Durch Social-Media-Plattformen wie TikTok ist der Begriff Red Flag längst zum inflationären Begriff geworden. Doch was steckt aus paartherapeutischer Sicht hinter diesem Warnzeichen? Ein Experte ordnet die Begrifflichkeit rund um Red Flags ein und erklärt, warum Singles durch die ständige Suche nach Warnsignalen selbst zur Red Flag werden können.
Wenn der eine zu spät zum Date kommt, um beim Essen nur von der Ex zu sprechen, und die andere während des Gesprächs ununterbrochen auf ihr Smartphone starrt, ist schnell von Red Flags die Rede. Ein Begriff, der auch auf Social Media längst Einzug gehalten hat. Und so häufen sich auf TikTok oder Instagram Videos mit Titeln wie "5 Red Flags, auf die du beim Dating achten solltest" – Clips, die dabei helfen sollen, vermeintliche Warnsignale beim Gegenüber zu erkennen und entsprechend reagieren zu können.
Aber was genau hat es wirklich mit Red Flags auf sich und ist die ständige Suche nach den roten Flaggen nicht auch eine Red Flag? Im Gespräch mit unserer Redaktion ordnet Paartherapeut Eric Hegmann die Begrifflichkeit ein und beantwortet die Frage, ob man überhaupt noch jemanden kennenlernen kann, wenn jedes vermeintliche Fehlverhalten eine Red Flag ist.
Herr Hegmann, erklären Sie uns bitte zunächst einmal, wofür "Red Flags" stehen.
Eric Hegmann: Red Flags sind Warnzeichen. Beim Dating wird der Begriff für Signale, auf die Partnersuchende achten sollten, verwendet, damit sie später keine Enttäuschung erleben. Solche Signale sind häufig Verhaltensweisen, die zuvor bei Kennenlernen oder früheren Beziehungen als schmerzhaft erlebt wurden. Die Idee ist: Wenn ich sie beim nächsten Kontakt frühzeitig erkenne, kann ich eine Wiederholung vermeiden. Manche dieser Warnsignale sind universell, das heißt, sie verletzen gängige Normen und Werte, viele von ihnen sind aber auch sehr individuell und deuten vielleicht auf nicht verarbeitete, negative Erfahrungen der eigenen Biografie hin.
Findet der Begriff in der Psychologie und Paartherapie wirklich statt oder handelt es sich hierbei eher um ein Social-Media-Phänomen?
Ich danke Ihnen sehr für die Frage. In der Therapie würde eine solche abschreckende Verhaltensweise eines Kontaktes selbstverständlich hinterfragt und zunächst einmal nicht bewertet werden. Die Furcht vor Red Flags sorgt für distanziertes und vermeidendes Verhalten. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass die Zahl der Menschen mit einem vermeidenden Bindungsverhalten in den USA stark zugenommen haben soll. Bindungsforscher wie Phillip R. Shaver vermuten, dass die vielen Zurückweisungen und Enttäuschungen beim heutigen Dating dazu beitragen und ich kann das auch in der Praxis beobachten: Die Partnersuchenden sind zunehmend frustriert und gleichermaßen verängstigt von schmerzhaften Erfahrungen. Und dieser Aspekt geht meist unter: Diese Verhaltensweisen sind häufig erlernte Schutzstrategien, um selbst Verletzungen zu vermeiden. Es ist hilfreich, sich dessen bewusst zu werden. Alle Verhaltensweisen sind für eine Person ja logisch begründet. Die Logik muss man nicht teilen, aber es ist spannend, sie sich anzusehen, um die andere Person besser zu verstehen. Und geht es nicht genau darum beim Kennenlernen?
Inwiefern sorgen die sozialen Medien dafür, dass der Begriff Red Flag nicht nur inflationär, sondern eben auch falsch verwendet wird?
