Sie können nicht einmal lesen und schreiben und sind plötzlich die verehrte Gottheit eines ganzen Landes. In Nepal werden kleine, zum Teil erst drei Jahre alte Mädchen als Inkarnation der Göttin Durga angebetet. Das Leben der sogenannten Kumaris verändert sich dramatisch, die Familien sind innerlich zerrissen. Das Verhalten der Mädchengöttinnen ist für ganz Nepal von großer Bedeutung.
Fest umklammert die kleine Trishna Shakya ihren Vater, während sich dieser den Weg durch die Menschenmassen bahnt. Ihr verwirrter, traurig wirkender Blick lässt erahnen, welche Emotionen die damals Dreijährige in diesen Momenten durchlebt.
Es sind Szenen, die sich im Herbst 2017 in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu abspielen. Trishna wird in Begleitung ihrer Familie zu einem Tempel-Palast, dem Kumari Bahal am Durbar-Platz gebracht.
In diesem wird sie bleiben. Nicht für ein paar Wochen. Nicht für ein paar Monate. Ihre gesamte Kindheit wird sie in diesem verbringen. Weit weg von ihrem Vater, weit weg von ihrer Mutter, weit weg von ihrem Zwillingsbruder. Nur hin und wieder darf die Familie sie besuchen.
Doch bis sie in die Pubertät kommt, bleibt sie im Tempel. Lediglich 13 Mal im Jahr darf sie diesen Ort verlassen, ausschließlich an wichtigen religiösen Festen.
Eine Inkarnation der Göttin Durga
Die mittlerweile vier Jahre alte Trishna wurde im September vergangenen Jahres zur Kumari von Kathmandu ernannt. Eine Kumari gilt in Nepal als Inkarnation der Göttin Durga. Kumaris müssen aus der buddhistischen Shakya-Kaste kommen, sie werden von Buddhisten und Hindus gleichermaßen verehrt.
Nach insgesamt 32 Kriterien wählen fünf Priester eine neue Kumari aus. Sie muss unter anderem die Wangen wie die eines Löwen, einen Hals wie den einer Muschel und einen Körper in der Form eines Saptacchata-Blattes haben.
Die Wahl der Mädchengöttin findet bevorzugt vor dem Dashain-Fest im Herbst statt. In der Nacht vom achten auf den neunten Tag des Festes muss die Auserkorene ihre Eignung als Gottheit unter Beweis stellen, indem sie unter anderem den mit abgeschnittenen Büffelköpfen gefüllten Palasthof des Tempels passiert - ohne dabei Angst zu zeigen.
Eine Kumari stammt stets aus der Newar-Ethnie und das Horoskop musste bis zum Ende der Monarchie in Nepal im Jahr 2008 mit dem des Königs im Einklang sein. Eine weitere wichtige Voraussetzung: Das Mädchen darf in ihrem Leben noch nie Blut verloren haben, da sonst der Geist der Göttin Durga sie verlassen würde. Aus diesem Grund endet die Kumari-Zeit kurz vor dem Einsetzen der ersten Menstruation.
Mädchen vergessen ihre Familien
Für die Familien ist es eine große Ehre, wenn eines ihrer Kinder auserwählt wird. "Sie ist nicht mehr nur unsere Tochter, sondern auch die lebende Gottheit des ganzen Landes", sagte Trishnas Vater Bijaya Ratna Shakya nach der Ernennung seiner Tochter zur Kumari stolz, ließ dabei aber auch seine innere Zerrissenheit durchblicken. "Ich bin glücklich, aber mir ist auch zum Weinen."
Statt ein ganz normales Kind zu sein, ist Trishna nun eine Göttin und wird auch von ihrer Familie als diese verehrt - eine Familie, die eine Kumari schon bald nicht mehr als diese wahrnimmt.
Denn Eltern und Angehörige werden gebeten, in den ersten vier Wochen nicht zu Besuch zu kommen. "Und es war immer so, dass die Kumaris dann mit ihren Eltern nicht mehr gesprochen haben", berichtet der Publizist Gerhard Haase-Hindenberg, der die Lebensgeschichte der Ex-Kumari Amita in seinem Buch "Göttin auf Zeit" niederschrieb und diese bis heute regelmäßig besucht, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Sie haben sich völlig verwandelt, in ihrer neuen Umgebung haben sie ihre Eltern vollkommen vergessen. Obwohl diese ihre Töchter weiterhin besuchen und ihnen auch gesagt wird, dass dies ihre Eltern sind, ist keine besondere Empathie mehr da."
Auch im Fall von Amita wurde dieses Phänomen erkennbar. "Amita wusste später nicht mehr, wer ihr Vater ist. Man denkt, ein dreijähriges Kind hätte ihre Eltern schon bewusst als diese wahrgenommen - doch ein paar Wochen später hat sie ihre Eltern vergessen."
