Die Zahl der Corona-Infizierten und -Toten steigt in Italien weiter dramatisch an. Ärzte und ihre Helfer arbeiten am Anschlag, die Alarmrufe überforderter Kliniken häufen sich - wie die öffentlichen Warnungen von Fachleuten.
Im Zuge der Corona-Pandemie geht in Italien die Angst um vor einem Kollaps des Gesundheitssystems. Ein Interview in der auflagenstärksten italienischen Tageszeitung "Corriere della Sera" mit einem Narkosearzt aus der besonders betroffenen Region Lombardei sorgt nun auch international für Aufsehen.
Denn in dem am Montag veröffentlichten Artikel wählt Anästhesist Christian Salaroli aus Bergamo drastische Worte: "Wenn jemand zwischen 80 und 95 Jahre alt ist und große Atemprobleme hat, führen wir in der Regel die Behandlung nicht fort", erläuterte der Arzt bei der "Corriere della Sera".
Dasselbe gelte für mit dem Virus infizierte Menschen, die Probleme bei drei oder mehr lebenswichtigen Organen aufweisen. "Diese Personen haben statistisch gesehen keine Chancen, das kritische Stadium der Infektion zu überleben. Diese Personen werden bereits als tot angesehen", sagte Salaroli.
Arzt: "Das ist die Realität"
Der 48-Jährige betont: "Das ist auch ein schrecklicher Satz. Aber leider ist es wahr. Wir sind nicht in der Lage, sogenannte Wunder zu vollbringen. Das ist die Realität."
Salaroli erklärt: "Es wird nach Alter und Gesundheit entschieden. Wie in allen Kriegssituationen." Bei dem Vorgehen würden sich die Ärzte nach den Vorgaben medizinischer Fachliteratur richten. Derzeit würde man nur Frauen und Männer mit einer durch COVID-19 verursachten Atemnot dabehalten. "Die anderen, ab nach Hause", bemerkte Salaroli.
Ermessensspielraum wegen Coronavirus ausgeweitet
Zwar werde auch in normalen Zeiten von Fall zu Fall entschieden, beispielsweise wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich ein Patient von einer Operation erhole. Allerdings werde Salaroli zufolge dieser Ermessensspielraum während der aktuellen Corona-Krise "in großem Umfang" angewendet.
Roberto Fumagalli, Direktor der Anästhesie- und Wiederbelebungsabteilung in einem Mailänder Krankenhaus, widerspricht den Darstellungen allerdings vehement. "Es ist nicht wahr, dass wir Patienten sterben lassen", sagte Fumagalli laut Radio Lombardia. Ebenso falsch sei, dass die Ärzte nach Alter auswählen würden, wer behandelt wird.
Im italienischen Fernsehen sprechen Fachleute mit aller Vorsicht über das Thema: Flavia Petrini vom Ärzteverband Siaarti versucht bei Interviews, Ruhe auszustrahlen. Es gebe Hinweise von internationalen Fachgremien zur "Priorisierung" von Patienten. Diese werde teils als "Triage" bezeichnet. Dabei gehe es auch um die schnelle Trennung von Infizierten und anderen Kranken, erläutert sie. Die Ärzte – so betonen auch andere Fachleute – achten auch in der Krise auf die ethischen Standards.
Arzt im Interview: "Wir bewirken gerade Wunder"
Dennoch häufen sich wegen des rasanten Anstiegs der Zahl der COVID-19-Kranken in Italien die Alarmrufe überforderter Kliniken, ebenso äußern sich Politiker, Fachleute und Ärzte mit ernsten Warnungen. "Wir bewirken gerade Wunder, aber wir können nicht mehr lange so weitermachen", zitierte "Corriere della Sera" am Mittwoch Antonio Pesenti, Koordinator für Intensivstationen im Krisenstab der Lombardei. Man habe die Zahl der Betten in den Intensivstationen schon erhöht. Aber es bestehe die Gefahr, dass die Zahl der Patienten in Kürze die Kapazitäten der Krankenhäuser übersteige.
Die Folge: Andere Patienten, ob mit Herzinfarkt oder nach einem Unfall, könnten zu kurz kommen, sagte Pesenti. Bei der Suche nach Ärzten komme man ebenfalls an Grenzen. Zugleich gehen die Infektionszahlen weiter stark hoch: "Es ist fast unmöglich, länger als zwei Wochen mit diesen Rhythmen Schritt zu halten", warnt er.
Brandbrief eines aufgebrachten Arztes
Bereits seit Samstag sorgt im Internet und in anderen Medien ein Brandbrief eines aufgebrachten Arztes, ebenfalls aus Bergamo, für Aufmerksamkeit. Daniele Macchini warnt, dass der Notstand in den Hospitälern weiter unterschätzt werde. Er sprach von "Krieg" und "Schlachten", die die Helfer in seinem Haus erlebten. Sein Schreiben auf Facebook wurde bisher mehrere Zehntausend Mal geteilt.
Auch der Präsident der Region Abruzzen, Marco Marsilio, wandte sich am Mittwoch mit drastischen Worten an die Öffentlichkeit: Die Krankenzahlen in seiner Region östlich von Rom, die bisher noch nicht im Fokus stand, stiegen in diesen Tagen schnell.
"Wir sind bei der Aufnahmefähigkeit der Hospitäler schon an der Grenze angelangt, einige Stationen mussten geschlossen oder verkleinert werden, weil sich Ärzte und Sanitäter angesteckt haben, sie waren wie stets an vorderster Front", schrieb er auf Facebook.
"Wir sind nicht im Krieg hier in der Lombardei"
Maria Rita Gismondo, Virologin und Abteilungsleiterin im Mailänder Sacco Krankenhaus, mahnt hingegen zur Vorsicht: "Wir sind nicht im Krieg hier in der Lombardei", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur am Telefon. Die Lage sei ernst, sie werde sich auch nicht in kurzer Zeit entschärfen. Sie erwarte eine Besserung eher in Monaten, nicht in Wochen. "Aber es gibt auch positive Signale", erläuterte sie. So seien die Neuansteckungen im ersten Virus-Herd Codogno inzwischen gestoppt – und zwar mithilfe von strikten Sperrungen und Ausgehverboten.
Infolge der Coronavirus-Welle sind in Italien 827 Menschen gestorben (Stand: 12. März 2020, 12 Uhr). Am schlimmsten betroffen ist der Norden, und hier die Lombardei. Die Gesamtzahl der gemeldeten Infizierten mit dem Erreger SARS-CoV-2 hat in Italien bereits deutlich die 10.000er-Marke übersprungen. Die Regierung in Rom hat ein Milliarden-Hilfspaket beschlossen, das auch zur Stärkung des Gesundheitswesens eingesetzt werden soll. (dpa/mf)
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