Paralleles Dating beispielsweise ist für Menschen, die sich sehr schnell in eine Idee einer Beziehung mit einem neuen Kontakt hineinsteigern, ein hilfreiches Werkzeug, um eine frühe Überromantisierung zu vermeiden. Für einen Partnersuchenden, der erlebt hat, von einem Kontakt hingehalten worden zu sein, ist das aber eine Red Flag. Nun wäre es nicht tragisch, würden Menschen sich dann über ihre Erfahrungen austauschen, aber schon das gilt ja bei vielen als Red Flag: nur nicht von schmerzhaften Ex-Kontakten sprechen!
Wenn es nach zahlreichen Nutzerinnen und Nutzern auf Social Media geht, ist jede Red Flag eine zu viel. Kann Dating überhaupt noch unvoreingenommen stattfinden?
Die Fokussierung auf Red Flags verhindert Kommunikation und lädt ein zum Abgleich der jeweiligen Checklisten – und das im Katastrophen-Vermeidungs-Modus voller Ängste. Wenn nun zwei Singles in diesem Stresszustand des Misstrauens und vielleicht sogar gegenseitigen Abwertens aufeinandertreffen, kann kein Funke überspringen. Dazu sind die Schutzschilder zu hoch und die Erwartung jeweils an den anderen ist meist, dass sie oder er sich doch bitte als vertrauenswürdig erst einmal zu beweisen hätte. So bleiben Begegnungen seelenlos und sorgen für noch mehr Verletzungen – und noch mehr Red Flags.
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"Wir sollten uns von der Idee lösen, Partner im Internet zusammenstellen"
Gibt man "Red Flags" in die Suchmaschine ein, erscheinen unzählige Ratgeberartikel über typische Warnsignale und wie man diese erkennt. Welche sind Ihrer Meinung nach typische Warnsignale?
Diese Artikel sind meist sehr einseitig und vergessen, dass das Gegenüber mit größter Wahrscheinlichkeit ebenso auf Red Flags achtet. Es ist doch so: Wenn ich zu spät komme, dann habe ich dafür einen guten Grund: Die Bahn streikt, die Katze musste zum Tierarzt, das Kind konnte wegen Erkältungswelle nicht in die Kita. Wenn der Schwarm zu spät kommt, dann ist das natürlich eine Red Flag für Unzuverlässigkeit und prophezeit späteres Ghosting.
Worin liegt der Unterschied zwischen einem vermeintlichen Fehlverhalten und einer Red Flag?
Das lässt sich vermutlich nur individuell beantworten. Ich lade ein, sich hier ein paar Fragen zu stellen: Dass dieses Verhalten eine Red Flag ist, woher habe ich das? Woher habe ich diese Geschichte und Überzeugung? Ist das überhaupt meine Geschichte oder wurde mir die erzählt? Ich habe bereits so viele völlig unsinnige Red-Flag-Warnungen gelesen, nach denen introvertierte Menschen ganz gefährlich wären oder durch die andere pathologisiert werden, beispielsweise weil sie sofort als toxisch oder narzisstisch bewertet werden. Vor zwei Jahren habe ich für Parship eine Studie begleitet über die größten Red Flags. Genannt wurde: eine pessimistische Lebenseinstellung, Untreue in einer früheren Beziehung und fehlende Verarbeitung der Ex-Partnerschaft. Was ist das Achten auf Red Flags, wenn nicht eine pessimistische Einstellung?
Manipuliert man also die eigene Wahrnehmung des Gegenübers, wenn man nur auf vermeintliche Makel und negative Verhaltensweisen achtet?
Dass unsere innere Alarmanlage scharf gestellt ist, wenn wir schmerzhafte Erfahrungen erleben mussten, ist sehr gut. Wir sollen ja schließlich diese nicht wiederholen müssen. Gleichzeitig sorgt aber dieser Stress eben auch für die Stressreaktion, nahezu alles als bedrohlich einzuordnen. Und dem müssen wir uns auch wieder bewusst werden: Dating bedeutet nicht, sich am Salatbuffet eine individuelle Bowl zusammenzustellen. Wir sollten uns von der Idee lösen, Partner im Internet zusammenstellen, kaufen und bestellen zu können wie bei Zalando mit Rückgabegarantie. Diese Haltung ist für mich eine eigentliche Red Flag, wenn ich den Begriff einmal anwenden darf.
