Ein zugelassener Impfstoff gegen das Coronavirus wird voraussichtlich nicht vor Frühjahr 2021 verfügbar sein. Immer wieder ist deshalb von einer kontrollierten Infektion bestimmter Bevölkerungsteile die Rede. Sie soll zur sogenannten Herdenimmunität führen. Experten wie Christian Drosten warnen davor. Das Risiko sei zu groß.

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Der Berliner Virologe Christian Drosten und andere Kollegen stellen sich gegen eine Corona-Strategie der natürlichen Durchseuchung mit einer Herdenimmunität als Ziel. "Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass erneut die Stimmen erstarken, die als Strategie der Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung großer Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen", heißt es in einer Stellungnahme der Gesellschaft für Virologie (GfV) mit Sitz in Heidelberg, an der auch Drosten beteiligt war. Er thematisierte dies auch in einem Eintrag auf Twitter:

Was ist Herdenimmunität?

  • Herdenimmunität bedeutet, dass ein großer Teil der Bevölkerung nach einer Infektion oder Impfung immun geworden ist, und sich das Virus dadurch nicht mehr so gut ausbreiten kann.

Die Virologen beziehen sich in ihrem Text auf die sogenannte Great-Barrington-Erklärung, die drei Forscher aus den USA und Großbritannien verfasst haben. Laut einer eigenen Webseite haben bereits viele Hunderttausend Menschen die Erklärung unterzeichnet.

In dem Text heißt es unter anderem: "Der einfühlsamste Ansatz, bei dem Risiko und Nutzen des Erreichens einer Herdenimmunität gegeneinander abgewogen werden, besteht darin, denjenigen, die ein minimales Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen, damit sie durch natürliche Infektion eine Immunität gegen das Virus aufbauen können, während diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, besser geschützt werden." Die Verfasser befürchten, dass die harten Maßnahmen "irreparablen Schaden verursachen, wobei die Unterprivilegierten unverhältnismäßig stark betroffen sind".

Virologen warnen: Unkontrollierte Durchseuchung führt zu vielen Todesopfern

Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen, schreibt hingegen die Gesellschaft für Virologie in Heidelberg. Denn selbst bei strenger Isolierung älterer Menschen gebe es noch weitere Risikogruppen, die viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt seien, um aktiv abgeschirmt werden zu können.

Ein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf ergebe sich, so heißt es weiter, beispielsweise bei:

  • Übergewicht
  • Diabetes
  • Krebserkrankungen
  • Niereninsuffizienz
  • chronischen Lungenerkrankungen
  • Lebererkrankungen
  • Schlaganfall
  • nach Transplantationen
  • während einer Schwangerschaft.

Laut GfV weiß man noch nicht zuverlässig, wie lange eine durch eine Infektion erworbene Immunität anhält. Das Anstreben der Herdenimmunität ohne Impfung sei unethisch sowie medizinisch, gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant.

Auch die WHO sieht die Herdenimmunität kritisch

Vor etwa einer Woche hatte bereits die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davor gewarnt, bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie auf eine Herdenimmunität durch massenweise Ansteckungen zu setzen. "Niemals in der Geschichte des Gesundheitswesens wurde Herdenimmunität als eine Strategie gegen einen Ausbruch eingesetzt, geschweige denn gegen eine Pandemie", sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Die Gesellschaft für Virologie spricht mit Blick auf die steigenden Infektionszahlen in Deutschland vom "Beginn einer exponentiellen Ausbreitung". Weiter heißt es: "Aufgrund der explosiven Infektionsdynamik, die wir in allen Hotspots quer durch Europa feststellen, steht zu befürchten, dass ab einer bestimmten Schwelle auch in bisher unkritischen Regionen die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verloren geht."

Durch Mangel an Intensivkräften droht Kollaps des Gesundheitssystems

Bei Überschreiten dieses Schwellenwerts sei die Nachverfolgung einzelner Ausbrüche und strikte Isolationsmaßnahmen nicht mehr zu gewährleisten. Eine unkontrollierte Ausbreitung in alle Bevölkerungsteile sei dann nicht mehr zu verhindern. "Es steht zu erwarten, dass dies zu einer raschen Überlastung der Gesundheitssysteme führen würde, was zum Beispiel in Deutschland allein schon wegen des Mangels an Intensivpflegekräften bereits bei weit unter 20.000 Neuinfektionen pro Tag der Fall sein könnte." (dpa/hau)

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