• Brasilien wandelte sich vom Corona-Hotspot zum Impf-Musterland.
  • Einer der Gründe: Die lange Impftradition schaffte Vertrauen in der Bevölkerung.
  • Dennoch versickerte viel Geld für die Pandemiebekämpfung in korrupten Kanälen.

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Es war ein rührendes Bild: Als der 70-jährige Adelino Gomes nach dreimonatiger COVID-Erkrankung im Rollstuhl aus dem Krankenhaus Hospital Municipal Ronaldo Gazella (HMRG) in der Nordzone von Rio de Janeiro herausrollt, stehen die Mitarbeiter Spalier und klatschen im Beifall. Sogar der Oberbürgermeister von Rio, Eduardo Paes ist da.

Er will aber nicht nur feiern, nutzt die Gelegenheit für einen Impfappell: "Folgt dem Rat von Adelino", bittet er. "Adelino sagte mir, dass er nur wegen der Impfung überlebt habe. Personen, die sich bislang nicht impfen ließen, lassen sich nun impfen", schildert Paes. "Sie erlaubt es, dass wir in diesem Moment das Leben derjenigen feiern können, die der Krankheit widerstanden und nun wieder ihre Familien treffen können."

Den anwesenden Pflegekräften braucht er das wohl kaum zu sagen, auch nicht den anwesenden Journalisten. Aber noch immer gibt es in Brasilien Menschen, die sich noch nicht gegen COVID haben impfen lassen. Und die will er erreichen. Dabei hat Brasilien in Sachen Impfung eine wahnsinnige Aufholjagd hingelegt.

Mehr als 280 Millionen Impfdosen verabreicht

Laut der US-amerikanischen Johns-Hopkins Universität wurden inzwischen mehr als 280 Millionen Impfdosen verabreicht – bei einer Gesamtbevölkerung (alle Altersstufen) von knapp 220 Millionen Menschen. Allerdings verloren diese seit März 2020 mehr als 600.000 Angehörige durch das Virus. Mit Gomes verlässt der letzte COVID-Patient das öffentliche Krankenhaus. Es scheint fast wie das Happy End eines kleinen Märchens, das im März 2020 als Alptraum begann.

Blick zurück: Mit leichter Verzögerung schwappt das Conoravirus im Frühjahr 2020 nach Brasilien. Reiche Brasilianer hatten den Erreger aus dem Europa-Urlaub importiert. Die erste Tote war eine Hausangestellte gewesen, deren infizierte Chefin ihr verboten hatte, zu Hause zu bleiben und sich zu schützen.

Danach ging alles schnell. Das Virus verbreitete sich rasant, in Städten wie São Paulo oder Manaus kam man kaum hinterher, Gräber für die Verstorbenen auszuheben. Die durchschnittliche Sterberate stieg während der Pandemie in Brasilien insgesamt um 15, in Manaus gar um über 30 Prozent an.

Dazu mit Jair Bolsonaro ein Präsident, der die Pandemie von Beginn an kleinredete. Ein "Grippchen" sei es bloß, gegen das das vom Militär in riesiger Menge hergestellte Malariamittel Chloroquin helfe. Kontaktbeschränkungen lehnte Bolsonaro ebenso ab wie Abstandsregeln oder Mundschutz. Immer wieder nahm er völlig ungeschützt Bäder in der Menge. Als sich sein Gesundheitsminister schließlich um Impfstoff bemühte, war der Weltmarkt längst leergefegt und die Preise astronomisch.

Es waren die Gouverneure der Bundesstaaten, wie der Mitte-rechts-Politiker João Doria, die Bolsonaros Gleichgültigkeit etwas entgegensetzten und handelten. Aus China beschafft er das Impfserum, mit dem am Institut Butantan ab Herbst 2020 Impfstoffe auf Basis von Coronavac hergestellt wurde. Doria versprach allen 46 Millionen Bewohnern seines Bundesstaats eine baldige Impfung – und hielt Wort.

