärztin und Long-Covid-Expertin. Sie hat im Oktober dieses Jahres das erste deutsche Long-Covid-Institut in Rostock gegründet. Im Januar kommenden Jahres starten die ersten Behandlungen "Derzeit schätzen wir, dass zehn Prozent der Infizierten von Long Covid betroffen sind", sagt sie. Die europäische Sektion der Weltgesundheitsorganisation WHO geht sogar von 16 Prozent aus.

Dass Long-Covid-Symptome selbst nach einer milden Corona-Infektion auftreten können, hat verschiedene Gründe. Einer ist, dass die Symptome durch eine Autoimmunreaktion entstehen, indem das Immunsystem nach der Infektion mit Sars-CoV-2 eigene Zellen angreift. Auch eine Viruspersistenz kann Auslöser für Long Covid sein. Das bedeutet, dass kleine Viruspartikel im Körper verbleiben und weiterhin Entzündungen auslösen, das Immunsystem stören.

Ein Teil der Beschwerden lässt sich aber auch auf den Umgang mit der Corona-Infektion zurückführen. "Gerade zurzeit bagatellisieren viele ihren Akutverlauf und nehmen das nicht ernst, kurieren sich nicht aus und gehen trotzdem zur Arbeit", sagt Frommhold. So kann leichter Long Covid entstehen. Die Folgen sind fatal.

"Sicher ist: Die Inzidenz sinkt zwar, aber die Long-Covid-Patienten werden nicht weniger", sagt Frommhold. Es kommen immer neue dazu, die Dunkelziffer ist hoch. Sie kritisiert daher auch Maßnahmen wie die Abschaffung der Isolationspflicht, aber auch die mögliche Abschaffung der Maskenpflicht im Nahverkehr. "Die Möglichkeit, sich mit Covid zu infizieren und Long Covid zu bekommen, steigt dadurch."

Wird Corona endemisch?

Auch einige Mitarbeiter der Klinik seien aufgrund von Long Covid arbeitsunfähig geworden, erklärt Sven Gläser, als er wieder in seinem Büro im Erdgeschoss sitzt. Eine fatale Entwicklung sei das, Long Covid verschärfe zusätzlich die Situation im Gesundheitssystem. Als chronische Krankheit ist es bisher nicht heilbar. Die Symptome werden unterschätzt, Betroffene nicht ernst genommen und daher oft nicht richtig behandelt.

Und wie geht es jetzt mit Corona weiter? Einige Wissenschaftler prognostizieren bereits, dass Covid-19 schon bald endemisch werde. "Auch wenn Corona endemisch ist, heißt es ja nicht, dass es harmlos ist", sagt Emanuel Wyler. "HIV ist auch endemisch. Und Malaria an vielen Orten auch. Das heißt aber nicht, dass man sich infizieren möchte oder dass das Virus weniger schlimm ist. Corona ist da, es wird immer bleiben und es ist nicht ungefährlich."

Ob man jetzt von einer Endemie oder einer Pandemie spreche, helfe weder den Pflegekräften noch den Ärzten weiter, meint Gläser. "Mit den Herausforderungen ist man gleich konfrontiert." Mit den Krankmeldungen der Mitarbeiter, mit den neuen Corona-Patienten, die über die Rettungsstelle ins Krankenhaus gelangen oder bei der Einweisung zufällig positiv getestet werden.

Mit der Aussage, die aktuell immer wieder getroffen wird, dass Covid-19 sich in Zukunft ähnlich wie das Grippevirus verhalten wird, kann Gläser nicht viel anfangen. "Das Ausmaß der Krankenhausbelastung durch Covid ist auch nicht ansatzweise mit der durch Influenza vergleichbar und wird es wahrscheinlich nie sein. Auch wenn das manchmal anders behauptet wird, die Belastung durch Covid ist höher", sagt Gläser. "Wir wünschen uns auch nichts weiter als mehr Normalität in unserem Krankenhausalltag." Doch davon ist man noch immer weit entfernt.

Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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