Der inhaftierte Sexualstraftäter und Mörder Frank Van den Bleeken will sich seit Jahren therapieren lassen. Doch zu der Behandlung kommt es nie. Er leidet unter der Haft. Nun hat er sich das Recht auf Sterbehilfe erstritten. Erwin Kress ist Experte für Autonomie am Lebensende und stellt im Interview vor allem dem belgischen Verwahrungssystem ein schlechtes Zeugnis aus.

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Herr Kress, das Brüsseler Berufungsgericht hat dem Häftling Frank Van den Bleeken das Recht auf eine Tötung auf Verlangen zugestanden. Inwieweit ist das moralisch vertretbar?

Erwin Kress: Moralisch halte ich den Ausweg, der dem belgischen Staat hier in seiner Fürsorgepflicht für den Häftling eröffnet wird, für nicht vertretbar. Der Häftling will eindeutig leben – aber nicht in seinen aktuellen Umständen. Der belgische Staat verweigert ihm in seinem Justizvollzugssystem offenbar mögliche Hilfen.

Van den Bleeken wurde für unzurechnungsfähig erklärt. Zugleich bescheinigen ihm nun drei Psychiater, dass sein Sterbebegehren berechtigt ist. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Unzurechnungsfähigkeit bedeutet für mich, dass nicht von einem freiwilligen, wohlerwogenen und dauerhaften Sterbewunsch ausgegangen werden kann. Ich sehe hier keine Grundlage für eine Hilfe beim Sterben, sondern vielmehr die Notwendigkeit einer entsprechenden Lebensfürsorge.

Entzieht sich der Häftling durch sein selbst gewähltes Ableben seiner gerechten Strafe?

Der Mann sitzt seit mehr als 20 Jahren hinter Gittern. Meiner Meinung nach hat er seine Strafe erhalten. Nun wird er neuerlich bestraft, indem er in Sicherungsverwahrung bleiben muss, weil ihm eine möglicherweise erfolgreiche Therapie nicht angeboten wird. Es kommt häufiger vor, dass Gefangene Suizid begehen. Ich habe den Eindruck, dass es hier um zu kurz gekommene Rache geht.

Gelten für Häftlinge andere Bemessungsgrundlagen als für andere Bürger?

Grundsätzlich sollten für Häftlinge bei der Frage nach einem selbstbestimmten Lebensende keine anderen Rechte gelten als für die Bürger außerhalb der Gefängnismauern. Das Recht, sein Leben auf der Basis eines freien, nicht krankhaft eingeschränkten Willens zu beenden, steht jedem Menschen zu. Aber er muss bei seiner Entscheidung berücksichtigen, inwieweit er anderen dadurch unbilligerweise schadet. Der Mensch ist schließlich ein soziales, in die Gemeinschaft eingebundenes Wesen.

Nehmen sich weitere Häftlinge an dem aktuellen Fall ein Beispiel?

Der Fall Van den Bleeken war offenbar ein Auslöser für andere Häftlinge, bereits länger gehegte Wünsche offenzulegen. Vielleicht wollen sie damit auch nur auf ihre Zustände hinweisen. Nun muss jeder Fall für sich geklärt werden - unter den oben genannten Prämissen. Das hat nichts mit einem Dammbruch zu tun. Es wird künftig keine Welle von Tötungen auf Verlangen im belgischen Justizvollzugssystem geben. Man muss bedenken, wie sehr der Mensch normalerweise am Leben hängt - auch in Haft.

Die öffentliche Meinung in Belgien sieht van den Bleeken als Opfer. Zu Recht?

Ja, Van den Bleeken scheint ein Opfer unzulänglicher staatlicher Fürsorge im Justizvollzug zu sein.

Sehen Sie Situationen, in denen ein Mensch sein Recht auf Sterbehilfe verwirkt?

Ich meine nicht, dass ein Mensch überhaupt ein Recht auf Sterbehilfe hat. Ich kann von niemandem verlangen, dass er mich tötet. Freilich kann es moralisch begründet sein, anderen Menschen bei einer Selbsttötung zu helfen. Dabei sollte keine Rolle spielen, ob sich der Mensch in seinem früheren Leben selbst unmoralisch verhalten hat.

Erwin Kress ist Vizepräsident des Humanistischen Verbands Deutschland (HVD). Er ist Sprecher des HVD zum Thema Autonomie am Lebensende und beschäftigt sich seit mehr als 10 Jahren mit der Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung am Lebensende.
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