Deutschland hat das Coronavirus einigermaßen in den Griff bekommen. Nun klettert ein wichtiger Indikator - die Reproduktionszahl - aber über einen kritischen Wert. Was man daraus ablesen kann - und was nicht.
Mit der sogenannten Reproduktionszahl ist einer der entscheidenden Werte zum Infektionsgeschehen in Deutschland zuletzt gestiegen - und hat einen kritischen Wert überschritten. Die Zahl gibt an, wieviele weitere Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts von Sonntag lag der Wert bei 1,13 (Datenstand 10. Mai). Das RKI hat immer wieder betont, um die Epidemie abflauen zu lassen, müsse die Reproduktionszahl unter 1 liegen.
Anfang Mai lag der Wert noch zwischen 0,7 und 0,8
Anfang Mai lag der Wert nach RKI-Angaben über mehrere Tage zwischen 0,7 und 0,8. Am Mittwoch gab das RKI den Wert noch mit 0,65 an (Datenstand 6. Mai 0 Uhr), seitdem war er kontinuierlich gestiegen. Wie diese Entwicklung zu lesen und zu interpretieren ist, ist aber alles andere als trivial.
Zunächst muss man wissen, dass die Angabe, dass ein Infizierter im Schnitt 1,13 weitere Menschen ansteckt, nicht die momentane Situation abbildet. Aus methodischen Gründen bezieht sich der Wert auf Infektionen, die schon vor einer gewissen Zeit stattfanden. Mögliche Effekte beim Infektionsgeschehen, die auf am Mittwoch von Bund und Ländern beschlossenen Lockerungen der Beschränkungen zurückzuführen sind, kann man daran also nicht ablesen.
Zudem betont das RKI in einer Erklärung zur gestiegenen Reproduktionszahl, dass der R-Wert immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet ist. Wegen der statistischen Schwankungen, die durch die insgesamt niedrigeren Zahlen verstärkt würden, könne noch nicht bewertet werden, ob sich der während der letzten Wochen sinkende Trend der Neuinfektionen weiter fortsetzt - oder es zu einem Wiederanstieg der Fallzahlen kommt. "Der Anstieg des geschätzten R-Wertes macht es erforderlich, die Entwicklung in den nächsten Tagen sehr aufmerksam zu beobachten", schreibt das RKI.
Reproduktionszahl kann nicht alleine als Indikator herangezogen werden
Die Reproduktionszahl könne nicht alleine als "Maß für Wirksamkeit/Notwendigkeit von Maßnahmen" herangezogen werden, schreibt das RKI auf seiner Webseite. Wichtig seien außerdem die absolute Zahl der täglichen Neuinfektionen sowie die Schwere der Erkrankungen. Die absolute Zahl der Neuinfektionen müsse klein genug sein, um eine effektive Nachverfolgung von Kontaktpersonen zu ermöglichen und die Kapazitäten von Intensivbetten nicht zu überlasten. Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro Tag ist nach einer RKI-Übersicht seit Anfang April mit Schwankungen rückläufig.
Auch Dirk Brockmann, Experte für Modellierungen von Infektionskrankheiten an der Humboldt-Universität in Berlin, betont, dass der R-Wert nur eine grobe Schätzung und von vielen Faktoren abhängig sei. Trotzdem lasse sich aus dem Anstieg von 0,65 auf 1,10 ein Hypothese ableiten. Brockmann geht davon aus, dass sich darin widerspiegelt, dass die Menschen bereits vor den am Mittwoch beschlossenen Lockerungen langsam zur Normalität zurückgekehrt sind. Man treffe sich wieder etwas mehr und sei generell mehr unterwegs. Das führe zu mehr Ansteckungen, so die These.
Generell müsse die Entwicklung des Infektionsgeschehens über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. Im Großen und Ganzen pendele der R-Wert immer noch um 1 herum, so Brockmann. (mgb/dpa)
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