Mit massiven Impfungen Situation in den Griff bekommen

Inzwischen gab es die ersten hoffnungsvollen Nachrichten. In der brasilianischen Kleinstadt Serrana. Im Bundesstaat São Paulo lief im Frühjahr 2021 ein einzigartiges medizinisches Experiment an. Bis Mitte März sollen dort 30.000 der insgesamt 45.000 Einwohner in einer Massenimpfung gegen Corona immunisiert werden.

Das Ergebnis war wie von den Wissenschaftlern vermutet: Nachdem 95 Prozent der Erwachsenen mit Coronavac geimpft waren, sanken die Inzidenzzahlen um 95 Prozent, berichtet internationale Webseite "Sciencenews.org.". Im April kehrte die anfangs schwer gebeutelte Stadt fast zum Normalzustand zurück. Ende Mai kündigte Doria ein großes Open-Air-Konzert in Serrana an. Die wissenschaftliche Begleitung und weitere Untersuchungen und Auswertungen dauern noch an.

Bolsonaro: Ein ignoranter Präsident, dem man aber nicht alle Schuld geben kann

Präsident Bolsonaro nahm Corona nie richtig ernst. Die alleinige Schuld kann man ihm aber auch nicht geben, findet Pedro Hakme. Er ist Leiter der Clínica da Família Santa Marta, einem Gesundheitszentrum in Botafogo, einem Stadtteil von Rio de Janeiro. "Wie in den USA sind auch hier die Einschränkung der Freizügigkeit und Ausgangssperren nicht erlaubt. Es gab also keine Möglichkeit einer vollständigen Abriegelung", sagt der Mediziner im Gespräch mit unserer Redaktion. "Meiner Meinung nach war das gut, denn eine Sperre ist nur für kurze Zeit, etwa eine oder zwei Wochen, von Vorteil. Und sie sollte nur dann eingesetzt werden, wenn die Bettenkapazität der Intensivstation 100 Prozent beträgt und alle Betten-Ressourcen ausgeschöpft sind."

Präsident Bolsonaro hatte dafür rund 30 Milliarden Reais an die Staaten und Gemeinden überwiesen. "Einige haben das Geld richtig verwendet, andere nicht. Der Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro wurde genau aus diesem Grund aus dem Amt entfernt. Leider gibt die internationale Presse nur dem Präsidenten die Schuld", sagt Hakme.

Gesundheitssystem trieb Impfung voran – trotz Präsident Bolsonaro

Allerdings hätte er früh, wenn schon nicht das social distancing, dann doch wenigstens den Gebrauch von Masken unterstützen können, findet Antonio Bandeira von der Brasilianischen Gesellschaft für Immunologie (SBI, Sociedade Brasileira de Imunologia). "Wir haben früh erkannt, dass der Gebrauch von Masken entscheidend wird", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Als diese endlich flächendeckend verfügbar waren, hätten sie entscheidend dazu beigetragen, das Infektionsgeschehen zu verringern.

Anfangs spielte Bolsonaro aber vor allem die Schwere der Infektion herunter. Allerdings spiegelte sich nach Ansicht Hakmes darin nicht in den Taten seiner Regierung wider. So habe Bolsonaro bereits im Juli 2020 einen Vertrag mit AstraZeneca zur Herstellung des Impfstoffs in der Stiftung Osvaldo Cruz (Fiocruz) unterschrieben. "Die Tatsache, dass er seine eigenen Impfungen nicht preisgibt, bedeutet nicht, dass er gegen Impfungen ist", sagt Hakme.

Für Antonio Bandeira hätte die Regierung Bolsonaro dem Druck gar nicht standhalten können. Viele Organisationen und Institutionen aus dem Gesundheitssystem, die Gouverneure der Bundesstaaten und Bürgermeister hätten viel Druck gemacht, nachdem die Impfstoffe auf den Markt gekommen waren. Daran hätte auch Bolsonaro nichts ändern können. Sein Gesundheitsminister Eduardo Pazuello bekam dies zu spüren und trat zurück. Der jetzt amtierende Minister Marcelo Queiroga ist der vierte Gesundheitsminister der Amtszeit Bolsonaros und der dritte während der Pandemie. Von März bis Juni 2020 zu Beginn der ersten großen Welle. gab es sogar Monate lang überhaupt keinen Minister.