Also wird man selbst zur Red Flag, wenn man beim Gegenüber nur auf vermeintliche Red Flags achtet?
Es ist eine verständliche und logische Schutzstrategie. Wir können heute mehr Menschen kennenlernen als jede Generation vor uns, weil wir dank des Internets eben nicht mehr auf den Trampelpfad von Ausbildung, Beruf, Freundeskreis und Freizeit angewiesen sind. Das führt aber gleichzeitig dazu, dass wir beim Kennenlernen mehr Zurückweisungen und Trennungen und vermeintliches Scheitern erleben als jede Generation vor uns. Und das macht selbstverständlich etwas mit uns: Wir werden misstrauischer oder vielleicht lassen wir auch Grenzen überschreiten, um unbedingt liebenswürdig zu erscheinen. Sich solcher Dynamiken bewusst zu werden, kann bereits helfen, die eigenen Verhaltensweisen und Stressreaktionen auf vermeintliche Red Flags zu verstehen.
"Es ist gut, wenn sie wissen, was ihnen schadet"
Wäre es demnach hilfreicher, vielmehr auf Green Flags statt auf Red Flags zu achten?
In der Therapie wird häufig gefragt: Erinnern Sie sich, wie Sie dieses Problem vielleicht in der Vergangenheit bereits positiv bewältigen konnten? Fürs Kennenlernen bedeutet das: Mehr Erfolgserlebnisse beobachten statt Doomscrolling bei Instagram der schlimmsten Dating-Erfahrungen. Was haben andere, die erfolgreich waren, vielleicht anders gemacht und wäre das etwas, das ich ausprobieren kann? Und was könnte ich vielleicht noch lernen oder mir aneignen, um eine neue Strategie zu wagen?
Inzwischen trenden bei TikTok auch die sogenannten Beige Flags – Verhaltensweisen des Partners oder der Partnerin, die ein Mensch in seiner Beziehung zwar als nervig empfindet, über die aber hinweggesehen werden kann. Sind Beige Flags also das Ziel?
Besser als Red Flags sind sie allemal, gleichzeitig ist es auch nur wieder ein neuer Suchmaschinen-Begriff, der bedient wird und um Aufmerksamkeit buhlt. Jeder muss das für sich selbst herausfinden. Einem offenen, neugierigen Kennenlernen, das zu einer emotionalen Verbindung führen kann, sind alle diese Kategorien abträglich.
Was raten Sie Singles, um während der Kennenlernphase die richtige Balance zwischen K.-o.-Kriterien und Objektivität zu finden?
Es ist gut, wenn sie wissen, was ihnen schadet und wie sie diese Verletzung vermeiden können. Viel wichtiger aber ist zu wissen, was ihnen guttut. Und wenn auf dieser Liste nicht eigene Tugenden wie Vertrauen, Neugierde, Offenheit, Verbindlichkeit, Bereitschaft zu Verbindung stehen, dann werden sie nur die schmerzhaften Erfahrungen machen können, vor denen sie sich eigentlich schützen wollen. Liebe und Kennenlernen gibt es nicht ohne Verletzungen. Gehen oder Radfahren lernen wir nicht ohne Sturz. Das auszuhalten und aus diesen Erfahrungen gestärkt hervorgehen, ist Wachstum. Sich hinter den Mauern von Schutzstrategien zu verschanzen, sorgt dafür, dass Dates distanziert und ohne emotionale Nähe seelenlos bleiben und letztlich genau dadurch zu neuen Enttäuschungen führen.
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Über den Gesprächspartner:
- Eric Hegmann ist Paartherapeut in Hamburg, Co-Gründer der Modern Love School sowie einer eLearning-Plattform mit Onlinekursen rund um die Liebe. Seit über 17 Jahren ist er Mitglied im Parship-Experten-Team und begleitet und ordnet dort repräsentative Studien über Partnersuche und Beziehungen ein.
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