Dennoch hätten es diese trotz großen Schmerzes nie bereut, ihr Kind so lange Zeit abgegeben zu haben. "Sie sind zutiefst gläubige Hindus, die fest davon überzeugt sind, dass ihre Tochter die Reinkarnation der Göttin Durga ist. Daher war es für sie eine sehr große Ehre, dass ihre Tochter auserwählt wurde", sagt Haase-Hindenberg.
Amita lehrte Ex-Kumari Matina
Lange Zeit wussten Kumaris nicht, dass ihre Zeit als Göttin begrenzt ist. Umso schlimmer war für sie die Rückkehr ins normale Leben. Auch Amita, zwischen 1991 und 2001 Kumari von Kathmandu, war nicht bewusst, dass sie eines Tages statt einer Göttin ein ganz normaler Teenager sein werde.
Als junge Frau unterrichtete sie später die Ex-Kumari Matina, die Vorgängerin Trishnas, in ihrem Palast. Sie verriet ihr, dass auch sie einst eine Kumari war - und so konnte sich zumindest Matina darauf einstellen, dass sie den Göttinnenstatus eines Tages verlieren werde.
Nun ist die kleine Trishna die auserkorene Mädchengöttin. Im Tempel erhält sie Unterricht, wie sie Gläubige richtig segnet. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Kumari, von denen es in Nepal mehrere gibt, doch keine so hoch angesehen wird wie die im Tempel-Palast am Durbar-Platz lebende Kumari.
Wenn sie, in ihrem goldenen Löwenthron sitzend, die Segen verteilt, darf sie nicht lächeln. Jede mimische Regung hat dem Glauben nach einen - meist bedrohlichen - Einfluss auf die, die sie anbeten und mit ihren Gebrechen und Problemen um Hilfe bitten.
Verhalten der Kumari von großer Bedeutung
Bis zum Ende der Monarchie ließ sich selbst der König von ihr segnen. Wie sich die Kumari dabei verhielt - ob sie lachte, weinte oder sonst eine ungewöhnliche Regung vollzog - war dem Glauben nach ein Omen für die Zukunft des Landes. Nun sind es nicht mehr Könige, sondern Premierminister, darunter auch Kommunisten, die die Kumaris anbeten.
Zu Gesicht bekommen die meisten Menschen eine Kumari vor allem an den großen religiösen Festen Nepals. Da die Mädchengöttin den Boden nicht berühren darf, läuft sie auf weißen Tüchern und wird auf einer goldenen Sänfte durch die Massen transportiert.
Gekleidet ist sie in einem rot-goldenen Gewand aus Brokat, sie trägt Schmuck an Ohren, Hals und Armen, das aufgemalte dritte Auge der Weisheit ziert ihre Stirn, die Haare sind pagodenförmig geflochten.
Schulbildung gibt es erst seit wenigen Jahren
Eine Schulbildung genossen Kumaris lange Zeit nicht, da sie als allwissend gelten. Das Oberste Gericht in Nepal hatte erst 2008 verfügt, dass Kumaris mithilfe von Privatlehrern unterrichtet und auch Prüfungen unterzogen werden sollen. Die Lebensperspektiven der Kumaris haben sich dadurch massiv verändert.
Chanira, von 2001 bis 2010 Kumari der nepalesischen Stadt Lalitpur, studiert dank des Privatunterrichts nun Wirtschaftswissenschaften. Eine ganz normale junge Frau ist sie dennoch nicht. "Auch an der Uni werde ich nicht normal behandelt. Da ist viel Respekt, auch bei den Lehrern. Sie behandeln mich anders als die anderen Studenten. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich finde das nicht so gut. Ich will doch einfach nur eine normale Studentin sein", zitiert sie der Deutschlandfunk im vergangenen Jahr.
Sie beschreibt auch, wie schwer ihr der Übergang ins normale Leben fiel. "Für mich war es sogar ein Schock, mein Alltag bestand ja bisher nur daraus, angebetet zu werden", erzählt sie.
"Das Erste, was ich lernen musste, war selbstständig zu gehen. Ich brauchte jemanden, der meine Hand hält und mir das beibringt. Ich musste lernen, mit Menschen zu sprechen, mich in Gruppen zu verhalten, alles eigentlich. Jeden Tag." Dennoch bereue sie nicht, Kumari gewesen zu sein, sagt sie.
Haase-Hindenberg: "Keinesfalls eine schlimme Kindheit"
Auch Haase-Hindenberg betont, dass es "wahrlich schlimmere Kindheiten" in Nepal gebe, als in einem Göttinnenpalast verehrt zu werden. "Es gibt Kinder, die harte Arbeiten verrichten, Teppiche knüpfen müssen oder gar nach Indien verkauft werden."
Auch wenn die Kumari-Tradition Haase-Hindenberg zufolge "schon immer ein Instrument der Unterdrückung" gewesen sei, "wie es bei fundamentalistischen Religionen immer der Fall ist", sieht er das Positive: "Es ist zwar keine besonders kindgerechte, aber keinesfalls eine schlimme Kindheit. Ich kenne keine Kumari, die sagt, dass sie gelitten habe."
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