Hilfsprogramme der Regierung federte viel ab

Doch Bolsonaro wollte die Wirtschaft nicht einbrechen lassen. Er initiierte zwei Wirtschaftsprogramme, um eine noch größere Katastrophe abzuwenden: die Soforthilfe von 600 Reais pro Kopf und Monat für nachweislich bedürftige Brasilianer und das Emergency Employment Benefit Program (EMB) – eine Art Kurzarbeitergeld. "Die Bevölkerung ist nicht so unwissend und weiß, wie man den rechtsextremen Diskurs, der zur Militanz motivieren soll, von erfolgreichen öffentlichen Maßnahmen zur Abschwächung der Auswirkungen der Pandemie trennen kann", glaubt Pedro Hakme.

Auch wenn es in Brasilien, wie auch in Deutschland und Europa, eine gewisse Zahl von Impfgegnern gibt, die ihre Desinformation über die sozialen Netzwerke aufnehmen und verbreiten, zugleich militant und aggressiv sind. Als Mitarbeiter der Nationalen Gesundheitsüberwachungsbehörde ANVISA kürzlich die Impfung für Fünf- bis Elfjährige empfahlen, hagelte es Beschimpfungen und Morddohungen.

Brasilianer stehen Impfung traditionell positiv gegenüber

Trotzdem: Brasilien hat eine lange Impfkultur. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einem Impfaufstand. Osvaldo Cruz war damals Gesundheitsminister und ordnete die Pflichtimpfung gegen Pocken an. Die Bevölkerung lehnte sich zunächst dagegen auf. Doch die Geschichte gab ihm recht und zeigte den nachfolgenden Generationen, dass der Impfstoff funktionierte und die Pocken letztlich ausrottete. Vielleicht der Grundstein des Vertrauens der Brasilianer in ihr Gesundheitssystem. Vor wenigen Tagen kündigte der Gesundheitsminister an, in Kürze Auffrischungsimpfungen für alle ab 18 Jahren bereitstellen zu wollen.

"Ich bin nicht mit allem einverstanden, was getan wurde, vor allem nicht in der Krankenhausversorgung. Unser Impferfolg findet nicht in der öffentlichen Krankenhausversorgung statt", so der Allgemeinmediziner Hakme. Seit Jahrzehnten kämpfen Krankenhäuser mit korruptem, ineffizientem Management und knappen Ressourcen. Die derzeitige Regierung sei auch nicht in der Lage gewesen, dies zu ändern. "Zweifellos, die Bundesregierung hätte ein System von freien Krankenhausstellen und medizinischer Versorgung organisieren können. Die Bundesstaaten und Gemeinden haben aber die von Bolsonaro bereitgestellten Mittel nicht genutzt, und vielerorts wurden damit nur Korruptionssysteme gespeist, die bereits seit vielen Jahren bestehen", so Hakme.

Derzeit hat Brasilien einen starken Rückgang der Zahl der Fälle, der Krankenhausaufenthalte und der Todesfälle zu verzeichnen. In mehreren Bundesstaaten gibt es seit einigen Tagen keine Todesfälle mehr. Eine vierte Welle kann trotzdem niemand ausschließen. "Mit Sicherheit wird es neue Wellen von COVID-Fällen geben, aber keine neuen Wellen von Krankenhausaufenthalten und Todesfällen. Die Impfung verhindert die Infektion nicht, aber sie verhindert mit großer Wirksamkeit das Auftreten von schweren Komplikationen", sagt Hakme.

Für Adelino Gomes ist alles noch einmal gutgegangen. Der 70-Jährige wurde von einigen Familienmitgliedern abgeholt. Wie eine Zeitung berichtet, soll er 29 Kinder haben. Darunter auch ein Zwillingspaar, das am 1. Dezember den 15. Geburtstag feiert.

Verwendete Quellen:

Schwere Vorwürfe gegen Corona-Politik: Bolsonaro weist Vorwürfe zurück

Jair Bolsonaro hat die schweren Vorwürfe gegen seine Corona-Politik zurückgewiesen. Ein Untersuchungsausschuss hatte dem brasilianischen Präsidenten am Mittwoch unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen und dessen Anklage gefordert.
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